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Die Weltendose

Andreas Altwein
Die Weltendose

Draußen tobte ein Sturm, wie ihn das Dorf seit Langem nicht mehr erlebt hatte. Ein Blitz nach dem anderen erhellte die Nacht und der Regen prasselte gegen die Scheiben wie ein Wasserfall. Malte Fizzenius horchte in das Dunkel hinein. Hatte er eben ein Geräusch gehört? Oder hatte ihm sein Verstand einen Streich gespielt?
Erneut blitzte es und fast gleichzeitig ertönte der Donner. Das Gewitter war genau über ihnen. Er blickte zu seiner Frau Sofia, die trotz des Unwetters ruhig schlief.
»Heilig sei der Schlaf der geistig Reinen«, murmelte er vor sich hin. Dann hörte er es wieder. Ein dumpfes Wummern und Klopfen. Vermutlich hatte sich einer der Wäscheleinen vor dem Haus gelöst, dachte er, schlug die Bettdecke zurück und entfachte mit dem Zunderzeug die Kerze neben seinem Bett.
Sofia stöhnte und drehte sich auf die Seite. »Was ist passiert?«, fragte sie, die Augen im Halbschlaf geschlossen.
Zärtlich beugte sich Malte über sein Weib und gab ihr einen sanften Kuss auf die Wange. »Es ist nichts. Vermutlich hat sich irgendetwas in dem Sturm gelöst. Ich gehe nach draußen und sehe nach«, flüsterte er ihr ins Ohr. Seine Worte beruhigten sie, denn sie drehte sich wieder auf die andere Seite und schlug die Decke über ihre Ohren.
Ächzend erhob er sich. Mit der Kerze in seiner Rechten schlich er aus dem Schlafgemach und stieg die klapprige Holztreppe hinunter.
WUMM – WUMM – WUMM
Da war es wieder. Keine Wäscheleine. Jemand schlug gegen die Tür. Zu dieser unchristlichen Zeit? Bei diesem Unwetter? Entweder es war ein Mensch in Not oder eine dieser dunklen Gestalten, die das teuflische Wetter ausnutzten, um harmlose Dorfbewohner zu überfallen.
Malte war nicht nur ein vorsichtiger, sonder auch ein überaus misstrauischer Mensch. Auf dem Weg zur Tür machte er einen Schlenker und griff nach dem Schüreisen, das am Kamin lehnte. Sollte es ein Räuber sein, so würde er ihm die Leviten lesen.
WUMM – WUMM – WUMM
»Ich komme«, rief Malte. Die Holzdielen knirschten unter seinen Füßen, als er barfuß durch den Wohnraum stapfte. Er stellte die Kerze auf den Boden neben der Tür, hielt das Schüreisen fest in seiner rechten Hand, während er mit der Linken den Riegel aufschob.
Der Schwung, mit dem die Tür aufflog, nahm ihm beinahe das Gleichgewicht. Er torkelte zwei Schritte zurück, hob instinktiv das Schüreisen hinter dem Kopf, vorbereitet, um den Schurken niederzustrecken.
»Seid Ihr von allen guten Geistern verlassen?«, fauchte ihn die Person an, die klitschnass in sein Haus eintrat, ohne sich im geringsten Sorgen über die Pfützen zu machen, die sie auf dem Holzboden hinterließ. »Es regnet in Strömen und Ihr lasst mich dort draußen warten und gegen Eure Tür hämmern, wie einen ausgesetzten Köter!«
»Ich … ich …« Malte fand keine Worte. Teils mit Hochachtung, teils mit Entsetzen blickte er in das Gesicht von Drabus Kalchemin, der fluchend in seinem Wohnzimmer stand.
Drabus war das schwarze Schaf des Dorfes. Kaum einer wusste etwas über ihn. Diejenigen, die etwas über ihn zu sagen vermochten, ließen in den meisten Fällen kein gutes Haar an ihm. Ein Magier sei er. Einer, der mit dem Teufel und den Dämonen in Verbindung stünde. Andere behaupteten, er sei ein begnadeter Heiler, der selbst Pest und Cholera vertreiben konnte. Allerdings zu einem Preis, den kaum einer zu zahlen bereit sei. Und diese Person stand nun in seinem Haus.
Malte schlug ein Kreuz und blickte ehrfurchtsvoll zu Drabus auf. »Ich bitte vielmals um Verzeihung, Herr.«
»Spart Euch Euren demütigen Ton. Ich bin nicht hier, um Euch einzuschüchtern, sondern um Eure Dienste in Anspruch zu nehmen.«
»Meine … meine Dienste?«
»Seid Ihr der Schreibgelehrte, oder seid Ihr es nicht?«
Malte war verwirrt. Sicher, er war des Schreibens mächtig, und neben dem Verkauf von Zuckerrohr verdiente er seinen Unterhalt durch das Schreiben und Überbringen von Briefen. Allerdings war er es gewohnt, dass seine Kunden ihn tagsüber aufsuchten.
»Nun?«, fragte Drabus und warf seinen Hut achtlos in die Ecke.
»Ich … Ja. Ich bin der Schreiber.«
Mit erhobenem Haupt Schritt Drabus durch das Wohnzimmer, entledigte sich seiner Schuhe und nahm ihn dem Sessel Platz, in dem sonst Sofia zu lesen pflegte.
»So dann. Werft ein paar Holzscheite in Euren Kamin, zückt die Feder und schreibt für mich einen Brief.«
»Jetzt?«, fragte Malte.
»Ja! Jetzt!«, donnerte Drabus. »Oder glaubt Ihr, ich laufe zum Spaß durch den Regen? Wichtige Dinge sind passiert. Sehr wichtige Dinge. Und die Gelehrten in Sheron erwarten meinen Bericht. Jetzt!«

Malte war eingeschüchtert. Normalerweise gab er sich sehr selbstbewusst, nicht zuletzt deshalb, weil er einer der wenigen Menschen im Dorf war, der lesen und schreiben konnte. Dem geheimnisvollen Drabus Kalchemin gegenüberzustehen war aber etwas Anderes. All die Geschichten, die man über den verschrobenen Mann erzählte, brachten Malte dazu, sich wie eine Made in einem faulen Apfel zu fühlen.
Er brauchte lange, bis das Feuer im Kamin endlich brannte.
»Endlich!«, sagte Drabus. »Und nun holt Euer Federzeug. Und bringt mir vorher einen Whiskey.« Sein Blick traf den von Malte. »Und für Euch auch einen«, fügte er hinzu.
Mit einer selbstgefälligen Geste griff er in seine Tasche, zog ein paar Goldstücke heraus und warf sie auf den Boden. Die Münzen landeten auf der Seite, rollten wahllos durch den Raum, dann krümmte sich ihre Bahn und sie kullerten auf Malte zu, um direkt vor seinen Füßen liegen zu bleiben.
Fünf Minuten später hatte Malte die vier Goldstücke in seinem geheimen Versteck verstaut, Tinte, Feder und Papier auf dem Arbeitstisch bereitgestellt und sowohl sich als auch Drabus einen siebzehn Jahre alten pherokanischen Whiskey eingeschenkt. Magier hin, Magier her – vier Goldstücke waren schließlich vier Goldstücke, der Lohn, den er normalerweise in einem halben Jahr kassierte.
»Seid Ihr bereit?«, fragte Drabus.
Malte tauchte die Feder in das Tintenfass. »Sicher, Herr. Ihr könnt beginnen.«
»Also dann«, Drabus lehnte sich genüsslich zurück und nahm einen großen Schluck Whiskey, bevor er weitersprach. »Schreibt! Geehrter Sir Drawsilo, geehrter Sir Bulow. Mit diesem Brief möchte ich Ihnen mitteilen, dass meine Experimente bezüglich der Weltenreisen von Erfolg gekrönt waren. Trotz Ihrer anfänglichen Bedenken ist es mir gelungen, einen Apparat zu entwickeln, der den Menschen befähigt, nicht nur in andere Zeiten, nein, sogar in andere Welten zu reisen. Welten, die …«
»Entschuldigt, Herr«, unterbrach Malte den Wortfluss seines Kunden. »Könnt Ihr ein wenig langsamer diktieren? Ich komme sonst nicht mit.«
Ein verächtlicher Ausdruck huschte über Drabus Gesicht. Er schluckte eine erniedrigende Bemerkung hinunter, bevor er fortfuhr. Dieses Mal langsamer und akzentuierter als vorher.
»Welten, die kein Mensch zuvor erblickt hat. Zeiten, die unvorstellbar erscheinen. All das ermöglicht ein kleiner Apparat, den ich entwickelt habe und ‘Weltendose’ nenne. Um Euch von der Wahrheit meiner Worte zu überzeugen, möchte ich Euch zu einer Präsentation einladen. Mein Haus steht Euch jederzeit offen. Bitte gebt dem Überbringer dieses Briefes Bescheid, wann Ihr gedenkt, mir einen Besuch abzustatten.«
Drabus holte Luft und nahm erneut einen Schluck Whiskey. »Habt Ihr alles notiert?«, fragte er den Schreiber.
»Ja, sicher, Herr.«
Drabus erhob sich und stellte sich in einer erwartungsvollen Pose in die Mitte des Wohnzimmers. »Meinen Hut«, bat er. Malte war sich bewusst, dass es sich dabei um keine Bitte, sondern einen Befehl handelte. Wie von der Tarantel gestochen sprang er auf, hob den Zylinder des Magiers vom Boden auf und reichte ihm diesen in einer demütigen Pose, die sonst nur Sklaven gegenüber ihrer Landesherren zeigten.
»Und … wohin soll der Brief gesendet werden, Herr?«
Drabus lächelte. »Du bist tatsächlich dümmer, als du aussiehst. Natürlich an Sir Drawsilo und Bulow in Sheron. Hättet Ihr meinen Worten aufmerksam gelauscht, dann wüsstet Ihr das.«
Der geheimnisvolle Mann wandte sich zum Gehen ab. Nachdem er die Tür geöffnet hatte, drehte er sich noch einmal zu Malte um und sagte: »Ich erwarte, dass der Brief morgen um die Mittagszeit an seinem Bestimmungsort ist. Sonst werdet Ihr mir weitaus mehr als die vier Goldstücke zurückzahlen müssen.«
Die Tür fiel mit einem lauten Krachen ins Schloss.

Malte saß fassungslos vor seinem Schreibtisch und starrte auf den Brief, den er verfasst hatte. Wie sollte er es bloß schaffen, bis zur Mittagsstunde in Sheron zu sein, um den Brief fristgerecht abzuliefern? Er müsste spätestens um vier Uhr in der Früh sein Pferd satteln und losreiten. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er noch knapp zwei Stunden Zeit hatte.
Sein Blick schweifte über den Brief. Scheinbar hatte der Magier eine Entdeckung gemacht, welche die ganze Welt revolutionieren könnte. Malte fragte sich, warum er lediglich das Handwerk des Schreibens gelernt hatte, während andere Menschen solche weltbewegenden Dinge erfanden. Aber … Vielleicht … Er verwarf den Gedanken wieder. Er würde sich nicht des Diebstahls schuldig machen und die Erfindung eines anderen stehlen, nur um sich selbst zu bereichern.
Die Stufen knarrten. Malte fluchte. Nun war Sofia doch noch wach geworden.
»Malte, was machst du hier?«, hörte er ihre Stimme, bevor er sie überhaupt sehen konnte. Er verpackte den Federkiel wieder in dem Wachspapier, schraubte das Tintenfass zu und faltete den Brief, bevor er antwortete.
»Ein Kunde, Liebling.«
»Um diese Zeit?«
»Es war wichtig.«
»Wer war es?« Sofia tauchte endlich aus dem Dunkel auf. Ihr rotblondes Haar schimmerte im Schein des Kaminfeuers, und plötzlich verspürte Malte ein scharfes Brennen in seinen Lenden. Doch es gab Wichtigeres zu tun.
»Er möchte anonym bleiben«, log er. »Schatz, es tut mir leid, ich muss jetzt sofort losreiten. Leben hängen davon ab.«
Sofia stürzte zu ihrem Gatten und schloss ihn fest in die Arme. »Bei diesem Unwetter? Du wirst dir den Tod holen!«
Der zarte Duft von Rosenblättern umwehte seine Nase. Nichts wäre ihm lieber gewesen, als den Auftrag einfach zu vergessen. Sich einfach wieder mit seinem Weib ins Bett zu legen und sich selbst, und auch ihr, ein wenig Freude und Erleichterung zu verschaffen. Aber die Anwesenheit des Magiers hatte seinen Verstand völlig verdreht. Er konnte nicht hierbleiben. Er musste handeln. Er wusste aber auch, dass er keinesfalls den Brief ausliefern würde. Viel zu sehr war er fasziniert von dem Gedanken, ein Apparat sein Eigen zu nennen, welcher den Menschen in andere Welten und Zeiten versetzen konnte. Keine zehn Minuten später stand er vor dem imposanten Anwesen von Drabus Kalchemin und überlegte, wo der Magier wohl seinen Zauberapparat aufbewahren würde.

Die Scheune von Drabus machte den Gerüchten, die um diesen Mann kreisten, alle Ehre. An jeder freien Wand befanden sich handgezimmerte Regale, die mit den merkwürdigsten Dingen übersäht waren. Glaskolben mit bunt leuchtenden Flüssigkeiten, kleine Spiralen aus Draht. Eine durchsichtige Glaskugel mit einem dünnen Metallfaden, der zwischen zwei Nägeln gespannt war. Malte erschauderte bei dem Gedanken daran, welche Geister und Dämonen Drabus mit all diesen Geräten wohl heraufbeschwören konnte. Vorsichtig, um kein Geräusch zu verursachen, schlich Malte durch die Scheune, die nur von der Kerze in seiner Hand erleuchtet wurde.
Und da lag sie. Auf einem Tisch, mitten im Raum. Sie hatte entfernt Ähnlichkeit mit einem dieser neumodischen Teleskope, die Franscesco Ismaiel erst letztes Jahr auf dem Gauklerfest vorgestellt hatte. Nur war sie nicht so lang. Mit Ehrfurcht hob Malte die zwanzig Zentimeter lange Metallröhre auf und drehte sie um die eigene Achse. Ihr Durchmesser entsprach in etwa dem einer Weinflasche. Ihr Inneres war hohl und das Metall war völlig glatt.
Sollte das die sagenhafte Erfindung von Drabus sein? Eine einfache Metallröhre, wie sie jeder Schmied mit mittelmäßiger Begabung anfertigen konnte?
»Weltendose«, murmelte er, biss sich im selben Moment aber auf die Lippe. Er durfte nicht riskieren, dass er Drabus auf seinen Einbruch aufmerksam machte. Was sollte so Besonderes an diesem Ding sein? Wir war es möglich, damit in andere Welten und Zeiten zu reisen?
Er untersuchte die Oberfläche des Zylinders, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Dann hob er es hoch und legte es an, wie er auf dem Gauklerfest auch das Fernglas von Franscesco angelegt hatte. Damals war er überwältigt gewesen. Durch Francescos Wunderröhre schien die Ferne in greifbare Nähe zu rücken. Er konnte sich erinnern, dass er das Rohr fast hatte fallen lassen.
Die Verwunderung, die er damals gespürt hatte, war allerdings Nichts im Vergleich zu der Überraschung, die ihm der Blick durch die Weltendose gewährte. Mit offenem Mund ließ er den Apparat sinken, nur um ihn dann wieder vor sein rechtes Auge zu heben.
Obwohl das Gerät völlig hohl war, sah er am Ende des Tunnels eine Wüste. Braun gebrannte, athletische Männer, die nur mit kurzen, weißen Stoffhosen bekleidet waren, beförderten riesige Steinquader über den brennenden Wüstensand, um diese zu einer Art Pyramide aufzutürmen.
Er drehte die Dose und das Bild veränderte sich. Auf einmal verwandelte sich die Wüste in ein Meer, aus der Türme aufragten, die von Gott selbst erschaffen worden sein mussten. Türme aus buntem Glas, die wie von Geisterhand aus sich selbst heraus leuchteten. Er drehte weiter und wieder änderte sich das Bild. Nun sah er einen Platz, auf dem eine halb zerfallene Kirche stand. Der Platz war absolut eben. Um ihn herum waren Vertiefungen, Straßen, aber ihr Grund war nicht aus Lehm, sondern aus einem merkwürdigen Fels, der absolut eben erschien. Auf diesen Straßen bewegten sich Menschen in merkwürdigen Metallkästen, die mehr Lärm als zehn Pferdekutschen machten. Er sah genauer hin und hatte das Gefühl, dass er einen furchtbaren Gestank wahrnahm. Der Geruch von Verbranntem. Irgendetwas, das er nicht einordnen konnte. Das Bild in der Röhre kam näher und näher. Der Lärm wurde lauter, die Menschen redeten wie wild und auf einmal bemerkte Malte, dass er nicht mehr durch die Weltendose sah, sondern dass er sich unmittelbar in der Welt befand, die er vor Sekunden noch aus der Ferne betrachtet hatte.
»Beim Heiligen Vater«, rief er laut und seine Beine setzten sich instinktiv in Bewegung. Ein Gefühl von Angst stieg in ihm auf. »So helft mir raus hier!«
Seine Beine trugen ihn geradewegs auf die glatte Straße zu, ohne dass er etwas dagegen unternehmen konnte. Plötzlich drehte sich die Welt. Er hörte laute Geräusche, wie von einem Horn, dann ein Quietschen, als eine der fahrenden Metallkisten nur wenige Zentimeter vor ihm zum Stehen kam.
»Jo mei! Hast du denn a Knall, du Seppl?«, schrie der Mann, der sich aus einer Öffnung der Kiste beugte.
Und wieder ertönte das fürchterliche Horn, das Malte fast um den Verstand brachte. Er presste seine Hände auf die Ohren und begann zu schreien.
»Nun machst, dass d’von da Strass runta kommst«, fluchte der Mann weiter. Malte ignorierte ihn. Sein Blick war völlig gebannt von den beiden Männern in den grünen Gewändern, die auf ihn zukamen und keinen freundlichen Gesichtsausdruck machten. Dennoch, die Orden auf ihrer Brust, eine Art Adler, wiesen darauf hin, dass sie wohl so etwas wie Stadtwächter waren.
Als die beiden vor ihm standen, musste Malte schreien, damit er das Horn des Blechkastens übertönte.
»Gütige Herren«, sprach er sie an. »Bitte helft mir. Ich bin fremd hier und es scheint, dass der Mensch in dem Blechkasten mir nicht wohlgesonnen ist.«
»Jo. Des sieht man wohl, des du net von hia bist«, sagte einer der Stadtwächter.
»Was tragst denn da füa komische Lumpen? Bist a Penner, oder was?«, fiel der andere Mann ein. »Sag mal, was hast den so g’trunke?«
Malte sah die beiden Männer verwirrt an. »Nichts, ich meine, nur das Übliche. Eine Flasche Met zum Abend und zwei Gläser Kirschwein.«
»Aha. Das dacht schma scho. Da kommst am beste ma mit. Für Leut wie dich ham wa a schöne, kleine Ausnüchterungszell.«
Bevor sich Malte versah, hatte einer der Stadtwachen seine Arme auf den Rücken gebogen und eine metallene Fessel um seine Handgelenke gelegt. Er versuchte sich zu wehren, aber gegen die beiden Männer hatte er keine Chance. Beide ergriffen seine Oberarme und führten ihn zu einer der fahrenden Blechkisten. Nur war diese größer und nicht einfarbig, sondern grün und weiß bemalt. Als das Teufelsdings aufheulte und sich ohne Zutun eines Pferdes mit hoher Geschwindigkeit in Bewegung setzte, begann Malte zu wimmern.
»Herr … vergib mir … und ich verspreche, dass ich meine Neugier in Zukunft zügeln werde.«

Sofia erschrak, als das ohrenbetäubende Zischen die Stille der Nacht zerriss. Ein greller Lichtblitz schoss aus der Dose, die ihr Gatte in den Händen hielt und auf einmal war die ganze Scheune voller Nebel.
»Nein!«, schrie sie und rannte ihn das Gebäude, um Malte vor dem Verbrennen zu retten. Doch da war kein Feuer. Nur eine metallener Zylinder, der am Boden lag. Sofia hob ihn auf, verbrannte sich die Finger und ließ ihn blitzartig wieder fallen.
»Verflucht.« Wo war Malte hin? Es kam ihr gleich komisch vor, als er mitten in der Nacht seine Kleidung anzog, um einen Brief auszuliefern. Das war überhaupt nicht seine Art. Sonst war er so … phlegmatisch. Wenn es jemanden gab, der alles auf den nächsten Tag verschob, was man verschieben konnte, dann war das ihr Gatte.
»Malte!« Ihre Stimme überschlug sich. »Malte! Wo bist du?«
Doch niemand meldete sich. Sie rannte aus der Scheune, um das Gebäude herum zum Wohnhaus und hämmerte wie eine Wilde an die Tür. Es dauerte fast eine Minute, bis geöffnet wurde, und erst als sie den Mann mit dem grau melierten Haar in der Tür stehen sah, wurde ihr klar, wessen Haus es war. Der Verrückte. Der Magier. Der Hexer. Derjenige, mit dem keiner etwas zu tun haben wollte, weil alle Angst hatten, den Zorn Gottes auf sich zu ziehen, wenn sie sich mit diesem Verruchten einließen.
»Sofia?!«, sagte Drabus. »Was ist passiert? Komm rein!« Er öffnete die Tür weiter, sodass sie eintreten konnte. Ihr war bewusst, dass sie sich in die Höhle des Löwen begab. Sie wusste aber auch, dass Maltes Verschwinden höchstwahrscheinlich etwas mit der geheimnisvollen Dose zu tun hatte, die auf dem Boden der Scheune lag. Und dass diese Dose dem Hexer gehörte, lag auf der Hand.
»Malte«, schluchzte sie. »Er … er ist verschwunden. In Eurer Scheune …«
»Setz dich erst einmal hin«, schlug Drabus vor, und zog einen Stuhl vom Tisch ab. »Ich mache dir erst einmal einen Tee.« Mit diesen Worten begann er Kräuter aus verschiedenen Dosen zu nehmen und diese in eine Tontasse zu werfen. Dann nahm er den Kessel mit dampfendem Wasser vom Herd und brühte ein süßlich riechendes Getränk auf, das er Sofia vor die Nase stellte. »Trink das. Es wird dir guttun.«
Wie in Trance griff Sofia zur Tasse und nippte an ihr. Das Getränk war würzig und beruhigte sie schon mit dem ersten Schluck. Aber es konnte nicht den Schrecken auslöschen, der sich in ihrem Kopf festgesetzt hatte.
»Malte ist … er … die Dose …« Wieder schluchzte sie, und Tränen bahnten sich ihren Weg aus den Augen, über die Wangen und tropften auf den Holztisch.
»Er konnte nicht widerstehen, nicht wahr?«, fragte Drabus wissend. »Hat er die Dose genommen?«
Sofia nickte.
»Trink!«, fordert er sie wieder auf. »Es wird dir guttun.«

Erneut nahm sie einen Schluck und spürte, wie sich ihr Kopf zu drehen begann. Eine Leichtigkeit nahm Besitz von ihr, die sie normalerweise nur spürte, wenn sie zu viel Met getrunken hatte. Der einzige Unterschied war, dass ihr von Drabus Tee nicht übel wurde.

Plötzlich fragte sie sich, was genau passiert war. Da war eine Dose. Aber warum? Was hatte es mit der Dose auf sich. Wer war der Mann, an dessen Tisch sie saß, und dessen süßlichen Tee sie genoss?
»Du kannst dich nicht erinnern, wer ich bin?«, fragte Drabus.

Verwirrt schüttelte sie den Kopf.
»Armes Mädchen. Der Sturz hat dir härter zugesetzt, als ich dachte.« Er rückte ihren Stuhl ein wenig vom Tisch ab und stellte sich vor sie. Mit beiden Händen griff er nach ihren Schultern und schüttelte sie sanft. »Sofia! Ich bin es. Drabus. Dein treuer Gatte!«
Sofia war verwirrt. »Gatte?«
»Ja. Du bist gestürzt, draußen, während des Sturms«, erklärte er ihr. »Aber ich sehe, es geht dir langsam wieder besser.« Er beugte sich zu ihr hinab und gab ihr einen langen, zärtlichen Kuss, den sie nach anfänglichem Zögern erwiderte. Ganz langsam kam die Erinnerung zurück. Drabus. Ihr Mann. Richtig.
»Trink deinen Tee aus und geh dann ins Schlafzimmer. Du brauchst Ruhe. Du musst dich erholen.«
»Und du?«, fragte Sofia.
»Ich folge dir gleich. Und ich würde mich freuen, wenn ich dich ohne Nachthemd in unserem Bett vorfände. Ich hoffe, deine Lust auf Liebe hat durch den Sturz keinen Schaden genommen.«
Er lächelte. Es war ansteckend. Sie erwiderte seine Geste, nahm noch einen Schluck Tee und stand schwankend auf. »Natürlich nicht, Liebling. Ich werde auf dich warten. Ich kann mich kaum noch erinnern, wie es ist, dich in mir zu spüren.«
»Geh nach oben«, sagte er und zog seinen Mantel an. »Ich muss noch kurz in mein Labor, verspreche dir aber, dass du heute Nacht ganz bestimmt auf deine Kosten kommen wirst.«

Drabus betrat die Scheune und entzündete die Fackeln, die sich direkt neben der Eingangstür befanden. Zielstrebig marschierte er in die Mitte des Raums, hob die Weltendose auf. Er blickte durch den Hohlraum, drehte den Zylinder ein wenig und lächelte.
Weit entfernt, in einer anderen Welt und in einer anderen Zeit, sah er einen gebrochenen Mann in einem kahlen Raum sitzen, der mit Gitterstäben verschlossen war.
»Du hast deine Arbeit getan«, sagte er zu der Dose, legte sie auf einen Amboss und begann sie mit einem Schmiedehammer zu bearbeiten, bis nur noch ein Klumpen Metall von ihr übrig geblieben war. Dann machte er sich wieder auf den Weg ins Haus und lächelte, als er an Sofia dachte, die sich in wenigen Minuten nackt unter ihm winden würde.

(aa)

Anmerkung:
Diese Kurzgeschichte erschien am 18. Mai 2010 auf dem alten Geisterspiegel.