Heftroman der

Woche

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Der Spion – Kapitel 16

Balduin Möllhausen
Der Spion
Roman aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, Suttgart 1893

Kapitel 16

Der gefährliche Auftrag

Mehrere Tage waren wieder verstrichen, ohne dass die altgewohnte Ordnung im Schneckenhaus gestört worden wäre. Harriet Palmer, deren Gedächtnis der jüngste Abendbesuch gänzlich entschwunden zu sein schien, hatte sich nach alter Weise pünktlich zum Unterricht eingestellt. Nichts in ihrem Wesen verriet, dass irgendein Argwohn in ihr lebte oder sie darauf ausging, die Geheimnisse, welche das verwitterte Farmhaus und deren Bewohner umwebten, zu ergründen. Man hätte sogar glauben mögen, dass sie im gelegentlichen Verkehr mit Captain Houston das heimliche Verlangen hegte, ihn an sich zu fesseln. Margaretha wurde es dadurch erleichtert, den Blicken der von ungewöhnlichem Liebreiz umflossenen jungen Südländerin offen zu begegnen. Bezaubert durch deren Anmut und kindlichen Frohsinn, wies sie sehr bald den von Houston angeregten Verdacht beschämt, sogar mit Entrüstung zurück. Sie zürnte sich, einem solchen überhaupt Raum gegeben zu haben.

Oliva hatte dagegen die letzten Tage wie eine Gefangene verlebt. Aufgrund seiner nächtlichen Begegnung mit dem verdächtigen Fremden von Houston dringend gewarnt, wagte sie sich weder bei Tag noch bei Nacht vor die Tür hinaus. Mit um so innigerer Freude begrüßte sie dafür die Stunden, welche Margaretha in der Abgeschiedenheit ihrer Wohnung mit ihr verbrachte. Wie ein Bann der Wehmut ruhte es bei solchen Gelegenheiten auf beiden. Sie befanden sich unter dem Einfluss des Bewusstseins, dass jede neue Stunde eine Trennung auf voraussichtliches Nimmerwiedersehen in sich bergen könne.

Houstons Tätigkeit in der Werkstatt beschränkte sich seit jenem Abend auf unbestimmte Zeiträume. Über die Ursachen seiner Abwesenheit sprach er nicht. Ernster war er im Verkehr mit den Hausgenossen geworden, als ob er vergeblich getrachtet habe, eine ihn folternde Unruhe zu verheimlichen. Am dritten Tag stellte er sich zu Martins Befremden sogar erst nachmittags ein. Noch mehr befremdete die beiden alten Knaben, dass er Fegefeuer, der ohne die seit Harriets ungeahntem Besuch verschlossen gehaltene Pforte öffnete, aufforderte, ihn in den Garten zu begleiten. Dort, wo niemand seinen Verkehr mit dem Burschen überwachte, zog er sein Taschenfeuerzeug hervor. Nachdem er die vorhandenen Schwefelhölzer der Reihe nach angebrannt und wieder in den kleinen Behälter zurückgetan hatte, beauftragte er ihn, denselben auf dem kürzesten Weg Nicodemo zuzutragen. Freudestrahlend über das in ihn gesetzte Vertrauen stürmte Fegefeuer, das Öffnen des Tores verschmähend, davon. Nun erst trat Houston, gefolgt von den herbeigerufenen beiden Alten, bei Oliva und Margaretha ein.

 

***

 

»Der Würfel ist gefallen«, beantwortete er die in den an seinen Lippen hängenden Blicken sich offenbarenden ängstlichen Fragen. »Fegefeuer ist bereits unterwegs zu Nicodemo.« Er wandte er sich Oliva zu. »Heute noch müssen Sie fort. Morgen mag es zu spät sein, wenn auch nur für Ihre Pläne. Sie müssen fort, schon allein, weil gemäß der heute erst eingetroffenen Nachrichten der von Ihnen erwartete Zeitpunkt vor der Tür zu sein scheint. Ich finde nicht eher Ruhe, als bis ich Sie fern weiß. Unter den heimlichen Feinden der Union hier am Ort herrscht tiefe Erbitterung. Wie ich vernahm, soll der bei den verbrannten Dampfern aufgefundene Tote einer der ihren gewesen sein. Da hat sich der Verdacht der Täterschaft auf diejenigen gelenkt, die hier verkehren. Ist in nächster Zeit kein nächtlicher Überfall zu befürchten – für später werden sich Sicherheitsmaßregeln treffen lassen – so ist doch vorauszusehen, dass man feindlicherseits die Wachsamkeit verdoppelt und alles, was innerhalb der Palisaden vorgeht, Tag und Nacht auszukundschaften trachtet. Was das bedeutet, Sie werden es ermessen. Und nochmals wiederhole ich: Nicht eher finde ich Ruhe, als bis ich Sie fern weiß.«

Margaretha und die beiden zänkischen Hausgenossen sahen besorgt auf Oliva, die anscheinend gleichmütig den überstürzten Mitteilungen lauschte. Nur in ihren großen Augen webte es eigentümlich, wie in denen eines sich zum Wettlauf anschickenden edlen Renners.

»Ihre Nachricht überrascht mich nicht«, sprach sie vollkommen gelassen, »weit eher, dass sie nicht früher eintraf, und ich bin bereit, meine bisherige freundliche Zufluchtsstätte sofort mit dem Feldleben einzutauschen. Hoffentlich gelangt die Botschaft rechtzeitig in Nicodemos Hände.«

»Stößt Fegefeuer nicht auf unüberwindliche Hindernisse, so kann er bald nach Einbruch der Nacht hier sein«, versetzte Houston noch immer erregt.

»Das wäre nicht zu früh«, bemerkte Oliva nachdenklich, »gehe ich um neun Uhr, so bin ich um zehn, halb elf Uhr zurück.«

»Sie wollen noch in die Stadt hinein?«

»Ich muss, koste es, was es wolle, oder mein hiesiger Aufenthalt wäre gleichbedeutend mit nutzlos vergeudeter Zeit.«

»Sie fürchten nicht, dass Sie selbst die Person sind, nach welcher man feindlicherseits so unermüdlich forscht? Nicht, dass mit diesem Gang die ernstesten Gefahren für Sie verbunden sind?«

»Ich bin es gewohnt, einem einmal gefassten Entschluss treu zu bleiben«, antwortete Oliva. Mehr und mehr wich der Ausdruck weiblicher Milde, der in den jüngsten Tagen ihr Antlitz beherrschte, vor dem gleichsam männlicher Entschlossenheit. »Was sind Gefahren? Mehr als das Leben kann ein Sterblicher nicht verlieren. Opfere ich das meine einer gerechten Sache, so steige ich befriedigt in die Erde hinab. Doch ich habe noch einige Vorbereitungen zu treffen. Dankbar würde ich es anerkennen, ließen die Herren mich eine halbe Stunde mit Margaretha allein.«

Houston folgte Martin und Krehle zur Werkstatt, wo sie mit einer gewissen, auf etwaige heimliche Beobachter berechneten Absichtlichkeit der gewohnten Beschäftigung oblagen. Während Krehle aber seinen unerschütterlichen Gleichmut bewahrte und den Lackpinsel mit der Gemächlichkeit eines selbstbewussten Künstlers ersten Ranges handhabte, hatte fieberhafte Unruhe sich Martin Findegerns bemächtigt. Auf allen Seiten wähnte er sich von Spähern und Verrätern umringt. An ihn selbst bedrohende Gefahren dachte er nicht. Wer hätte sich wohl an den unverfrorenen alten Sargfabrikanten heranwagen mögen, wie er meinte. Allein Oliva hinterlistigen Angriffen ausgesetzt zu wissen, folterte ihn in einer Weise, dass die meisten Beschwichtigungsgründe des Captains ungehört für ihn verhallten.

 

***

 

Oliva beeilte sich zu derselben Zeit, unter Margarethas Beihilfe ihren Feldanzug Stück für Stück zur sofortigen Benutzung bereitzulegen. Mit derselben Peinlichkeit prüfte sie ihre Waffen, sie zugleich für einen schnellen Gebrauch herrichtend. Einsilbig ging sie dabei zu Werke. Zuweilen war es, als ob sie Margarethas Anwesenheit vergessen habe. Kurz lauteten die Antworten, welche sie ihr auf einzelne schüchterne Bemerkungen erteilte. Ihr Antlitz verhärtete sich förmlich während des bedachtsamen Ordnens, sodass Margaretha nur mit heimlicher Scheu auf sie hinzusehen vermochte. Erst nachdem sie sich überzeugte, dass nichts fehlte, alles so lag und stand, dass sie nur zuzugreifen brauchte, kehrte sie sich der lieblichen Hausgenossin wieder zu. Deren Zaghaftigkeit, geeint mit aufrichtiger schmerzlicher Teilnahme gewahrend, glitt es wie ein Sonnenblick über ihre Züge.

»Margaretha«, sprach sie mit seltsam bebenden Lippen, indem sie die Hände auf deren Schultern legte, »es befremdet Sie, muss Sie befremden, wenn Sie beobachten, wie von den beiden Naturen, die in mir wohnen, die rauere plötzlich die Oberhand gewinnt. Doch was mir auch bevorstehen, unter welchen Verhältnissen ich von hier scheiden, welche Eindrücke ich hier zurücklassen mag. Eins ist keiner Wandlung unterworfen: die Dankbarkeit für alles, was ich in diesem Haus erfuhr, für die Art, in welcher Sie es verstanden haben, mein Herz für Sie zu erwärmen.«

Stürmisch umarmte sie die, wie Schutz bei ihr suchend, sich an die Anschmiegende. Gleich darauf brannten ihre Lippen auf Margarethas Stirn. Diese fühlte, wie heftiges Zittern die hohe kräftige Gestalt erschütterte. Aber als ob damit alles von ihr ausgeschieden wäre, was noch an zarten weiblichen Regungen in ihr wohnte, trat Oliva zurück. Zugleich verhärtete ihr Antlitz sich wieder.

»Es ist überstanden«, sprach sie förmlich streng, »meinem Herzen war ich diesen Tribut schuldig. Mag dies als Abschied zwischen uns gelten. Später vielleicht noch ein Händedruck, ein Blick oder Wort, das genügt. Ich trenne mich von Ihnen und Ihrem gastlichen Haus, als ob ein vergilbtes Blatt, vom Sturm erfasst, sich lautlos aus der Mitte seiner noch grünenden Schwestern löse, um im Niedersinken zwischen stacheligem und übelduftendem Unkraut sich zu verbergen.«

Sie lachte unsäglich bitter zu diesem Vergleich. Dann befand sie sich ausschließlich unter der Herrschaft ihres beweglichen Geistes. Kaltblütige Überlegung und Scharfsinn traten in ihre vollen Rechte ein. Noch einmal, zum letzten Mal saß Oliva zu Tisch mit ihren Freunden. Lebte Wehmut in ihr, so tönte aus ihrer Stimme doch nur einzig und allein die Ruhe eines unbefangenen, sich seines Zieles bewussten Gemütes hervor. Denselben Eindruck erzeugte sie, als sie sich endlich erhob und zum Gang in die Stadt rüstete. Bis ans Tor gaben Martin Findegern und Houston ihr das Geleit. Deren Vorschlag, ihr in einer gewissen Entfernung zu folgen, lehnte sie entschieden ab. Ihre einzige Sorge war, bei der Rückkehr geräuschlos eingelassen zu werden. Sie sprach noch, als gewissermaßen als Antwort darauf von der Straße her Fegefeuer neben sie hinhuschte, ihr einige Worte zuraunte und dann durch die Pforte schlüpfte.

»Ich wusste, dass Nicodemo auf mich warten würde«, sprach sie in die Pforte hinein. Eilig schritt sie davon.

 

***

 

Die Ecke des Palisadenzauns lag eine Strecke hinter ihr, als Nicodemo von der anderen Seite der mäßig belebten Straße herüber neben sie hintrat. Statt des Grußes wechselten sie einen Händedruck, wobei Oliva vorsichtig fragte: »Sind wir sicher, dass uns keiner beobachtet, wohl gar folgt?«

»Seit einer halben Stunde bewegten Fegefeuer und ich uns in verschiedenen Richtungen die Straße auf und ab«, antwortete Nicodemo finster. »Menschen kamen, Menschen gingen, jedoch keiner, der irgendwelche Teilnahme für das hinter dem Zaun liegende Haus verraten hätte. Ob das genügende Sicherheit bietet, mag Gott wissen.«

»Es genügt«, erwiderte Oliva, »sind wir zurück und die Papiere befinden sich in meiner Tasche, so hat‘s keine Gefahr mehr. Mag man uns nachspüren nach Belieben. Hoffentlich stoße ich bei Palmer auf keine Schwierigkeiten. Ist alles zur Flucht vorbereitet? Ich gestehe, selbst mir beginnt der Boden unter den Füßen heiß zu werden.«

»Nichts hindert uns, zu jeder Minute aufzubrechen. Wir brauchen uns nur unbemerkt an den Mississippi zu begeben.«

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander.

Dann hob Nicodemo wieder mit einem Ausdruck tiefer Besorgnis an: »Ich unternehme es nicht, eine Wandlung deines Sinnes herbeizuführen; wohl aber steht es mir zu, auch widerspricht es nicht unserer Vereinbarung, dich daran zu erinnern, dass seit deinem ersten Besuch im Hause Palmers sich vieles geändert haben kann. Ahnt man, durch Verrat darauf hingewiesen, die Wahrheit, so magst du seinen Garten unbeschadet verlassen, jedoch schwerlich die Nachbarschaft der Stadt.«

»Ich gehe meinen eigenen Weg, darin störe mich nicht«, versetzte Oliva entschlossen, aber sanft, »wir stehen überall in Gottes Hand. Sollte ein böses Verhängnis mich vor der Zeit ereilen, so weißt du, dass mein letzter Atemzug eine bis über das Grab hinaus reichende Dankbarkeit für deine Großmut und Treue in sich barg.«

Nicodemo neigte das Haupt. Kein Wort wechselten sie mehr. Stumm schritten sie durch die abendlich beleuchteten Straßen, stumm an der Palmers Garten begrenzenden Mauer hin. Vor dem Gittertor eingetroffen, zog Oliva mit fester Hand an dem Glockengriff; dann lauschten beide gespannt. Erst als vom Haus her eilige Schritte vernehmbar wurden, schritt Nicodemo zur anderen Seite der Straße hinüber, wo der Schatten zweier voneinander getrennt stehenden Häuser ihn in sich aufnahm. Gleich darauf drang Olivas Stimme zu ihm hinüber, indem sie herrisch Einlass begehrte. Ohne weitere Fragen öffnete der Diener die Pforte, und in der nächsten Minute verhallten für Nicodemo die Schritte Olivas und ihres Begleiters zwischen den dichten Baumgruppen.

 

***

 

Schneller als bei ihrem ersten Besuch wurde Oliva dieses Mal vorgelassen und von Palmer im bekannten Zimmer empfangen. Nur ein Herr befand sich bei ihm. Am darauffolgenden Gespräch beteiligte er sich nicht. Wohl aber nahm er wieder eine Stelle ein, von welcher aus er sie, ohne sich ihren Blicken auszusetzen, mit der Schärfe des Argwohns eines Feindes zu überwachen vermochte.

»Sie müssen sich in einem sicheren Schlupfwinkel verborgen gehalten haben«, begann Palmer, nachdem er ihr gegenüber Platz genommen hatte. »Ich begann schon zu fürchten, Sie möchten sich entfernt haben, ohne zuvor noch einmal hier vorzusprechen.«

»Mit anderen Worten«, erwiderte Oliva spöttisch, »den von Ihnen beauftragten Spähern gelang es trotz ihres unermüdlichen Eifers nicht, eine Fährte von mir zu entdecken. Solches Verfahren beweist kein großes Vertrauen. O, sie hätten lange nach mir suchen können. Handelt es sich um Leben und Tod, so hat man gewiss Ursache, seine Spuren so zu verwischen, dass selbst Freunde sie nicht aufzufinden vermögen. Gelang mir das, so hätte das weit eher zu Ihrer Beruhigung dienen müssen. Im Übrigen stelle ich Ihnen anheim, sofern irgendwelcher Argwohn gegen mich Boden gewonnen haben sollte, unsere Beziehungen als abgebrochen zu betrachten. Ich bin nicht gewohnt, meine Dienste da aufzudrängen, wo ich kein vertrauensvolles Entgegenkommen finde.«

Ruhig, sogar kalt, wie die Worte aus einem Buch ablesend, hatte Oliva gesprochen. Und dennoch erzielte sie eine Wirkung, die mit einem unheimlichen Zauber zu vergleichen gewesen wäre.

Es offenbarte sich in der Art, in welcher Palmer, nachdem sie endete, gewissermaßen scheu erwiderte: »Nein, Madam, unsere Vereinbarung bleibt bestehen. Den Vorwurf aber, welchen Sie gegen mich richteten, ist nur insoweit gerechtfertigt, als wir in unserem Verfahren Vorsicht walten lassen müssen.« Oliva neigte das Haupt zum Zeichen des Verständnisses, und Palmer fuhr fort: »Wann brechen Sie zum Kriegsschauplatz auf?«

»Das weiß ich nicht. Vielleicht morgen oder übermorgen; auf alle Fälle innerhalb vier Tagen. Es hängt davon ab, wie bald sich die Gelegenheit bietet, unbemerkt zu entkommen.«

Mit heimlicher Bewunderung sah Palmer in das schöne Antlitz. Gewaltsam schien er den dasselbe auszeichnenden starren Ernst durchdringen zu wollen. weiter fragte er mit einem Anflug von Teilnahme. »Sie wissen, dass bei einer etwaigen Verhaftung Ihr Leben auf dem Spiel steht?«

»Das Leben bietet keine so hohen Reize, dass ich mich verzweiflungsvoll an dasselbe klammern möchte«, erklärte Oliva eisig, »mit der Verhaftung aber eilt es nicht. Doch ich kam nicht, um meine Zeit mit Erörterungen über Gemütsbewegungen zu verlieren. Sind die Briefschaften für Quinch und die anderen Bandenchefs bereit?«

»Seit beinahe einer Woche. Ich erwartete Sie längst.«

»Ich kann nicht gehen, wann und wohin ich will. Nach den letzten mir zugegangenen Nachrichten komme ich immer noch früh genug. Mein Weg führt mitten zwischen den Unionstruppen hindurch. Ihn einigermaßen gesichert zurückzulegen, muss ich meine Zeit wählen.«

Palmer zog ein Päckchen hervor und überreichte es Oliva. Diese wog es flüchtig in der Hand. Nachdem sie sich überzeugt hatte, dass es keine Aufschrift trug, barg sie es nachlässig an ihrem Körper.

»Gefährliche Geheimnisse enthält es«, bemerkte Palmer gleichsam warnend. »Ich erwähnte der Möglichkeit einer Habhaftwerdung. In einem solchen Fall hinge alles davon ab, sich derselben rechtzeitig so zu entledigen, dass es nicht verloren ginge oder es ganz zu vernichten.«

Oliva lächelte spöttisch, und versetzte gelassen: »Sie sprechen, als ob ich ein Neuling in gewagten Unternehmungen wäre. Fehlt Ihnen das volle Vertrauen zu meinen Erfahrungen und gutem Willen, so ist es noch nicht zu spät, einen anderen Boten zu wählen, der sich mehr an Ihre Ratschläge bindet.«

»Und ich bitte Sie dringend, Madam, meine ernste Teilnahme für Ihre Wohlfahrt nicht zu verkennen. Wie weit mein Vertrauen reicht, werden Sie erfahren, wenn Sie das Päckchen zu seiner Zeit öffnen und die einzelnen kurz gefassten Empfehlungen prüfen. Dieselben sind nur Eingeweihten verständlich. Fußend auf Ihre Umsicht und Gewissenhaftigkeit, ist es Ihnen anheimgegeben, mehrere unvollständige Weisungen je nach den veränderten Verhältnissen und unvorhergesehenen Truppen-Verschiebungen auszufüllen.«

Oliva senkte die Lider wie ermüdet über ihre Augen. Sie hatte die Empfindung, als ob der sie durchschauernde wilde Triumph sich in denselben hätte verraten müssen.

»Es ist nicht mehr, als ich erwartete, um die mir übertragene Aufgabe in ihrem ganzen Umfang erfüllen zu können«, antwortete sie eintönig. Sie sah wieder zu Palmer und dem anderen Herrn auf und zog einen länglich zusammengefalteten, sorgfältig verklebten Papierstreifen hervor. Denselben wie im Spiel vor sich schwingend, bemerkte sie abermals spöttisch: »Sie selbst wie die Personen, die in näheren Verkehr mit Ihnen treten, könnten immerhin etwas mehr Misstrauen walten lassen. Als ich vorhin auf der Straße die Hand zum Glockenzug ausstreckte, tauchte plötzlich neben mir eine dicht verschleierte Person aus dem Schatten auf. Dieselbe schien daselbst schon eine Weile gewartet zu haben. Mit klangvoller Stimme fragte sie, ob ich zu Herrn Palmer wolle und mit ihm befreundet sei. Als ich beides bejahte, schob sie diesen Zettel in meine Hand. Zugleich bat sie mich, Ihnen denselben zu übergeben. Sie meinte noch, es wäre ein Unglück, wenn er in unrechte Hände fiele. Das nennen Sie doch nicht etwa Vorsicht? Was wären die möglichen Folgen gewesen, wäre solch kindliches Vertrauen jeder anderen Fremden geschenkt worden?«

Sie überreichte Palmer das Papier. Dieser las die auf ihn lautende Aufschrift und öffnete es, wie von bösen Ahnungen beschlichen, mit unsicheren Griffen. Nur wenige Zeilen enthielt es. Er hatte unter den ihn scharf überwachenden Augen Olivas und seines Freundes nicht sobald Kenntnis von denselben genommen, als er tödlich erbleichte.

»Das ist unerhört«, stieß er gleichsam hervor, und sich Oliva zukehrend, fragte er ungestüm: »Kennen Sie den Inhalt?«

»Wie sollte ich ihn erfahren haben?«, fragte Oliva, die Brauen im Unwillen runzelnd, zurück, »auf dem Weg vom Tor bis hierher? Außerdem schien die Verklebung unverletzt geblieben zu sein.«

»Es ist wahr – wo hatte ich meine Gedanken?«, versetzte Palmer, noch immer gegen peinliches Erstaunen ankämpfend. »In diesem Fall trifft Ihr Vorwurf verabsäumter Vorsicht weder mich noch meine Freunde gerechtfertigt. Aber ich preise mit Ihnen den Zufall, dass nicht ein anderer an Ihrer Stelle mit der Beförderung des Zettels beauftragt wurde. Doch hören Sie, mittelbar geht es auch Sie an.« Und er las:

Herr Palmer! Die Briefschaften, welche dem schurkischen Adjutanten des noch schurkischeren Quinch abgenommen wurden, befinden sich in meinen Händen. Zu seiner Zeit werde ich den entsprechenden Gebrauch davon machen. Wollen Sie mein Verfahren beschleunigen und ein schweres Verhängnis auf sich herab beschwören, so brauchen Sie oder Ihre Klansgenossen nur zu wagen, harmlose Menschen zu belästigen oder gar zu bedrohen. Vergessen Sie nicht – ob ich unsichtbar bleibe: Sie samt Ihren Schergen befinden sich jederzeit in meiner Gewalt. Kampbell.

»Kampbell«, wiederholte sein Freund bestürzt.

»Kampbell«, sprach auch Oliva erstaunt, »wie kommt dieser berüchtigte Spion, der einzige Sterbliche, den ich scheue, hierher? Überall und nirgends ist er; und jetzt sogar hier in St. Louis. Doch ich errate: Hier wie überall besitzt er seine Werkzeuge, die blindlings nach seinen Befehlen handeln.« Sie erhob sich. Einige Sekunden sann sie nach. Mit verkürztem Atem fuhr sie fort: »Weilt dieser hinterlistige und ebenso schlaue Spion wirklich hier am Ort, so werde ich meinen ganzen Scharfsinn aufbieten müssen, zu flüchten, bevor er auf meine Spuren gerät. Ein wohlwollendes Geschick fügte es, dass ich selbst die Trägerin dieser geheimnisvollen Nachricht wurde.«

Sie wollte sich verabschieden, als Palmer, der sich ebenfalls erhoben hatte, sie mit den Worten zurückhielt: »So wird eine andere Botschaft Ihnen nicht minder gelegen kommen, wohl gar von größerem Wert für Sie sein. Da oben soll sich nämlich ein milchbärtiger Vaquero zwischen den beiden gegnerischen Armeen umhertreiben, wahrscheinlich einer von Kampbells Leuten, der ihm in die Hände arbeitet. Vor dem seien Sie auf der Hut.«

»Erhielten Sie eine nähere Beschreibung von ihm?«, fragte Oliva nachdenklich.

»Eine Beschreibung seiner Person nicht; dagegen berichtete Quinch selbst, dass des Burschen Kühnheit ihn zu einem gefährlichen Spion mache, und er daher alles aufbiete, seiner habhaft zu werden. So schoss er zum Beispiel fast unter seinen Augen inmitten der Truppe einem seiner zuverlässigsten Korporale eine Kugel durch den Kopf.«

»Mitten in der Truppe und man fing ihn nicht?«, fragte Oliva wie beiläufig.

»Auch mir ist das unverständlich«, erklärte Palmer, »auf alle Fälle muss es ein gewandter Mensch sein, welchem zu begegnen ich Ihnen nicht wünsche.«

»Begegnete ich ihm, was mir bei der Art meiner Tätigkeit kaum glaublich erscheint, so würde er schwerlich Ursache finden, sich an einer Frau zu vergreifen. Aber ich danke Ihnen für die Mitteilung, mag sie immerhin auf schwächere Gemüter berechnet sein. Leben Sie wohl. Gelingt es mir, die Stadt unentdeckt zu verlassen, so hören Sie zu seiner Zeit von mir oder doch wenigstens von meinem Tun.«

»Dann reisen Sie mit Gott«, versetzte Palmer, ihr die Hand reichend, »möge er Sie auf Ihrem gefahrvollen Weg beschirmen, Sie reich belohnen für die Dienste, welche Sie einer gerechten Sache leisten.«

Oliva antwortete nicht mehr. Flüchtiges Neigen des Hauptes galt dem anderen Herrn als Abschiedsgruß. Dann eilte sie in die Vorhalle hinaus, wo der Diener sich zur Begleitung bereitgehalten hatte.

»Was meinen Sie jetzt zu der Person? Sind Sie immer noch nicht von Ihrem Misstrauen zurückgekommen?«, fragte Palmer, sichtbar noch unter dem vollen Eindruck des eben empfangenen Drohbriefes, den Gefährten.

Wie unter einer Last von erdrückender Schwere sich hervorarbeitend, atmete dieser auf. Erst nach einer Pause antwortete er zerstreut: »Die Seele eines Teufels wohnt in dem Frauenzimmer oder die eines Engels der Unschuld, welchen böse Erfahrungen in einen Dämon der Rache verwandelten.«

»Ich erblicke in ihr eine verwilderte, von tollem Fanatismus erfüllte Person, deren Eitelkeit sie treibt, es den Männern zuvorzutun«, erklärte Palmer, während der Name Kampbell noch in seinen Ohren zitterte. »Doch gleichviel, was zugrunde liegt: Sie ist sicher. Ich traue ihr zu, dass in zügelloser Begeisterung sie das schrecklichste Martyrium hohnlachend über sich ergehen lassen würde, ohne mit einer Silbe Verrat zu üben. Für ihre Zuverlässigkeit zeugt nebenbei der Eindruck, welchen die Kunde, dass jener berüchtigte Spion in der Nähe weile, auf sie ausübte.«

»Wie sollen wir uns gegen den schützen?«, fragte der andere erbittert. »Ich bezweifle nicht, dass er es ist, durch welchen der Dampfer der Vernichtung preisgegeben und unser Freund ermordet wurde. Mein Gott, wenn die dort verborgenen Papiere ebenfalls in seine Hände geraten wären! Hätte man nur eine Ahnung davon, wo er gesucht werden könnte.«

»Auf keiner anderen Stelle als im Haus des verräterischen Sargfabrikanten«, erklärte Palmer finster. »Ich möchte mit meinem Leben dafür bürgen, dass Harriet dort hart an ihm vorüberschritt. Ihre Schilderung lautete zu überzeugend. Und welchen anderen Zweck hätte der Drohbrief haben können, als etwaige Späher seinem Versteck fernzuhalten?«

»Und doch dürfen wir diese Drohung nicht berücksichtigen.«

»Nein, sicher nicht; aber unsere Vorsicht muss noch verschärft werden. Er ist zu gut bedient. Man möchte beinahe glauben, dass Einzelne seiner Helfershelfer in unserem Kreis zu suchen seien.« Hier sah Palmer zur Uhr. »Zehn vorbei«, sprach er sinnend, »unsere Leute haben zurzeit ihre Posten wohl längst bezogen?«

»Zuverlässig. Der Palisadenzaun wird von allen Seiten so scharf bewacht, dass keine Eidechse unentdeckt auf die Straße hinausschlüpfen könnte. Von hier aus begebe ich mich dorthin, um mich von ihrer Wachsamkeit zu überzeugen.« Und weiter sprachen die beiden Verbündeten ihre Befürchtungen aus, welche sich an den Namen des geheimnisvollen Spions knüpften.

 

***

 

Oliva war unterdessen auf die Straße hinausgetreten. Den Rückweg einschlagend, trennte sie eine kurze Strecke vom Ende der Parkmauer, als Nicodemo neben sie trat.

»Du bliebst länger, als ich erwartete«, sprach er leise, indem sie eilig weiterschritten. »Ich begann für dich zu fürchten.«

»Du gehst mit deiner Sorge um mich zu weit«, versetzte Oliva mit scharf hervorklingendem Hohn. »Die Arznei, welche ich Palmer reichte, erwies sich über alle Maßen wirksam. Er selbst hätte mein Leben verteidigt.«

»Und welchen Erfolg erzieltest du?«

»Den denkbar günstigsten. Quinch ist vollständig in unserer Gewalt. Wir brauchen kaum die Beihilfe regulärer Truppen. Den Wortlaut der mir anvertrauten Schriftstücke kenne ich zwar noch nicht, allein nach den Mitteilungen Palmers zu schließen, sind wir in der Lage, ihm nach Willkür jede beliebige Bewegung vorzuschreiben, mithin ihn in jeden uns zusagenden Hinterhalt locken zu können.«

Erst nach einer Pause erwiderte Nicodemo unverkennbar bedrückt: »Ich halte uns für ernstlich gefährdet, solange wir nicht die Fluten des Mississippi unter uns fühlen.«

»Wo wären wir überhaupt sicher? Und dennoch; nach den Tagen der Rast im gastlichen Haus abermals vor unsere Aufgabe gestellt, durchströmt es mich wie neues Leben. Zu meiner Befriedigung gereicht, unsere Freunde einigermaßen gegen die hinterlistigen Angriffe der Klansbrüder geschützt zu haben. Der Name Kampbell wirkte wie ein Wetterstrahl auf Palmer ein. Einmal von Kleinmut befangen, verwandeln diese Art Menschen, die ihr Leben nie in die Schanze schlugen, sich in furchtsame Kinder.«

Ihnen entgegenkommende Leute hinderten sie an der Fortsetzung des Gesprächs. Einmal in Schweigen versunken, brachen sie es auf dem ganzen Weg nicht mehr.

Sie hatten den Palisadenzaun erreicht und schritten an demselben entlang, als sie eines Mannes ansichtig wurden, der ihnen von der anderen Ecke des Zaunes her entgegenkam. Nicht zu unterscheiden vermochten sie dagegen, dass er seine Bewegungen sorgfältig abmaß, um unterhalb einer Laterne mit ihnen zusammenzutreffen. Wer auch immer er war: Der kurze Zeitraum des Vorüberschreitens genügte ihm, in Oliva dieselbe Person wiederzuerkennen, die einst im Hause Palmers solch hohes Aufsehen erregte. Im Übrigen verriet er durch nichts, dass er den beiden späten Wanderern viel Aufmerksamkeit schenkte. Erst als das Ende des Zauns vor ihm lag, spähte er noch einmal rückwärts. Die Pforte hatte sich in ihren Angeln gedreht, der Schlüssel im Schloss geknirscht. Nach Nicodemo und Oliva schaute er dagegen vergeblich aus. Es unterlag also keinem Zweifel, dass sie sich zu dem verdächtigen alten Sargfabrikanten begeben hatten. Nach dieser Entdeckung beschleunigte er seine Schritte. Was er seit Tagen ohne einen Schimmer von Erfolg erstrebte, das war ihm heute geglückt. Jene rätselhafte Fremde als Hausgenossin Martin Findegerns zu wissen, erschien ihm gleichbedeutend mit Verrat. Und so beeilte er sich, die Kunde seiner Entdeckung dahin zu tragen, von wo aus dann die entsprechenden Gegenmaßregeln zu erwarten standen.

Als er im Haus Palmers eintraf, hatten sich wieder mehrere Herren zu einer neuen nächtlichen Beratung daselbst zusammengefunden. Die Aufregung, in welche alle durch den Drohbrief Kampbells versetzt worden waren, steigerte sich zur wahren Bestürzung, sobald man die Gewissheit über irgendwelche geheimnisvolle Beziehungen zwischen Oliva und Findegern, jenem unzweifelhaften Schützling Kampbells, erhielt. In der ersten Kopflosigkeit kannte man daher allein das Trachten, der nunmehr mit verhängnisvollen Beweismitteln ausgerüsteten Fremden habhaft zu werden, wenn auch nur, um sich von deren Unschuld zu überzeugen. Nach allen Richtungen hin stoben die Gesinnungsgenossen auseinander, jeder versehen mit einem besonderen Auftrag, darauf berechnet, ohne Aufsehen zu erregen, ein einmütiges Zusammenwirken zu ermöglichen.

 

***

 

Kaum eine Viertelstunde hatte Oliva mit Margaretha in deren Wohnung verbracht, als sie in der vollen Ausrüstung eines Vaqueros bei den Männern auf der anderen Seite des Hauses eintrat. Bei ihrem Anblick erhob sich Nicodemo und griff nach seinem Hut. Förmlich schüchtern blickten Martin Findegern und Krehle zu ihr auf. Unfasslich erschien den beiden alten Junggesellen die abermalige Wandlung in deren Äußerem. Nicht minder erstaunte Houston, dem ihre Verkleidung bisher fremd geblieben war. Wie die äußere Hülle war auch ihr Antlitz ein anderes geworden. Ohne irgendeine Regung zu verraten, reichte sie allen der Reihe nach die Hand zum Abschied. Houston war der Letzte. Ihn bat sie, ihr das Geleit bis ans Tor zu geben. Gefolgt von Nicodemo und Fegefeuer schritt sie an seiner Seite eine kurze Strecke voraus.

»Captain«, redete sie ihn unterwegs gedämpft an. Etwas von der früheren Wärme klang aus ihrer Stimme hervor. »Ich müsste mich sehr täuschen, wenn ein holdes Liebesglück Ihnen nicht lächelte. Eine köstliche Frühlingsblume, geschmückt mit den Farben der Unschuld, sprießt Ihnen entgegen. Ist es Ihnen vergönnt, sie für sich zu brechen, so halten Sie dieselbe heilig, wie Ihren Gott.«

Houston, überwältigt durch die verheißenden Worte, ergriff ihre Hand. Oliva entzog ihm dieselbe. »Hier ist die Pforte«, warf sie rau ein. »Was ich Ihnen anvertraute, lassen Sie es vergraben sein in der tiefsten Tiefe Ihres Herzens. Vergessen Sie nicht: Der Blütenstaub bedarf nur eines Hauches, um unwiederbringlich in alle Winde zu verwehen. Vom Wiedersehen spreche ich nicht, weil ich nicht daran glaube.«

Houston öffnete die Pforte. An ihm vorüber schlich Fegefeuer auf die Straße hinaus und zu deren anderen Seite hinüber, wo er im Schatten verschwand. Gleich darauf schloss die Pforte sich hinter Nicodemo und Oliva. Auch sie begaben sich auf die andere Seite hinüber, wo sie ihren Weg in Richtung der Stadt nahmen. Wie zuvor bei ihrer Heimkehr, begegneten sie im Bereich der Beleuchtung einer Laterne abermals einem Fremden. Derselbe schien sie nicht zu beachten. Doch wie Oliva in ihm denselben Herrn erkannte, mit welchem sie vor einer Stunde im Haus Palmers zusammentraf, so war auch ihm trotz der Verkleidung Olivas Persönlichkeit nicht verborgen geblieben.

 

***

 

»Es wird Zeit, dass wir von hier verschwinden«, bemerkte Oliva spöttisch. Wenige Schritte gingen sie weiter, dann spähten sie nach dem Fremden zurück. Ein Zweiter hatte sich ihm zugesellt. Mit ihm umkehrend, hielten sie sich bis zur nächsten zum Mississippi hinunterführenden Straße in den Spuren der Flüchtlinge. Dort eilte der eine tiefer in die Stadt hinein, es dem Gefährten anheimgebend, die Verfolgung fortzusetzen.

Nachdem Oliva und Nicodemo die Werftstraße erreicht hatten, wo ihre Gestalten zwischen den lärmenden Fußgängern auf dem Bürgersteig mehr verschwanden, fühlten sie sich sicherer. Und doch wurden sie auch dort von scharfen Augen unablässig überwacht. Bald nach ihnen war der ihnen Nachspähende ebenfalls in die Werftstraße eingebogen, jedoch zur Wasserseite hinübergeschlichen, wo er gleichen Schritt mit ihnen hielt. Als sie vor dem Lustigen Rekruten vorüberkamen, trat Alonso zu ihnen heran. Eifrig erklärend und belehrend begleitete er sie bis zur zweiten Querstraße. Dort blieb er zurück, während Nicodemo und Oliva schräg zur Dampferreihe hinüber schritten. Sie erreichten dieselbe vor der Treppe, auf welcher Nicodemo und Alonso sich vor Tagen zur Fahrt stromabwärts einschifften. Auch heute lag das Boot wieder da, jedoch bemannt mit vier im Schatten verschwimmenden schwarzen Gestalten. Zu demselben hinabsteigend, stießen sie auf Fegefeuer, der auf der untersten Stufe kauerte.

»Du bleibst zurück«, befahl Nicodemo ihm leise, »geh nach Hause und halte gute Wache auf dem Hof. Magst erzählen, dass wir ungestört entkommen seien.«

Und ebenso leise antwortete Fegefeuer: »Der Onkel Tommy schickte mir Wort, ich sollte mich hier verborgen halten. Das große Boot und er selbst drinnen folgt nach. Master Nicodemo möchte mir sagen, wohin er ginge, damit ich‘s ihm vermeldete.«

»So sage ihm nur: Missourimündung auf dem linken Ufer; versteh‘ mich recht: Missourimündung, linkes Ufer.« Die letzten Worte betonte er etwas schärfer.

»Hab‘s verstanden, Herr«, raunte Fegefeuer ihm zu. Während Nicodemo und Oliva im Boot Platz nahmen, kroch er zwischen zwei Stufen hindurch, auf deren anderer Seite er auf dem von Planken überdachten Balkenwerk eine Stelle zum behaglichen Ausstrecken fand.

Das Boot war unterdessen von der Treppe abgestoßen worden. Statt der Riemen die Arme gebrauchend, schoben die Ruderer es geräuschlos an dem nächsten Dampfer hin bis auf das freie Fahrwasser hinaus. Dort legten sie die Riemen ein, und mit der vollen Wucht ihrer Körper sich gegen dieselben lehnend, arbeiteten sie stromaufwärts.

Zu derselben Zeit erhob sich oben, nur zwei Schritte von der Treppe hinter einer Anhäufung von Kisten derselbe Mann, welcher den Flüchtlingen solange nachgefolgt war. Eine Weile blieb er lauschend stehen, solange, bis er sich überzeugt hatte, dass das Boot gegen die Strömung kämpfte.

»In der Missourimündung auf dem südlichen Ufer«, wiederholte er, wie um sie seinem Gedächtnis fester einzuprägen, die gehörten Worte vor sich hin. Eilig entfernte er sich. Sein Weg führte über die Stelle hinweg, auf welcher Fegefeuer verborgen lag.

 

***

 

Obwohl gegen die Strömung rudernd, brachten die vier Schwarzen das leicht gebaute Boot verhältnismäßig schnell vorwärts. Um einem weniger schweren Flutenandrang zu begegnen, steuerten sie zum linken Ufer hinüber, wo sie sich, durch eine weiter oberhalb liegende Biegung des Stroms bedingt, in ruhigerem Fahrwasser befanden. Bis dahin war, außer einzelnen, die Fahrt betreffenden Bemerkungen der Ruderer kaum ein Wort gefallen. Schweigend saßen Oliva und Nicodemo nebeneinander. Trotz des vorläufigen ungestörten Entkommens lastete es auf beiden wie eine böse Ahnung. Die Begegnung mit den feindlichen Spähern hatte ihnen einen Teil ihrer Zuversicht geraubt. Erst als sie das jenseitige Ufer erreichten, wo die Bewegung des Bootes beschleunigt werden konnte, St. Louis aber bald hinter ihnen zurückblieb, atmeten sie freier auf.

»Habt ihr nichts von unseren Sachen vergessen?«, fragte Nicodemo den vor ihm sitzenden Schwarzen, der mit der Kraft eines Titanen die wirbelnden Fluten peitschte.

»Nichts, Herr«, antwortete dieser wohlgemut.

»Nicht unsere Büchsen?«

»Alles wohl verstaut im Vorderteil. Außerdem Gewehre und Schießbedarf für uns. Tommy meinte, es seien böse Zeiten und es möchte sich Gelegenheit finden, ein paar Lot Blei einem verdammten Rebellen zwischen die Rippen zu jagen.«

»Hoffentlich kommt es nicht dazu. Zu trauen ist den Zeiten freilich nicht. Da gilt es, auf der Hut zu sein. Ich setze voraus, Tommy traf solche Vorkehrungen, dass wir im Fall der Not auf ihn zählen können.«

»Der schwarze Küster, bei dem ich‘ne Kleinigkeit lesen lernte, hätt‘s nicht feiner berechnen können. Er wäre gleich mit dem anderen Boot mitgekommen, aber die Angelegenheit mit diesem hier hätte zu große Eile, kalkulierte Tommy.«

»Wo werden wir morgen am Tag Rast halten?«

»Ein ordentlich Stück Wegs über die Hälfte der ganzen Fahrt hinaus.«

»Wird Tommy zu uns stoßen?«

»Tommy ist erstaunlich schlau. Er meinte, nicht anders, als wenn er gerufen würde.«

»Um so besser. Wir müssen den Schein bewahren, als ob die Boote nicht zusammengehörten. Der Teufel traue den Leuten, die auf diesem oder jenem Dampfer an uns vorüberkommen.«

»Ich denke, wir haben nichts mehr zu befürchten«, wandte Oliva sich nach einer längeren Pause des Schweigens in spanischer Sprache an Nicodemo.

»Wahrscheinlich nicht«, antwortete dieser, »vollständig sicher sind wir erst dann, nachdem wir von einem Missouridampfer aufgenommen wurden.«

»Das mag Tage dauern.«

»Nachdem wir in der Missourimündung landeten, keine zwölf Stunden. Fast täglich werden Kommandos nach Kansas City befördert, wo es in nächster Zeit blutig hergehen soll.«

Oliva antwortete nicht. Ihr Vertrauen in Nicodemos Umsicht war zu fest begründet, als dass sie fernere Fragen an ihn hätte richten mögen. Stunden verstrichen darauf wieder in Schweigen. Sogar den sonst so redseligen Schwarzen verging bei der schweren Arbeit die Lust zu den ihnen sonst so geläufigen wunderlichen Scherzreden. Der beinahe volle Mond hatte sich den östlichen Waldungen längst entwunden. Die oberen Luftschichten erhellend, sandte er die Uferschatten über das Boot hinweg. Die Atmosphäre war kühl und erquickend. Geräuschlos wälzten die vereinigten Wassermassen des Missouri und des Mississippi sich dem Golf von Mexiko zu. Was sollten sie auf diesem langen Weg begrüßen? Zerschossene Städte und Merkmale mit fast übermenschlichen Anstrengungen geschaffener Erdarbeiten, unternommen, um beinahe vergessene zugewucherte Seitenbette des Stromes wieder zu eröffnen und den schweren kriegsgerüsteten Dampfern zugänglich zu machen. Spaten und Axt hatten sich mit Feuer speienden Schlünden geeinigt, den Todesstoß vorzubereiten, welchen der Norden nach beinahe vierjährigem Ringen endlich dem aufständischen Süden versetzen sollte.

 

***

 

Stunde um Stunde verrann. Unabänderlich folgte das Boot unter den unermüdlichen Armen der schwarzen Ruderer seine glatte, aber beschwerliche Bahn. Der Osten rötete sich; lichter wurde es ringsum. Als die Sonne endlich den ersten Blick über die Uferwaldung hinweg auf den Mississippi warf, da war die Richtung, in welcher St. Louis sich erhob, nur noch an dem grauen Nebelstreifen erkennbar, der oberhalb der Stadt in der Atmosphäre lagerte. Und heller und goldiger spiegelte die höher strebende Sonne sich auf der breiten Wasserfläche. Wie erschien der gewaltige Vater der Ströme so vereinsamt, gleichsam ermüdet, im Vergleich mit früheren Tagen! Hin und wieder furchte wohl ein Dampfer mit fliegender Eile seine Bahn, allein das frische fröhliche Treiben eines nimmer rastenden Geschäftsverkehrs fehlte. Die vereinzelten pramartigen Flachboote dagegen, die unter der Führung rauer Gesellen träge der Strömung folgten, erzeugten kaum einen anderen Eindruck, als die Treibholzstämme, die mit ihnen desselben Weges zogen.

Um die Mitte des Vormittags landete das Boot endlich auf einer Stelle des Westufers, wo die beinahe undurchdringliche Urwaldung bis hart an dessen äußersten Rand reichte. Kaum noch ein Drittel der Entfernung bis zur Missourimündung lag dort vor den Flüchtlingen. Um die zu überwinden, bedurfte es zuvor einer längeren Rast. Bald darauf flackerte unter den Händen der Schwarzen ein kleines Feuer empor. Geschäftig regten sich die Hände, um von den mitgenommenen Vorräten ein Mahl zu bereiten.