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Der Detektiv – Der Mord im Sonnenschein – 4. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 7
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Der Mord im Sonnenschein

4. Kapitel

Der Oberkellner und wir

Mein Liebling! Erst heute kann ich dir schreiben. Ich war krank. Die Aufregungen hatten mir ein leichtes Fieber eingebracht. Heute früh las ich dann die Zeitung. Und da sah ich, dass ich schreiben darf, dass man dich nicht belästigt. Die Pressburger haben ihre Schuldigkeit getan. Es war also doch ein guter Gedanke von mir. Mir geht es wieder jetzt ganz gut. Nur die Angst will nicht weichen, dass du mir nicht völlig verziehen hast und dass du dich von mir lossagen könntest!

Liebling, tu mir das nicht an! Du warst meine Retterin! Bleibe es! Ich werde nie, nie wieder mich deiner unwürdig zeigen. Die Zeiten, wo man mich als »verlorenen Sohn« betrachtete, sind vorüber. Entziehe mir nicht deine Liebe, deine stützende Hand, diese Hand, die mich und den anderen noch im letzten Augenblick vom Rand des Abgrundes wegriss. Dann folgten Bemerkungen über Doberan und die Wohnung des Briefschreibers bei einem alten Ehepaar. Der Schluss lautete: Leb wohl! Wann es ein Wiedersehen zwischen uns geben wird, hängt von so vielem ab. Behalte mich lieb, mich, der dir nochmals schwört: Mag der Schein auch noch so sehr gegen uns sprechen – es ist die volle Wahrheit, die ich dir damals beim letzten, kurzen und so schmerzlichen Beisammensein sagte.

Ewig Dein V.

Nachschrift: E. ist in Norwegen.

Ich legte den Brief auf den Tisch zurück.

»Nun?«, fragte Harst. »Geben Sie mal die Erläuterungen dazu, Schraut. Das heißt, nur über die Punkte, die zweifelhaft sein können.«

Ich nahm den Brief wieder zur Hand, begann: »Der Schreiber ist der angebliche Viktor Reupert. Die Heiratsannonce sollte ihm, der nach Doberan geflüchtet ist, zeigen, dass Gertrud Hold von der Polizei nicht beobachtet, nicht belästigt wird. Hm – und der zum Schluss erwähnte E. dürfte Reupert-Vater sein.«

Harst trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. »Aber die Hauptsache, Schraut, die Hauptsache! Wo bleibt die?«

»Ehrlich, ich finde sie nicht«, sagte ich kleinlaut.

»Er findet sie nicht! Aber Mensch, Schraut, hier in dem Brief steht doch ganz klar zu lesen, dass dieser V. – also vielleicht wirklich ein Viktor – bestreitet, den Mord begangen zu haben! Hier heißt es: … noch im letzten Augenblick vom Rand des Abgrundes … und weiter. Mag der Schein auch noch so sehr. Das alles ist nur so zu deuten: Die Hold und dieser Viktor haben sich nach der Ermordung Schmiedickes noch gesprochen – flüchtig nur. Dabei hat dieser Viktor erklärt, weder er noch der ›andere‹ sei der Mörder des Mannes, den man nun bald tot auffinden würde. So, mein lieber Schraut, ist hier zwischen den Zeilen zu lesen. Und – wie hat sich nun die Hold zu dieser Behauptung gestellt? Glaubt sie dem Geliebten? Ich denke ja. Sonst hätte sie nicht die Anzeige eingerückt!«

Ich starrte Harst ganz kopflos an. Meine Gedanken suchten Klarheit in ein Chaos von Widersprüchen zu bringen. Umsonst! Das Chaos wurde nur noch größer. Schließlich meinte ich dann unsicher: »Aber … aber … wie kann die Hold denn einer so unsinnigen Behauptung wohl Glauben schenken, Herr Harst? Der ›andere‹ und Viktor können ja nur die Mörder sein! Wer sonst? Die Kriminalpolizei hat ja ermittelt, dass die Reuperts allein in ihren Zimmern zwischen elf und zwölf Uhr mittags waren. Wer also sollte …«

Harst drückte meinen Arm, sodass ich schwieg. »Schraut«, flüsterte er, und seine grauen, dunkelbewimperten Augen funkelten förmlich, »Schraut, dieser Kriminalfall schien ganz klar zu liegen, so klar, dass man eben nur noch die Mörder aufzustöbern brauchte. Schien! Dieser Brief hier hat einen Sturm von Zweifeln in mir entfacht. Sind die Reuperts wirklich die Mörder? Wenn nicht – auf wessen Konto kommt dies Verbrechen? Wie konnte Gertrud Hold ihrem Geliebten glauben, er sei unschuldig? Was mag Viktor ihr anvertraut haben bei jener letzten Aussprache? Hat er sie dabei schlau belogen? Was für ein Märchen erfand er, das so beschaffen war, sie zu überzeugen? Schraut, ich sage Ihnen: Im Vergleich zu diesem Problem ist die Szentowo-Geschichte fraglos lächerlich einfach gewesen! Doch gerade das freut mich!« Er holte eine Mirakulum hervor und rauchte ein paar schnelle Züge. »Ich muss mich beruhigen, Schraut. Ich leide an Jagdfieber. Ich muss mich entschließen, was ich tun soll. Es gibt für mich jetzt drei Wege. Erstens: Nach Doberan! Ich könnte hinfahren und Viktor ins Gebet nehmen. Zweitens: Gertrud Hold! Ich könnte sie zwingen, sich mir anzuvertrauen. Drittens: Ich kann der neuen Fährte folgen, das heißt, mich auf meine Findigkeit verlassen und erst hier weiter arbeiten und volle Klarheit schaffen.« Er sprang auf. Dreimal durchquerte er das Zimmer. Dann sagte er, indem er mir die Hand auf die Schulter legte: »Schraut, ich habe diesen Brief durch gemeinen Überfall an mich gebracht. Das war meiner nicht würdig! Ich werde weiter dem Pockennarbigen nachstellen, werde so tun, als wüsste ich nichts vom Inhalt dieses Schreibens, das ich hiermit sozusagen aus meinem Hirn auswische! Sie, Schraut, müssen es auch – verstanden? Wir wollen nicht als Handtaschenräuber Erfolge erzielen! Ich werde der Gertrud Hold das Silbertäschchen nebst Inhalt sofort wieder zustellen. Halt – das geht nicht! Sie könnte argwöhnisch werden. Lassen wir es also! Aber der Brief existiert für mich nicht mehr.«

Wir aßen dann im Wohnzimmer zu Abend. Um halb zehn brachte mein Pfleger mich zu Bett.

»Gute Nacht, Herr Schrammel«, sagte er, bevor er mich verließ. »Vielleicht komme ich in der Nacht mal nach Ihnen sehen.«

Ich verstand. Er wollte mir mitteilen, ob er mit dem Guckloch Erfolg gehabt hätte. Aber was er eigentlich beobachten wollte, wusste ich nicht recht. Gewiss , es konnte sich nur um Bremer handeln. Doch vermutete er etwa, dass dieser nachts auf dem Flur umherschleichen und irgendetwas unternehmen würde? Was denn in aller Welt?

 

*

 

An Schlaf war unter diesen Umständen für mich nicht zu denken. Ich las und rauchte vier Zigarren. Ich stand auf und öffnete die Fenster, um dem Rauch Abzug zu verschaffen. Es wurde zwei, drei Uhr morgens. Da schlief ich doch ein, schlief bis gegen zehn Uhr.

Harst rüttelte mich und sagte: »Es ist gleich zehn, Herr Schrammel. Wir haben drüben im Wohnzimmer Besuch. Raten Sie mal, wen?«

»Gertrud Hold?«, flüsterte ich.

»Nein, Herr Schrammel. Höheren Besuch!«

»Dann weiß ich nicht, wer es sein mag.«

»Nun, die Offiziellen!«

Ich fuhr empor. Da tadelte er: »Aber Sie sind doch halb gelähmt! Bitte das nie zu vergessen!«

Er half mir wieder bei der Toilette. Aber er beeilte sich. Dann öffnete er mir die Tür zum Wohnzimmer. Ich trat ein.

Im Korbsessel links saß der Oberkellner – der Wachtmeister Schilling.

Harst drückte die Tür hinter sich ins Schloss. »So, nun brauchen wir uns keinen Zwang weiter aufzuerlegen«, meinte er. »Nun können Sie beginnen, Herr Schilling.«

»Was heißt beginnen, Herr Harst? Ich bin doch nur hergekommen, um Ihnen zu sagen, dass ich Sie und Schraut erkannt habe. Ich gebe zu, erst nachdem ich gestern das Mittagsblatt gelesen hatte, in dem eine Notiz über sie beide stand.«

»Und mehr wollten Sie nicht von uns?«

»Nein, höchstens mal anfragen, ob Sie die Spur der Mörder gefunden haben.«

»Wir dürfen hier also ungestört weiter wirken?«

»Selbstredend, selbstredend. Ich habe bisher niemandem etwas davon gesagt, wer Schrammel nebst Diener in Wahrheit sind. Wie ist es denn nun mit der Spur, Herr Harst? Die beiden Halunken sind nicht zu finden.«

»Oh, ich würde erst mal den einen suchen.«

»Den einen? Welchen?«

»Nun,den Mörder. Die beiden anderen sind harmloser.«

Schilling pfiff leise durch die Zähne. »Was Teufel – drei sind es gar? Erzählen Sie doch bitte, Herr Harst.«

»Noch nicht. Morgen früh, oder besser in der kommenden Nacht. Jedenfalls kann ich Sie vorzüglich brauchen, Herr Schilling. Weshalb – wozu? Etwas will ich doch jetzt schon preisgeben. Ich habe in der verflossenen Nacht von elf Uhr ab hinter der Außentür meines Schlafzimmers an einem schräg nach rechts gebohrten Guckloch gestanden. Rechts gegenüber liegen nämlich 46 und 47. Gegen ein Uhr morgens versuchte jemand in 47 einzudringen. Es gelang ihm aber nicht. Die Dietriche, die er hatte, genügten nicht. Er verschwand wieder und gab die Sache auf – fürs Erste. Aber er wird es nochmals probieren. Und ich bin überzeugt, dann sind seine Werkzeuge besser, und dann werden wir drei den Herrn empfangen. Sie verstehen mich: Wir werden uns in aller Heimlichkeit in 47 verbergen. Und dazu brauche ich Sie eben. Wenn Sie jetzt nicht hier erschienen wären, hätte ich mich Ihnen entdeckt.«

Der Kriminalbeamte dachte angestrengt nach. Dann erklärte er plötzlich: »Ich weiß, wer der Herr ist. Er hat mir gestern 100 Mark geboten, falls ich ihm für eine halbe Stunde Zutritt zu 47 verschaffen würde. Er wollte das Zimmer zeichnen – für ein Wiener Blatt. Er ist Ingenieur und nennt sich Bremer.«

Ich gestehe ohne Weiteres ein: In diesem Moment schämte ich mich meiner geringen geistigen Regsamkeit wegen. Schilling hatte ja sehr bald gerade das herausgefunden, was mir nicht gelungen war, dass Bremer, die Sensationslust und Nr. 47 mit Harsts Guckloch zusammenhingen!

Harst hatte zu Schillings Worten zustimmend genickt. Dann sagte er: »Übrigens stelle ich eine Bedingung, Herr Wachtmeister. Ich werde Ihnen den Mörder in die Hände spielen, aber dafür müssen Sie einen anderen Menschen unbehelligt lassen, einen, auf den sich dies hier bezieht …« Er nahm eine Morgenzeitung vom Tisch und las aus dem Anzeigenteil vor: »Fünf Pressburger. Auf das jüngst hier erschienene Inserat zur Nachricht, dass wir vollen Glauben zu der Aufrichtigkeit d. V. haben. Trotzdem weiteres vorläufig nicht erwünscht.«

Ich begriff sofort. Die Anzeige galt Viktor. Und der letzte Satz besagte, dass Gertrud Hold infolge des Raubes ihrer Handtasche und des Briefes ängstlich geworden war und ihrem Geliebten nahelegte, vorläufig nicht mehr unter KW 111 zu schreiben. Harst bestätigte mir nachher, dass diese Auslegung richtig war.

Wer dieses Mal nicht begriff, war Schilling. Er fragte jedoch nicht weiter, schüttelte nur den Kopf und meinte: »Das scheint ja wieder eine höllisch verzwickte Geschichte zu sein, Herr Harst.«

»Allerdings. Sogar so verzwickt, dass auch ich noch nicht völlig klar sehe. Mir wäre es daher auch lieb, wenn Sie mich recht bald für eine Weile in 47 einschließen wollten. Dieser Gedanke ist mir soeben erst gekommen. Vielleicht finde ich dort in 47 das, was mir noch in meiner Beweiskette fehlt. Es handelt sich nur um wenige Glieder.«

»Gern, Herr Harst. Ich werde sofort nachsehen, ob die Luft rein ist. Bremer ging vorhin aus. Darf ich nicht mitkommen? Oder stört Sie meine Anwesenheit?«

»Keineswegs. Dann nehmen wir auch Schraut mit.«