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Diane Teil 1 – Kapitel 18

Alexander von Ungern-Sternberg
Diane
Ein Kriminalgemälde der modernen Gesellschaft
Berlin, 1842, Buchhandlung des Berliner Lesekabinetts

Achtzehntes Kapitel

Eine Person, der in dieser Geschichte keine unwichtige Rolle übertragen ist, tritt zum ersten Mal aus den Kulissen.

Zu den peinlichen Pflichten, welche Diane bei ihrer jetzigen Stellung übernommen hatte, gehörten die Besuche, welche die Künstlerin nicht empfangen wollte, statt ihrer anzunehmen. Derlei Ansprüchen musste sie öfters genügen. Ihre Gebieterin, wie alle Frauen, die in Mode sind, war launenhaft, und ihre Gunst deshalb sehr ungleich verteilt. Mancher betitelte Herr, der ihr nicht gefiel, machte vergebliche Gänge, seine Geschenke wurden nicht angenommen, und er selbst, wenn er nicht weichen wollte, teilte zuletzt das Schicksal seiner Gaben. Der Bediente hatte eine Liste, und eine gleiche führte Diane. Der Erstere öffnete die Tür, aber noch nicht die Tür ins Heiligtum. Zu diesem hatte nur unsere Heldin den Schlüssel. Wenn sie es gewagt hätte, einen Unwürdigen einzuführen, wäre ihr Sturz unvermeidlich gewesen. In die Zahl der Unabweisbaren gehörte ein Herr, der so ziemlich alles in sich vereinte, was für Frauen abschreckend ist. Er war hässlich, aber dies hätte ihn nicht verbannt; denn es gibt eine Hässlichkeit, die selbst über die Schönheit triumphiert. Aber er war von jener schmutzigen Hässlichkeit, der man es ansieht, dass sie alle Straßen der Gemeinheit, alle dunklen Ecken und Winkel der ekelhaftesten Genüsse durchpassiert ist, und der dazu noch der Stempel des Geizes, des Neides und der Habsucht ausgedrückt ist. Eine solche Hässlichkeit wird nie verziehen von einem Weib, das noch irgend Weibliches an sich hat. Der jungen Schauspielerin war dieser Herr Kriminalrat Liebfreund ein Gräuel. Sie konnte die Spitze seiner Nase nicht sehen, ohne Anwandlungen eines Ekels zu empfinden, der oft zwei bis drei Tage anhielt. Aber Herr Liebfreund ahnte hiervon nichts. Er glaubte, dass er unwiderstehlich sei. Am wenigsten fürchtete er, von einer Schauspielerin abgewiesen zu werden, er, ein reicher Junggeselle, der in der juristischen Welt einen Namen hatte, und von den Behörden, denen er seine Tätigkeit widmete, gehörig respektiert wurde.

Es war an einem Sonntagvormittag, als dieses Individuum sich einstellte und im Gesellschaftssalon weiter niemand fand, als die arme Diane, welcher anbefohlen war, ihn zu empfangen. Der Mann des Gesetzes war überrascht, ein junges schönes Mädchen zu finden, das er noch nicht kannte. Er betrachtete sie durch seine Brille mit Blicken, deren Sprache Diane zum Glück nicht verstand. Er setzte sich neben sie, und im Haus einer jungen Schauspielerin macht man nicht viel Zeremonien – nahm Dianes Hand in die seine und sagte scherzend: »Mademoiselle Herrmann tut recht, einen so artigen weiblichen Pagen in ihre Vorgemächer zu setzen. Wie geht es Ihnen, mein Kind? Welch eine warme, kleine, weiche Hand haben Sie!«

Diane entzog ihm die Hand.

»Oho!«, rief er. »Ich bin ein langjähriger Freund des Hauses, mir fällt von Rechtswegen alles Schöne zu, was sich in dessen Bezirk zeigt. Kleine Katze, nicht so spröde! Lassen Sie mich doch die Weichheit und Güte Ihres schönen Fells erproben.« Mit diesen Worten fuhr eine lange, dürre, mit Spuren von Schnupftabak und Tinte befleckte Hand auf die weichen Umrisse der schönen Schulter und des Armes. Diane, in ihrem kindlichen gehorsamen, unterwürfigen und unschuldigen Sinn, war weit entfernt, erzürnt zu sein. Auch wusste sie, dass es nicht schicklich wäre, ihren Widerwillen zu zeigen.

Sie sagte daher mit einem leichten Lächeln und Erröten: »Sie sind zu gütig, mein Herr.«

Der alte Faun lächelte, rückte, ohne ein Wort zu sagen, näher und spitzte seine welken Lippen zu einem Kuss. Aber hier hielt die gezwungene Artigkeit und natürliche Gutmütigkeit des armen Mädchens nicht länger stand. Sie bedeckte sich die Augen, um die langen, gelben Zähne des Mannes nicht zu sehen. Statt dem Mund entgegenzukommen, wandte sie sich weit davon ab, dass sie fast in die Kissen des Sofas sank. Aber gleich darauf fühlte sie, dass sie unhöflich gewesen war. Sich schnell wieder aufrichtend, sagte sie mit einem ihrer freundlichsten Blicke: »Entschuldigen Sie, lieber Herr, ich bin recht kindisch! Ich fürchte mich so.«

Der Kriminalrat war aufgestanden, nahm eine Prise und besah den Gegenstand seiner Aufmerksamkeit mit lächelnder Miene. Er zog seine Brieftasche hervor und nahm eine Visitenkarte heraus. Mit einem ganz besonderen Ausdruck übergab er diese dem Mädchen. Diane fühlte, als sie die Karte entgegennahm, dass noch ein anderes Papier damit verbunden war. Eine Banknote von fünf Talern glitt auf den Tisch. In diesem Augenblick entschlüpfte der Kriminalrat. Diane erreichte ihn an der Tür und gab ihm ernsthaft und völlig unbefangen die Note zurück. Er murmelte etwas, das sie nicht verstand.

»Nehmen Sie sich in Acht, lieber Herr«, rief sie ihm zu, »der Treppenpfeiler ist neu angestrichen. Ihr schöner Rock könnte Flecken bekommen.«

Der Rat sah hinauf, aber in seinem Blick lag nichts von Dankbarkeit. Der sanfte, unschuldsvolle Blick des Engels, der ihn bewachte, in dem Augenblick, wo er auf dessen Verderben gesonnen hatte, machte nicht den geringsten Eindruck auf seine Seele.

Der Kriminalrat kam nun nicht der Schauspielerin, sondern Dianes wegen, und das arme Mädchen, das sich zuletzt nicht zu retten wusste vor den ihr völlig unverständlichen Schmeicheleien und versteckten Anspielungen, gestand ihre Verlegenheit ihrer Gebieterin. Diese empfing zum ersten Mal nach langer Zeit den Herrn Kriminalrat persönlich. So kurz dieser Besuch auch dauerte, so hatte er doch die merkwürdige Folge, dass kein Billettchen mehr anlangte, der Mann des Gesetzes sofort von der Schwelle des Tempels der Priesterin Thaliens verschwand und nichts mehr von ihm gehört wurde. Diane atmete wieder auf. Ihr war, als ob ein Gespenst seine nächtlichen Besuche eingestellt hätte. Sie war nun wieder sich und ihren Gedanken ungestört hingegeben. Diese betrafen nur einen Gegenstand, und zwar ihren Beschützer, ihren Wohltäter. Nie war sein Bild, so lange ihr junges Herz zum ersten Mal selbstständige Gefühle gezeigt hatte, aus ihrer Seele gewichen. Seinetwegen hatte sie sich den Gefahren einer unruhigen Existenz unter Fremden preisgegeben, seinetwegen die ihren in Besorgnis und Angst gestürzt, und nun, welches waren endlich die Früchte dieser peinvollen Wochen und Monate? Ach! Nur Unruhe und Qual. Welches Ende war vorauszusehen? Sollte sie immer weiter von Haus zu Haus flüchten? Wie weit, wie leer, wie öde war die Welt! Und er, um dessentwillen sie litt, hatte sie vielleicht schon längst vergessen. Hätte er es nicht, so müsste er sie ja an jenem Abend erkannt haben, als er dicht an ihr vorüber schritt. Unmöglich war es, so dachte sie, dass Liebe und Liebe sich begegnen und sich nicht erkennen sollte. Und hatte er sie vergessen, war sie ihm völlig gleichgültig. Was galt ihr dann ein Leben, dessen kostbarster Inhalt entglitten war, dessen Zukunft ihr kein Interesse weiter einflößte? Diane war jetzt ein Jahr entfernt von den ihren. Sie beschloss, zu denselben zurückzukehren. Von Fräulein Annette Zobel hatte sie erfahren, dass unablässig Nachfragen angestellt wurden. Eines Morgens, es war der erste schöne Frühlingsmorgen, machte sie sich auf den Weg zum lang vergessenen Gasthaus Zum Schwan vor dem Halleschen Tor.

Sie erschien in dieser ihr einst so vertrauten Gegend völlig als Fremde. An der Trinkstube des Herrn Pädus wandelte sie vorüber, ohne dass dieser stattliche Gönner ihrer Jugend, der gerade vor der Tür stand, dieses Mal nicht in der roten Weste, da es nicht Sonntag war, die schlanke schöne Dame, in einem weißen flatternden Morgenanzug, über den ein Seidenmäntelchen geworfen war, erkannte. Diane blieb stehen und sah über den niedrigen Zaun in einen Garten hinein, den sie sehr gut kannte. Die Gänge waren dieselben, die winterlichen Bäume trugen noch kein Laub. Allein ein funkelndes, junges Grün, von der Frühsonne geküsst, begrenzte die dunklen, mit sorgsamen Fleiß geordneten Beete, in denen die Blumen des Sommers einst prangen sollten. Sie stand noch, als sie aus einem Nebengang einen jungen Mann hervortreten sah, dem einige ihm Untergeordnete folgten und von ihm Befehle annahmen. Diane erkannte Friedrich. Sie zog sich zurück und suchte eine Stelle am Gitter, wo sie unbemerkt stehen konnte. Friedrichs Gestalt und Wesen hatte sich verändert. Er sah nicht mehr so blühend und frisch aus, aber die Verzärtelung der vornehmen Welt, der verwöhnten Naturen, war dem jungen Gärtner fremd. Er gab seine Befehle so laut und geordnet, er sprach von seinen Blumen und Bäumen so anhaltend und besonnen, als ob nie ein anderer Gegenstand sich seines Interesses bemächtigt hätte. Das Geschäft und die Pflicht üben eine grenzenlose Gewalt auf den aus, der sich ihnen von Kindheit an unterworfen gefühlt hat. Diane stand nun vor dem kleinen Gasthaus. Welch ein Schrecken erfasste sie, als sie die Veränderung bemerkte, die hier vorgegangen waren. Die Fensterläden, selbst die des oberen Stockwerks waren geschlossen, ein Fall, der noch nie eingetreten war; denn Frau Sempel pflegte um diese Stunde mitten in ihrer tätigen Wirksamkeit für den Tag und dessen Sorgen sich zu befinden. Aber noch mehr entsetzte sich das arme Mädchen, als sie die Haustür verschlossen und ein großes Siegel daran befestigt fand. Eine dunkle Vorstellung stieg in ihr auf, dass dieses Siegel vom Gericht, und dass etwas sehr Düsteres, Entsetzliches, Niederschmetterndes hier vorgegangen sei. Erschöpft und ihrer Sinne kaum mächtig, setzte sie sich auf die kleine grüne Bank, dicht am Haus, und starrte auf die mysteriösen Hieroglyphen und Zerrbilder, mit denen eine spottsüchtige Jugend diese sonst wie ein Heiligtum rein gehaltene Tür bemalt hatte. Die Blumen des Gärtchens waren zertreten, das Gitter des Zauns war beschädigt, und selbst der weiße Schwan hatte die Unbill erfahren, dass sein Flügel durch manchen schmutzigen Wurf von der Straße her verunreinigt worden war. Es war ein erschütternder Anblick, diese Leere, Stille und grausame Zerstörung an einem Ort herrschen zu sehen, den früher reger Fleiß und gemütvolle Heiterkeit belebt hatte. Was war aus dem Gasthof Zum Schwan vor dem Halleschen Tor geworden. Welch ein Geschick hatte seine Eigentümerin betroffen?

Diane stand auf, trocknete ihre Tränen und trat wieder an das Gitter des Gartens. Diesmal wollte sie Friedrichs Aufmerksamkeit auf sich lenken, und es gelang ihr bald. Der junge Gärtner stieß einen lauten Schrei aus, als er das weiße, wehende Kleid am Gitter bemerkte und seine Freundin erkannte.

»Um Gottesch willen, Mamschell Sempel, wo kommen Sie her?« Mit diesen Worten stürzte er auf die kleine Pforte zu, die zu der Straße ging, und stand im Nu neben Diane. Diese zeigte stumm auf das Haus, das sie eben verlassen hatte. Die dunklen schönen Augen des Jünglings waren mit einem eigenen Ausdruck von Mitleid, Schmerz und Liebe auf die Züge des Mädchens geheftet. Ohne ein Wort zu sagen, nahm er sie heftig beim Arm und zog sie in den Garten unter den Schatten eines kleinen Pavillons hinein. »Liebe Mamsell«, flüsterte er hier, »warum haben Schie uns den Schmerz gemacht, so böschlich zu entlaufen, und warum kommen Schie just wieder heim, wo so viel Gefahr für Schie ist?«

»Weshalb, Herr Neuner, weshalb?«

»I, das wischen Schie nicht? Madame Sempel ischt seit drei Tagen ins Gefängnis geschleppt worde …«

»Um Gotteswillen, was hat sie denn verbrochen?«

»Niemand weisch das. Herr Pädus und ich sind selbst beim Herrn Polizeileutnant gewäse, aber man hat uns nischt gesagt …«

»O Himmel, über dieses Unglück!«

»Das gröschte Unglück ist«, stammelte Friedrich weiter, »dass man nun nach Ihnen auf der Jagd ischt, Mamsell. Aber so lang ich lebe, soll niemand Ihnen ein Haar krümme. Verstecke Schie sich in diesem Pavillon, ich will Schie bewache Tag und Nacht.«

Er zog das weinende Mädchen hinter sich in den dunklen Raum des kleinen Häuschens, das mit leeren Blumentöpfen und Gärtnergerät aller Art angefüllt war. Hier führte er sie zu einer Bank, säuberte diese vorher sorgfältig mit seinem Taschentuch und zwang sie dann, darauf Platz zu nehmen. Er setzte sich neben sie. Und da das Unglück Mut gibt, legte er seinen Arm anfangs leise, dann immer herzhafter um ihren schlanken Leib. Die schlaflosen Nächte, die Sorgen und die Qual eines ganzen Jahres wog dieser einzige Augenblick auf; allein die Seligkeit sollte nicht lange dauern. Drei harte Schläge an die Tür verkündeten einen stürmischen und unabweisbaren Besucher.

»Schicht!«, lispelte Friedrich und legte den Finger auf den Mund, »wir wollen uns ganz ruhig verhalten. Es wird mein Herr sein, der mich sucht.«

Aber die Schläge an der Tür wurden mit verdoppelter Stärke wiederholt. Eine Stimme ließ sich vernehmen, deren Klang alles Blut aus den Wangen des armen Gärtners scheuchte. »Es tscht der Genschd’arm!«, rief er, indem er aufstand. »Aber lassen Schie ihn komme, er soll seinen Mann an mir finde.« Mit diesen Worten entwand sich der junge Gärtner den Armen, die sich an ihn klammerten, um ihn zurückzuhalten. Wirklich stand draußen einer der Fänger der Gerechtigkeit. Er war in diesem Stadtteil zu Hause, hatte Diane erkannt, als sie auf der Bank vor dem Gasthaus saß, und war ihr hierher nachgeschlichen. Nach der Verabredung sollte die Verfolgte sich hinter einen abgestorbenen persischen Fliederbusch verstecken. Allein ihr weißes Kleid schimmerte deutlich hervor und wurde von dem Gendarm sogleich bemerkt, als er die Tür aufriss und gebieterisch eintrat. Es entstand nun ein Kampf des Gärtners mit dem Diener der Gerechtigkeit.

Friedrich entwickelte Riesenkräfte. Es war ihm schon gelungen, den dreimal stärkeren Polizeisoldaten von der Tür wegzudrängen, um Diane Raum zur Flucht zu lassen, als vom Garten her mehrere laute Stimmen hörbar wurden. Der Prinzipal und zwei der Unteraufseher, von dem Tumult im Pavillon angelockt, kamen herbei. Das Erste, was sie erblickten, war Friedrich, der mit zerrissener Weste und durch die Faustschläge seines Feindes blutend im Gesicht, dastand und den riesengroßen Soldaten in eine Ecke gedrängt hielt. Der gefangene Gendarm erhielt durch den anrückenden Ersatz neue Kräfte, und der Gärtner musste der verdoppelten Macht weichen. Diane wurde ausgeliefert, und Friedrich stand zitternd und leichenblass, als sie an ihm vorübergeführt wurde.

»Lasst misch mit ihr gehen! Führt misch auch ins Gefängnis!«, schrie er, dem Soldaten in den Weg springend. »Isch hab’ mich an Euch vergriffen, billig ischt’s, dass isch auch gefangen werde.«

»Nicht mehr, wie billig!«, entgegnete der Gendarm, indem er seine Kleidung ordnete und die herabgefallene Mütze aufsetzte. »Ihr folgt mir auf die Wache.«

In Friedrichs Antlitz kehrte die Röte zurück. Er ergriff die Hand Dianes und schritt stolz am Prinzipal und dem ganzen Gartenpersonal vorüber, das sich bei diesem ungewöhnlichen Auftritt versammelt hatte und manches sorgfältig geordnete Blumenbeet zusammentrat. Der Zug ging am verschlossenen Gasthaus vorüber. In der Entfernung sah man Herrn Pädus und seine zwei Ladengehilfen, staunend und erschreckt, den Fortziehenden nachblicken.