Heftroman der

Woche

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Diane Teil 2 – Kapitel 5

Alexander von Ungern-Sternberg
Diane
Ein Kriminalgemälde der modernen Gesellschaft
Berlin, 1842, Buchhandlung des Berliner Lesekabinetts
Zweiter Teil

Fünftes Kapitel

Ein Gericht Seefische und Bedenklichkeiten eines Advokaten

Dem Minister, der lediglich in Familienangelegenheiten, wie das vorige Kapitel gezeigt hat, gekommen war, gelang es nicht völlig, die ministerielle Glorie, die sein Haupt umleuchtete, zu verhüllen. Die Blicke des Präsidenten hatten kaum einen leisen Schimmer wahrgenommen, als sogleich die Einladung zum Diner erfolgte. Der Minister, erzürnt über diese Späherkraft eines Subalternen, blätterte in seinem Portefeuille und fand eine kleine Note, die allenfalls sich amtlich zustutzen ließ und einen Grund seines Kommens herleihen musste. Die Politik dient heutzutage allem und jedem zum Deckmantel. Der Minister, Dank sei es der kleinen zugestutzten Note, schritt mit der größten Wichtigkeit in das Speisezimmer des Präsidenten und verzehrte ein Gericht Seefische, die ihm der berühmte Jagor unter den Linden in Berlin nicht so frisch und so schmackhaft hätte vorsetzen können. Von den Fischen lenkte der Staatsmann seinen Blick auf seinen ehemaligen Jugendfreund, den in Ungnade gefallenen Geheimrat Basilius, der mit den Fischen die Eigenschaft des Stummseins teilte, ohne dabei so angenehme Eindrücke auf die Organe des Ministers zu machen, wie diese. Der wirkliche Geheimrat, in dem wir den dicken Herrn, den Begleiter des jungen Grafen von heute Morgen wiedererkennen, war nun wirklich geheim in vollem Sinne des Wortes, denn seine Freunde hatten ihn verlassen. Selbst diejenigen, welche sich rühmten, ein sehr starkes Gedächtnis zu haben, hatten ihn ganz und gar vergessen. Seit einiger Zeit jedoch nahm sein Geschick eine etwas günstigere Wendung. So sehen wir ihn an der Tafel der Auserwählten gegenüber einem hoch gestellten Mann, der früher seine Jugendtorheiten teilte, aber dann mehr Geschicklichkeit bewies, ihre Folgen unschädlich zu machen.

Nach dem Mahl näherten sich bei einer Tasse Kaffee die Jugendfreunde. Ein Geflüster, nicht über die rote Seidendraperie der Fensternische hervortönend, fand statt.

»Du weißt?«

»Ich weiß.«

»Dummkopf, will sein Vermögen hingeben.«

»Ich glaube es.«

»Verhindere ihn daran!«

»Es wird nicht möglich sein.«

»Es wird möglich sein.«

»Ja, ja, es wird möglich sein.«

»Kennst du Frau von Lablas?«

»Ja.«

»Führe mich zu ihr.«

»Es wird nicht möglich sein.«

»Es wird möglich sein.«

»Ja, ja, es wird möglich sein.«

Dieses war das Gespräch, auf das der Präsident, auf den Fußspitzen stehend, lauschte, und von dem er nur die Phrase es wird möglich sein eroberte.

»Was wird möglich sein?«, fragte sich der Politiker. »Was anderes, als der neue Ministerwechsel, die Absetzung des allvermögenden Chefs!«

Ein Professor in der Nähe, ebenfalls auf den Fußspitzen stehend, eroberte seinerseits das Wort Ministerwechsel. Er gab es weiter an drei auf den Fußspitzen stehenden Literaten, und zwei Tage darauf wurde eine politische Broschüre publiziert, die aus guter Quelle geschöpften Nachrichten zufolge eine gänzliche Reform in dem Ministerium prophezeite. Auch der wirkliche Geheimrat wurde eine Person, auf die politische Reflexe fielen, in Wahrheit wurde er jedoch der Führer des Ministers zu der Frau von Lablas. Unterwegs zog der hohe Vorgesetzte Erkundigungen über die Dame ein, allein der Jugendfreund wollte oder konnte ihm nichts sagen.

Erschöpft von der Aufregung und den geistigen Genüssen der Nacht lag Frau von Lablas im Dämmerlicht ihres eleganten Boudoirs auf dem Sofa und hörte mit geschlossenen Augen das dreimal wiederholte, leise Klopfen, das an der Tür ertönte, ehe sie ihr kaum hörbares Entrez! rief. Aber wie voll Erstaunen erhob sich die Dame, als sie statt des Grafen, den sie erwartete, eine Gestalt und ein Gesicht in dem Dämmerlicht sich bemerkbar machen sah, das ihr fremd und doch auch zugleich bekannt war, und welches sie in diesem Augenblick zu sehen sich nichts weniger als vorbereitet fühlte. Auch der Eintretende schien mit einer nicht minder großen Überraschung zu kämpfen. Er blieb einige Schritte zurück, murmelte unverständliche Worte vor sich hin und schien ungewiss, ob er warten solle. Allein bald war dieser kurze, peinvolle Moment überstanden. Die sich Wiedersehenden waren beide zu geübte Spieler auf der Bühne der großen Welt, als dass ihnen nicht tausend Mittel zu Gebote gestanden hätten, ihre Gefühle zu bemeistern und zu verbergen. Mit dem graziösen Lächeln der freudigsten Überraschung flog der Minister auf die Dame zu. Diese bot ihm die Hand mit dem Ausdruck sanfter, aber inniger Freundschaft.

»Meine teure Eulalie!«, rief der Mann, der verurteilt schien, seine alten Erinnerungen hier aufzufrischen, indem er sich auf die Polster des Sofas niederließ, »so finde ich Sie hier! Ist das recht gehandelt, schöne Freundin? Nachdem Sie ihren Bewunderern aus Berlin entschlüpft sind, niemand erraten konnte, wohin Sie sich gewendet haben, erlebte auch ich die bittere Erfahrung, dass Sie mit mir selbst keine Ausnahme gemacht und mich ebenfalls im Dunkeln über ihr Schicksal gelassen haben. Allein, dem Himmel sei Dank! Ihre tückischen Pläne sind Ihnen nicht gelungen. Man verbirgt sich nicht vor seinen Freunden, wenn diese ernstlich suchen, und so habe ich gesucht und gefunden.«

»Also Sie kamen nach Königsberg, Philipp …«

»Nur, um Sie zu sehen, Eulalie! Können Sie hieran noch zweifeln? Undankbare, das also ist der Lohn für so viel Jahre treuen Dienstes?«

»Sie wissen also auch, Philipp, dass ich unterdessen, wo wir uns nicht sahen, eine unselige Heirat geschlossen habe, dass dieses verhasste Band jedoch glücklicherweise wieder gelöst ist?«

Alles weiß ich, Dame meines Herzens. Wahrhaftig!, dachte er bei sich selbst, wenn ich von diesen neuen törichten Streichen nur ein Wort gewusst, will ich der Ehre verlustig sein.

Er beugte sich über die Hand der Dame und küsste sie zärtlich. »Ach, Eulalie!«, seufzte er, »war es wohl nötig, fromm zu werden? Was hätten Sie abzubüßen, schöne Seele?«

»Woran mahnen Sie mich, Philipp?«, flüsterte Frau von Lablas. Ein Erröten verschönte ihre sonst sehr strengen und ernsten Züge. »Die Jahre der Torheit sind dahin. Jetzt kenne ich nur ein Heil.«

»Denken Sie, schöne Frau jenes Tages«, fuhr der Minister mit einem boshaften Lächeln fort, »als Sie über Hals und Kopf flüchteten, um den Nachstellungen des Prinzen …«

»Nichts mehr davon!«, rief Frau von Lablas.

»Das Gut unseres Freundes, des Grafen Hohenstein, nahm die Flüchtige auf. Die Gräfin Hohenstein, die arme, verlor, wie man sagt, in einem Anfall von Eifersucht den Verstand. Die Welt sagte, dass sie nicht viel verloren habe, und der Mann desto mehr gewonnen hätte.«

»Philipp!«

Ein leises Klopfen ließ sich hören. Eulalie erschrak, der Minister beobachtete sie lauernd. Das Pochen wiederholte sich. Beide Jugendfreunde sahen sich einander an. Ohne ein Wort zu sprechen, verstanden sie einander. Vielleicht erinnerte man sich ähnlicher Situationen aus den Jahren der Torheit. Der Minister stand auf und trat hinter die Draperien eines Alkovens. Noch einmal ertönte das leise Entrez! und dieses Mal fand kein qui pro quo statt. Das bleiche, magere, eingefallene Gesicht des Neffen, mit einem düsteren Lächeln auf den schmalen Lippen, wurde sichtbar, und die schlanke, gebeugte und gebrochene Gestalt nahm den Platz ein, den eben die kräftige, gesunde, markige Fülle des Oheims verlassen hatte. Vielleicht stellte unbewusst die Fromme einen Vergleich an zwischen ihrem Verehrer von heute und dem vor dreißig Jahren, und der Vorteil mochte auf die Seite des Letzteren fallen. So wohl konserviert sind noch die Männer aus den alten, frivolen Zeiten und so zerrüttet sind sie aus unseren großartigen, ernsten und tugendhaften Tagen. Diese Wahrnehmung enthält tatsächlich viel Rätselhaftes in sich. Eulalie hatte wieder die ernste, strenge, kalte Miene angenommen.

Bonifaz kam, um seiner erhabenen Freundin sein Herz auszuschütten. Er erzählte den Prozessfall. Ohne die dunkle Anklage zu wiederholen, die er heute Morgen dem Bruder seiner Mutter nicht geglaubt hatte, verschweigen zu dürfen, tat er nur seinen Entschluss kund, das Erbe auszuliefern. »Und wollen Sie es mir glauben, teure Eulalie«, setzte er hinzu, »mein Onkel widersetzt sich meinem gerechten Entschluss. O, Sie kennen diesen Mann nicht, er ist der grausamste Egoist, der selbstsüchtigste und kälteste Weltmann, den ich kenne.«

Der Vorhang bewegte sich, Eulalie hustete leise. Sie freute sich, den bestrafen zu sehen, der es gewagt hatte, ein längst vergessenes Erröten auf ihre Wange neu heraufzubeschwören.

»Sein Herz war nie der Liebe fähig. Er liebt nur das Gold, er betet nur Größe und Macht an.«

Eulalie hustete nochmals.

»In seinem steinernen Busen hat nie ein anderer Altar gestanden, als der, auf dem er dem Götzen seiner Eigenliebe opfert. O, wie sind sie erbärmlich, diese Männer der guten alten Zeit!«

Eulalie hustete zum dritten Mal.

»Aber Sie, reiner Engel!«, fuhr der Neffe fort, »Sie wissen von dieser kalten schlimmen Welt nichts. Unschuldig, wie die Blume des Himmels, wuchsen Sie empor und kehrten ihr Antlitz dem Licht zu. Sie wissen von dieser bösen Welt nichts.«

Ein leises Husten ließ sich jetzt hinter dem Vorhang hören.

»Erröten Sie nicht über dieses Lob, das ich Ihnen hiermit zu erteilen wage«, fuhr der junge Mann enthusiastisch fort. »Ich weiß, dass Sie nicht anders sein konnten. Irdische Leidenschaften hatten im Raum dieses Herzens keinen Platz. Der Mann soll gefunden werden, dem es gelänge, Ihnen jene verwerfliche Liebe einzuflößen, die uns den Himmel vergessen macht.«

Von Neuem ertönte das Husten. Es war ein boshafter kleiner, räuspernder Ton, der, so kurz und flüchtig er war, eine lange Biographie in sich schloss und die Gespenster vergangener Jahre heraufbeschwor. Unfähig dieser Tortur länger standzuhalten, denn sie wusste, wie unerbittlich ihr alter Verehrer war, schützte Frau von Lablas heftiges Kopfweh vor und Bonifaz entfernte sich. Als der Neffe fort war, trat der Oheim wieder hinter dem Vorhang hervor und fand seine Jugendfreundin in Tränen. Sie entzog ihm mit großer Erbitterung die Hand, die er gefasst hatte, und bat auch ihn, sie zu verlassen.

»Beruhigen Sie sich, meine teure Eulalie«, sagte der Minister, indem er sich wieder auf das Sofa warf, »mir hat der einfältige Junge ebenso den Text gelesen wie Ihnen. Das Geheimnis bleibt unenthüllt. Der Freund, der mich hierher geleitet hatte, wird schweigen, doch nur unter einer Bedingung schweige auch ich.«

»Und welche ist es?«, fragte Frau von Lablas, indem sie noch rot vor Zorn und Beschämung aufblickte.

»Dass Sie meinen Neffen bewegen, sich meiner Autorität zu fügen. Ich muss gewisse Papiere von ihm in Händen haben, und diese verschaffen Sie mir noch morgen. Welche große Macht Sie über den Schwächling ausüben, habe ich gesehen. Also zweifle ich nicht, dass Ihnen ein Leichtes sein wird, was mir unmöglich fällt. Der unerfahrene Knabe wirft mir Habgier und Egoismus vor. Sie sehen, teure Eulalie, mit wie wenig Recht. Gewinne ich etwa dabei, wenn ich ihm sein Vermögen rette? Keinen Heller. Allein ich muss Ihnen gestehen, ich liebe nicht, arme Verwandte zu haben. Dem Himmel sei Dank, bis jetzt war ich frei von dieser Plage, allein wird er arm, so sehe ich im Voraus, dass er mir zur Last fällt.«

»Ich werde tun, was Sie wünschen, Philipp«, erwiderte die Dame.

 

»Und sie wird tun, was ich wünsche«, sprach der Minister zu sich selbst, als er das Haus seiner so unvermutet wiedergefundenen Freundin verließ. »Ich weiß es, ich übe eine Gewalt über diese Weiber aus. Dem Himmel ist bekannt, ich bin doch weder schön noch jung noch liebenswürdig. Das ist allerdings ein Rätsel.«

Diese Betrachtung wurde ohne Eitelkeit und ohne Stolz gemacht. Der Minister war nichts weniger als ein Weiberheld. Seine Bestrebungen waren immer ganz anderen Zwecken gewidmet. In den Jahren, in welche seine Erziehung fiel, war eine gewisse Galanterie Mode. Diese hatte er auch ausgeübt, nicht mehr und nicht weniger, als es gerade für einen Mann von Weltbildung erforderlich war. Aber er hatte das Glück oder das Unglück, dass alle seine Geliebten ihm treu blieben, und dass er oft sehr viel schöneren und jüngeren Verehrer vorgezogen wurde. Diese Frauengunst brauchte er, wie er alles brauchte, um seine Zwecke zu verfolgen, und kümmerte sich weiter nicht darum, was an diesen Gefühlen, die man ihm gezeigt hatte, als wahr oder unwahr sich erwies. In dieser Sorglosigkeit verharrte er. Vielleicht war diese der Grund, dass ihm immer von Neuem eine Gunst zugewendet wurde, nach der er, wie er deutlich zeigte, so wenig Gelüste trug.

Am Morgen des zweiten Tages stand der Reisewagen vor der Tür. Der Minister beschäftigte sich eben mit zufriedenem Lächeln, einen beschriebenen Bogen zu falten und in ein Kuvert zu schieben, als die Tür sich öffnete und ein kleiner Mann mit einem behänden und zutraulichen Wesen hereintrat. Es war eine kurze, breitschultrige, sich zur Korpulenz neigende Figur, mit einem großen, hässlichen Kopf, dessen platte Stirn ein spärliches rötlich blondes Haar kränzte und mit Zügen, die eine gewisse ewig lächelnde Frechheit noch widriger machte, als sie es ohnedies durch die Gemeinheit ihrer Formen waren. Der kurze gerundete Leib bewegte sich auf zwei dünnen aber sehr gelenken Beinen. Der Anzug dieses Herrn hatte etwas von Eleganz an sich. Das Jabot war fein und sauber, die Hände mit Ringen besteckt. Ein Batisttaschentuch zeigte eine Stickerei, ebenso das Halstuch, das in einen zierlichen Knoten geschürzt war. Trotz dieser Zierlichkeit bemerkte ein etwas geübtes Auge doch, dass der Mann einer von denen war, die im Staub eines gehässigen Treibens aufwachsen und an deren Seele kein Fleckchen rein und unberührt geblieben ist, wenn auch das Äußere keine Makel zeigt.

»Ach, mein verehrter Herr Lobmeyer!«, rief der Minister und tat mit der größten Herablassung einige Schritte seinem Gast entgegen. »Nach unserer gestrigen langen Unterredung konnte ich noch kaum auf das Vergnügen hoffen, Sie heute Morgen noch wiederzusehen. Ich war darum eben beschäftigt, Ihnen das bewusste Papier zuzustellen.«

»Welches selbst in Empfang zu nehmen, doch mehr geeigneter sein dürfte«, erwiderte der Ankömmling. Er ergriff den Bogen. Ihn entfaltend, ließ er ein anhaltendes und beifälliges Murmeln hören.

»Sie werden finden, dass das ein hübsches Papierchen ist«, sagte der Minister. »Nehmen Sie Platz. Wir können ihn nunmehr ganz aus dem Spiel lassen. Es freut mich jetzt, dass Sie ihn nicht gesprochen haben. Wozu hätte das geführt. Er ist ein Mensch, mit dem ein Rechtsgelehrter, und besäße er selbst Ihre enorme Geschicklichkeit, Ihr außerordentliches Talent, nicht fertig werden würde.«

Der Advokat verbeugte sich und schob lächelnd das Papier in die Tasche. Seine Miene nahm nun gleich darauf den Ausdruck eines gemessenen Ernstes an, indem er sagte: »Aber Eure Exzellenz mögen beachten, dass ich mich der Führung dieser Streitsache noch keineswegs unterziehe.«

»Ganz recht, Sie haben sich Bedenkzeit ausgebeten.«

»Ich sehe so viele Schwierigkeiten, zum Ziel zu gelangen«, setzte der Advokat seine Rede fort, »mein Gegner hat so viele schlagende Beweise in Händen, dass …«

»Ihr Gegner ist ein Anfänger und Sie ein Mann von geprüfter Erfahrung«, rief der Minister triumphierend.

»Es sind mir gestern, als ich Sie verließ, wiederum Skrupel gekommen. Eure Exzellenz sagen, dass die Wärterin, in deren Armen das Kind starb, bereit ist, ihre Aussage vor Gericht zu erhärten. Wo lebt diese Person?«

»Sie ist die Frau des Verwalters einer meiner Güter und wird zu ihrer Disposition stehen.«

»Das wird höchst nötig sein«, erwiderte der Advokat, »denn außer dem Totenschein, dessen Echtheit sehr bezweifelt wird, haben wir nichts und die entgegenstehenden Zeugnisse sind leider von einem großen moralischen Gewicht, wenn es zum Prozess käme. Bedenken Eure Exzellenz, die am Sterbebett der alten Komtesse aufgenommene Aussage, dass jenes Kind von ihr gerettet und in Sicherheit gebracht sei, die ferneren Zeugnisse des Apothekers, des Bankiers.

»Was das erstere Dokument betrifft, Herr Doktor«, rief der Minister hochfahrend, »so sprachen wir schon ausführlicher darüber. Meine gute Schwester war nicht beliebt in der Familie, besonders hatte sie sich durch Umstände, die nicht hierher gehören, die alte unverheiratete Schwester ihres Schwiegervaters zur Feindin gemacht. Frauen sind bekanntlich unversöhnlich, wenn gewisse Streitgrade walten. Leicht ist es also, die Malice zu finden, nach denen jene verleumderische Aussage stattfand.«

»Aber am Sterbebett, Exzellenz, an einem Ort und in einer Stunde, wo der Mensch gewöhnlich nicht lügt.«

»Das glauben Sie? Sie amüsieren mich, mein Freund. Nennen Sie mir eine Stunde, wo der Mensch sich nicht aufgelegt fände, zu lügen, wenn es darauf ankommt, seinem Feind nachdrücklich und entschieden zu schaden. Nennen Sie mir eine solche Stunde oder eine solcher Art. Diese Weiber hassten sich, sie hatten vielleicht gegenseitig auf eine Gelegenheit gewartet, einander das Messer in die Brust zu stoßen. Nun kam diese und sie wurde begierig ergriffen.«

»Ich bewundere Euer Exzellenz Menschenkenntnis«, sagte der Advokat mit einem widrigen Grinsen, »aber vor Gericht gelten doch nur positive Gründe.«

»Die Gräfin war unfähig, eine solche Tat zu begehen!«, rief der Minister mit strengem Ton.

»O, was das betrifft«, entgegnete der Mann des Rechts, »so kann niemand mehr hierin überzeugt sein, als ich. Allein persönliche Überzeugungen sind, wie Exzellenz bekannt sein wird …«

»Den Apotheker und den Bankier bringen wir durch Gold auf die Seite.«

»Es ist ein Glück«, fuhr der Advokat fort, »dass bis jetzt der Diener der alten Komtesse, der das Kind gerettet hat, noch nicht gefunden worden war, trotz allen Aufforderungen, die man in die Zeitung gesetzt hatte.«

»Und wird er gefunden, so wird auch da Gold …«

»Bei dieser Klasse von Menschen nicht. Er war Herrnhuter und wurde später Freimaurer. In beiden achtbaren Verbindungen hat er gelernt, zu schweigen, zudem die Dankbarkeit für seine alte Gebieterin. Nein, nein! Der Mann, wenn er sich fände, könnte sehr gefährlich werden.«

»Aber er wird sich nicht finden. Es herrschte damals die Cholera, wie wahrscheinlich ist es, dass er an ihr gestorben ist«, rief der Minister lebhaft, wie durch die Neuheit dieses Gedankens selbst überrascht.

»Wahrscheinlich wohl, allein ebenso wahrscheinlich, dass er noch lebt«, erwiderte der Advokat ruhig. »Wenn die Cholera so gefällig gewesen wäre, alle Leute wegzuraffen, die uns im Wege stehen, so würde auch ich ihr ein Loblied zu singen haben. Ich hätte ihr ein Dutzend armer Verwandten anbieten können.«

Der Minister erfreut, einen Gedanken, der wie aus seiner eignen Seele geschöpft war, von fremden Lippen tönen zu hören, drückte dem Herrn Lobmeyer die Hand und sagte mit der gewinnendsten Freundlichkeit: »Künftig, mein teurer Herr und Freund, werden Sie auf einem artigen Landgut, dessen Besitz Sie ihrer siegreichen Feder verdanken, alle hypochondrischen Träume vergessen. Ich bitte mich bei Ihnen zu Gast, und wir wollen bei einem Glas guten Weines über die kleinen Dispute, die wir jetzt miteinander haben, lachen. Die Welt ist ein Tummelplatz von Torheiten, wir wollen uns die, welche unsere Nächsten uns bieten, zu Nutze machen, ohne selbst welche zu begehen.«

»Ich bin nicht jung genug, um in diese joviale Ansicht einzustimmen«, erwiderte Herr Lobmeyer, indem er mit einem verschämten Lächeln zu Boden sah. »Allein ich werde mein Möglichstes tun. Vor allen Dingen müssen wir rasch zu Werke gehen, um unseren Gegnern den Vorteil aus der Hand zu reißen.«

»So wie die Sachen jetzt stehen«, bemerkte der Minister, »ist allerdings Eile nötig. Ich hatte gehofft, der alte General, der stolzeste und eigensinnigste Sonderling, den ich kenne, würde zögern, das aufgefundene Kleinod als ihm angehörend zu erkennen. Allein diesem betrügerischen Kind ist alles günstig. Es musste jetzt gerade der einzige Sohn sterben und der Alte sich ohne Erben sehen.«

»Er hatte aber noch Ihren Neffen?«, warf der Advokat ein.

»Den er nie hat leiden mögen«, entgegnete der Minister. »Er warf von frühester Zeit einen Hass auf den Knaben, den meine arme Schwester leider auch teilen musste. O, sähe man in die Unseligkeit, in den jammervollen Unfrieden der Familien, die der Pöbel beneidet, man würde billiger über ihre Schwächen urteilen und nicht immer über diese unglückliche Aristokratie herfallen. Wahrlich, wir haben genug zu tun, den Unfrieden und die Schande von unseren eigenen Mitgliedern fern zu halten, um viel Zeit zu haben, eine einflussreiche und die anderen Stände begrenzende Stellung im Staat zu erobern. Wir, deren einziges und erstes Erbteil die Ehre ist, haben alle Hände voll zu tun, die Unehre abzuhalten, um sie großmütig unseren Feinden zu überlassen.«

»Wo befindet sich jetzt die junge Gräfin?«, fragte der Advokat, ohne den boshaften Schluss der Rede seines hohen Gönners zu beachten.

»Nennen Sie sie doch nicht Gräfin«, rief dieser erzürnt. »Das hieße ja unser ganzes Gespräch unnütz machen. Das arme Geschöpf, dass das Werkzeug elender Intriganten ist, befindet sich jetzt auf dem Schloss ihres soi dissant Großvaters.«

»Von wem könnte jedoch diese Intrige ausgehen?«, fragte der Advokat.

»Von wem?«, erwiderte der Minister erstaunt. »Sie scheinen heute den Neuling spielen zu wollen, Herr Lobmeyer. Von wem anders, als von denen, die offenbar Nutzen hieraus ziehen? Die Verwandten des Generals haben hochprangende Titel, aber sind verschuldet. Das Mädchen muss heiraten, und natürlich heiratet diese Kreatur nach dem Willen ihres Schöpfers, während, wenn das Vermögen meinem Neffen verbliebe, man fürchten müsste, es aus der Familie verschwinden zu sehen.«

»Nun wohlan«, sagte der Advokat rasch, indem er seinen Hut ergriff, »ich bin ganz zu Ihren Diensten, Herr Minister. Allein Sie vergessen nicht, dass ich mir Bedenkzeit ausbedungen habe. Sobald wie möglich sollen Sie von mir hören. Mein Eifer, den ich in dieser Angelegenheit beweisen werde, wird Ihnen hoffentlich meine Ergebenheit kundtun.«

»Davon bin ich überzeugt, mein Bester. Nehmen Sie im Voraus meinen wärmsten Dank. Wir sehen uns doch bald in Berlin?«

»Spätestens in einer Woche, wenn meine Geschäfte es erlauben.«

»Nun, leben Sie wohl.«

Als Herr Lobmeyer sich entfernt hatte, erschien Stephan. Er nahm die Schatulle und die Briefmappe seines Herrn, um diese zwei wichtigen Gegenstände an ihren bestimmten Platz im Wagen zu bringen.

»Nun«, fragte der Minister, indem er aus einem silbernen Etui einige Pillen auf die Hand schüttete und in der Linken ein Glas Wasser haltend, sich anschickte, sie mit gehöriger Ruhe zu verschlucken. »Hast du deinen sauberen Freund noch gesprochen?«

»Gnädiger Herr, er liegt besinnungslos. Aus lauter Freude, dass sein Herr hierbleibt, und dass das alte Leben ungestört seinen Gang fortgeht, hat er mehr als ein Glas über den Durst geleert.«

Der Minister hatte mit einer heftigen Grimasse eine Pille verschluckt und starrte nun seinen Diener an. »Stephan, die Pillen sind von einer beispiellosen Bitterkeit. Hast du nicht in der Zerstreutheit und im Drang der Abreise, die Dosen verwechselt, und mir die gegeben, welche die Indigestionspillen enthält?«

»Gnädiger Herr, dieses entehrende Misstrauen!«, entgegnete Stephan, »ich und Zerstreutheit, in einer so wichtigen Angelegenheit! Aber das muss wahr sein, die herrlichsten Weine sind im Keller dieser Herren und die besten Leckerbissen auf ihren Tafeln. Und der Herr Geheimrat, sagt man, ist Kellner und Küchenmeister.«

Der Minister hatte die zweite Pille geschluckt und sagte stöhnend: »Den Bordeaux habe ich ihm besorgt. Es ist kein Zweifel, dass er vortrefflich ist. Mein Himmel, wenn er kein Geld mehr hat, so wird er meine Weine trinken. Stephan, Du musst mich erinnern, dass ich den Doktor Wellenkind wegen dieser Pillen spreche.«

»Auch ein Spielchen sollen sie manches Mal machen!«

»Ein Spielchen! Seht doch die Frommen!«, rief der Minister und verschluckte mit einer ungeheuren Grimasse die dritte und letzte Pille. Dann nahm er den Hund auf den Arm, folgte der Schatulle und der Briefmappe und stieg in den Wagen, freundlich und gnadenreich die zahlreiche Menge grüßend, die die Gasthoftreppe umstand.