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Der Detektiv – Der Fakir von Nagpur – 1. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Der Fakir von Nagpur
1. Kapitel

Erstklassiger Detektiv gesucht

Wir saßen auf der Gartenterrasse des Fremdenheims der Frau von Tezra in Haidarabad an einem langen Tisch. Die ganzen Gäste waren um uns versammelt. Man feierte Harsts Abschied. Ich spielte dabei ebenfalls eine bescheidene Rolle. Auch auf mich fiel etwas vom Ruhmesglanz, der meinen Freund und Brotherrn umstrahlte.

Allgemein war man überzeugt, dass Harst den Feldzug gegen Cecil Warbatty weiterführen würde. Er leugnete dies auch keineswegs. Nur erklärte er jedem, der es hören wollte, dass er zunächst nach Madras reisen und dort untersuchen würde, wie Warbatty aus der Zelle des Polizeigefängnisses hätte entweichen können. Es war dies eine für jeden schärfer denkenden Menschen ziemlich durchsichtige Verschleierung unserer wahren Absichten. Denn was sollte es wohl für uns für einen Nutzen haben, wenn Harst sich die aufgebrochenen Schlösser der Türen dort wirklich ansah?

Aber man vermutete eben hinter diesen Angaben Harsts etwas ganz Besonderes. Eine deutsche Dame fragte zum Beispiel, ob Harst imstande sei, vielleicht aus der Art der gewaltsamen Eingriffe in die Türschlösser zu entnehmen, welchen Beruf Warbatty vor Beginn seiner Verbrecherlaufbahn ausgeübt hätte.

Die Frage war unsinnig, rief jedoch einen lebhaften Meinungsaustausch darüber hervor, ob Warbatty den gebildeten Kreisen oder den einfacheren Volksschichten entstamme. Jeder hatte ja bereits über dieses Verbrechergenie in den Zeitungen gelesen. Warbatty war eben jetzt zur Tagesberühmtheit geworden, etwa ähnlich wie seiner Zeit Jack der Bauchaufschlitzer, der monatelang die Riesenstadt London in Angst und Schrecken versetzt hatte.

Wer Warbatty war, wie er in Wahrheit hieß, wusste bisher niemand, selbst Harst nicht. Gewiss – des Verbrecherkönigs Bruder hatte in Kolombo auf Ceylon unter dem Namen Sagton für kurze Monate gelebt und auch Papiere auf diesen Namen besessen. Es hatte sich dann aber herausgestellt, dass er diese Papiere nur gestohlen und er kein Recht gehabt hatte, sich Sagton zu nennen. Warbattys Persönlichkeit umhüllte also noch genau dasselbe Dunkel wie damals, als unser Kampf gegen ihn in Berlin begann.

Mir war es ganz interessant, dass Harst nun aus Anlass dieses Meinungsstreites seiner Ansicht über Warbattys Vorbildung, Herkunft und so weiter dahin Ausdruck gab, dass er erklärte, er halte diesen Menschen für einen Zugehörigen der besten Gesellschaftskreise, der lediglich aus krankhafter Lust am Verbrechen der Menschheit den Krieg angesagt habe und diesen Krieg nun mit allen Mitteln hochentwickelter Intelligenz und einer alles umfassenden Allgemeinbildung völlig erhaben über jede Rücksicht auf Menschenleben führe.

»Gerade diese brutale Mordgier Warbattys hat etwas so Dämonisches an sich, dass ich fast geneigt bin, anzunehmen, er müsse Arzt sein, eben einer jener Ärzte, die durch ihren Beruf das Leben für nichts zu achten gelernt haben«, fügte er hinzu und belegte dann diese seine Ansicht mit fein durchdachten Beweisen, deren Geistesblitze den meisten Anwesenden jedoch unverständlich geblieben sein dürften.

Ich erwähne diese unsere Abschiedsfeier in Haidarabad und diesen Gesprächsstoff aus Gründen, die der Leser nachher schon durchschauen wird.

Um Mitternacht hatte das kleine Fest ein Ende. Wir verabschiedeten uns, tauschten mit diesen Zufallsbekanntschaften zahllose Händedrücke und zogen uns auf unser Zimmer zurück. Es war dies ein Raum der Privatwohnung der Frau von Tezra im Erdgeschoss, wie erinnerlich sein dürfte.

Harst drehte das Licht an, schloss das Fenster, zog die Vorhänge zu und meinte nun, indem er sich aufseufzend in einen Sessel fallen ließ: »War das ein Stumpfsinn! Nein, all diese Menschen waren mir nie so entsetzlich langweilig mit ihrem Sensationshunger, denn ihre Teilnahme für mich ist doch schließlich nichts anderes, als gerade an diesem Abend, wo ich wirklich an genug anderes zu denken hatte.«

Er griff in die Tasche, reichte mir die heutige Morgenausgabe der in Haidarabad erscheinenden englischen Zeitung.

»Du wirst darin etwas finden, das uns angeht«, sagte er.

Plötzlich gewahrte ich an ihm alle Zeichen einer gesteigerten geistigen Anspannung.

»Suche jedoch im Annoncenteil, nicht etwa unter Allerneuestes.«

Er zündete sich eine Zigarette an. Ich lehnte neben ihm am Tisch und überflog die Reihen der Anzeigen.

Ich fand nichts. Nur ein einziges Inserat schien mir beachtenswert. Besondere Wichtigkeit konnte ich jedoch auch ihm nicht beimessen.

Ich ließ die Zeitung sinken, zuckte die Achseln, sagte: »Du wirst schon so liebenswürdig sein müssen, mir die Anzeige näher zu …«

»Aber, du hast ja soeben so eindringlich diese Annonce angestarrt!«, fiel er mir ins Wort. »Es ist die dort rechts oben letzte Seite …«

»Ah – also hatte ich doch richtig vermutet!«

Dieses Gesuch lautete:

Erstklassiger Privatdetektiv, Ehrenmann mit nur besten Empfehlungen erhält außerordentlich lohnenden Auftrag. Eingehende Zuschriften unter Masty Mastra postlagernd Nagpur.

Nagpur! Der Name hatte mich gleich stutzig gemacht. Und dann der erstklassige Privatdetektiv!

Denn Nagpur war ja unser wahres Reiseziel. Dort mussten wir Warbatty wiederfinden, weil wir die Beweise besaßen, dass er dort einen seiner berüchtigten großzügigen Pläne vorbereitet hatte.

»Nun, lieber Alter, was hältst du von dieser Anzeige?«, fragte Harst jetzt gespannt.

»Hm, sie wird von Warbatty oder einem seiner Helfershelfer eingerückt worden sein. Es wird sich um so etwas wie eine Falle handeln.«

Harst schüttelte den Kopf. »Glaube ich nicht. Dieselbe Anzeige steht seit drei Wochen in dieser Zeitung und zwar jeden dritten Tag. Und vor drei Wochen waren wir unterwegs nach Bombay. Nein, hier hat Warbatty seine Hand nicht mit im Spiel.«

In demselben Augenblick klopfte es.

Es war der Portier des Fremdenheims, ein älterer Hindu, der recht gut deutsch sprach.

»Herr Harst, soeben ist für Sie eine Kiste abgegeben worden, eine sehr große Kiste«, meldete er. »Sie ist sehr schwer. Zwei Lastträger brachten sie auf einem Wagen. Sie steht in der Vorhalle. Die Leute sagten, es seien alte Tonfiguren darin, die Sie gekauft hätten.«

Harst eilte schon hinaus.

Im umfangreichen Gebäude schlief alles längst. Der Portier hatte nur noch den Nachtzug von Madras abgewartet, mit dem zuweilen Fremde eintrafen.

Ich folgte Harst. Wir besichtigten die Kiste sehr sorgfältig, beide wohl erfüllt von demselben Misstrauen, der Holzkasten könnte eine Höllenmaschine oder dergleichen enthalten.

Der Kistendeckel und der eine Seitenteil waren nur durch Haken befestigt. Schon dies genügte uns mit äußerster Vorsicht beim Öffnen zu Werke zu gehen.

Harst schickte den Portier und mich mehr in den Hintergrund der Halle, als wir sämtliche Haken geöffnet hatten.

»Ich möchte nicht, dass euch etwas zustößt, falls es sich hier um irgendeine Heimtücke handelt«, sagte er.

Wir mussten gehorchen. Widerspruch duldete er nie.

Wir sahen, dass er den Deckel und das Seitenteil abhob und beiseitestellte. Die große Ampel der Vorhalle beleuchtete das Innere des Kastens ganz deutlich.

Darin befand sich irgendein Gegenstand, der mit einem Stück Leinwand zugedeckt war.

Ich kam näher. Harst nahm die Umhüllung weg.

Ein Blick – und wir beide prallten zurück. Hinter uns stieß der braune Portier einen Schreckensruf aus.

Was wir sahen? Wenn ich dies hier beschreibe, so kann es auch nicht im Entferntesten die Wirkung haben wie das Bild, das sich uns darbot.

Der Kasten hatte gerade Raum für einen sitzenden Menschen. Und auf einem Zwischenbrett saß auch ein Mensch, oder besser, Teile eines Menschen!

Jetzt, wo ich dies niederschreibe, denke ich unwillkürlich an die grausigen, phantastischen Erzählungen Edgar Allan Poes.

Also ein Mensch saß in dem Kasten, saß darin mit herabhängenden gefesselten Armen. Ebenso waren Beine, Kopf und Oberarme an die Rückwand des Kastens festgebunden.

Der Ärmste trug nur Leinenhosen. Sonst war er nackt.

Und nun das Furchtbare, geradezu Schauer des Entsetzens Hervorrufende:

Der Mann war ein Weißer, war jener Ernst Müller, den wir in den Indra-Ruinen festgenommen, dann aber wieder freigelassen hatten. Diesem Menschen, der uns feierlich Besserung gelobt hatte, waren die Rippen an beiden Seiten der Brust so herausgeschnitten worden, dass man die oberen inneren Organe völlig frei liegen sah wie ein anatomisches Präparat.

Aber das Grausigste: Diese Organe arbeiteten. Das Herz schlug, die Lungen dehnten sich, zogen sich zusammen.

Der Mann lebte noch. Und Leben lag in seinen weit aufgerissenen Augen. Ein Ausdruck war in diesem Blick, der uns musterte, dass es hätte einen Stein erbarmen können, ein Ausdruck wahnsinnigster Todesangst und gleichzeitig stummen Flehens um Hilfe.

Harst fasste sich schneller als ich, trat hinzu, zog Müller den Knebel aus dem Mund.

Doch im selben Moment ging mit dem dem Tode Verfallenen urplötzlich eine jähe Veränderung vor sich. Ein Lächeln glitt über das leichenblasse Gesicht. Die Augen lächelten mit. Und geradezu bleiern-­schwerfällig formte die bereits halb gelähmte Zunge die Worte: »Warbatty lässt Sie grüßen, Harald Harst. Und er verspricht Ihnen, dass er Sie zu einem ähnlichen chirurgischen Experiment einst benutzen wird.«

Der Mund klappte fast hörbar zu. Die Augenlider schlossen sich. Das Gesicht bekam etwas Leichenähnliches. Und zugleich wurde die Herztätigkeit schwächer und schwächer, bis das schauerliche Bild der arbeitenden Brustorgane in die Todesstarre überging.

»Vorüber, ausgelitten!«, sagte Harst leise. »Ausgelitten, als ob eine Maschine zu arbeiten aufhört. Denn dieser Unglückliche war nichts anderes mehr wie eine willenlose Maschine. Warbatty hat ihm den Befehl in der Hypnose erteilt, diese Worte zu mir zu sprechen. Nur die ungeheure Macht einer durch Hypnose vermittelten Willenskonzentration hat das Leben in dieser entblößten Brust noch für einige Zeit festgehalten. Warbatty ist Arzt! Einen besseren Beweis hierfür konnten wir kaum erhalten. Und welch geschickter Operateur muss er sein. Was für Experimente muss er bereits mit Menschen angestellt haben, um etwas Derartiges zustande bringen zu können!«

Harst deckte das Tuch über die Leiche, legte den Deckel und das Seitenteil auf den Kasten und klammerte beide fest. Dann winkte er dem Portier und mir. Wir fassten mit an, trugen die Kiste hinaus in den Garten und in einen leeren Verschlag des Stalles.