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Diane Teil 1 – Kapitel 16

Alexander von Ungern-Sternberg
Diane
Ein Kriminalgemälde der modernen Gesellschaft
Berlin, 1842, Buchhandlung des Berliner Lesekabinetts

Sechzehntes Kapitel

Eine Schriftstellerin

Auf einer kleinen Porzellantafel stand in sehr zierlichen Schnörkeln der Name: Fräulein Annette Bebel angeschrieben. Hierher hatte die Magd Diane gewiesen. Die Tür wurde geöffnet, und zwar von der Besitzerin dieser anspruchslosen Räume selbst. Eine kleine, sehr magere Dame, mit einem paar großen, freundlichen Augen, stand vor unserer Heldin und fragte mit einer sehr weichen, zarten Stimme, was sie begehre.

Diane meldete ihr Anliegen. Während sie sprach, neigte das Fräulein leise und billigend das Haupt.

»Mein Kind«, sagte sie endlich, »Ihr Äußeres verspricht sehr viel. Ich denke, ich kann Sie geradezu eintreten heißen. Seien Sie willkommen, liebe Kleine.«

Diese Stimme, die sanfteste, die wohl je aus einer Menschenbrust tönte, dünkte die arme Vertriebene ein Ruf vom Himmel zu sein. Die Freude verschönte und belebte ihr zartes Gesicht, als sie in ein niedriges, aber sehr zierliches Zimmer trat und von ihrer künftigen Gebieterin darin nochmals, und zwar förmlich. begrüßt wurde. Alles atmete hier auch Ruhe, aber wie verschieden war diese Ruhe von der vornehmen Kälte und Erstarrung in dem Palast, den sie eben verlassen hatte. Hier waltete die Stimme eines liebenden Herzens, eines beschränkten, aber des ewigen Friedens nicht baren Lebens. Während Diane noch die Blumen und Vögel betrachtete, die an den Fenstern aufgestellt waren, und durch welche die Sonnenstrahlen spielten und den braunen, sorgfältig gebohnerten Fußboden glänzend erhellten, blickte das ältliche Fräulein sie fortwährend innig forschend an.

»Gefällt Ihnen mein Haus, mein Kind?«, fragte sie endlich.

Als Diane sich zu ihr wandte, drückte sie die Hand des jungen Mädchens zärtlich mit ihren kleinen, mageren Händen. »Ich wusste es wohl«, setzte sie, vor sich hinsprechend, hinzu, »heute, da es mir gelang, den schönen Gedanken in seiner ganzen poetischen Fülle wiederzugeben, konnte mir nichts Widriges zustoßen, sondern mir nur freundliche Sterne leuchten!« Sie führte die neu Angekommene noch durch ein paar kleinere Zimmer, die ebenso freundlich und in bescheidenem Putz glänzten. Dann nahm sie Dianes Zeugnis und entfernte sich damit in ihr Kabinett. Dort blieb sie sehr lange, und unsere junge Heldin fürchtete schon, dass sie von ihrer neuen Wohltäterin gänzlich vergessen sei, denn die Mittagstunde kam heran, und die Tür öffnete sich nicht. Diane nahm aus ihrem Körbchen eine Arbeit zur Hand, setzte sich an eines der Fenster und nähte fleißig, während die größte Stille um sie herrschte. Die Wanduhr im Nebenzimmer wiederholte ihren knarrenden Sekundenschlag in ununterbrochener Ruhe, der zwitschernde Gesang der Kanarienvögel aus dem dritten Zimmer und dazwischen der Ruf eines kleinen, grauen Waldvogels, den Diane nicht kannte, waren die einzigen Töne von lebenden Wesen, aber sie waren auch so eigentümlicher Art, dass sie nur in diese Umgebung zu passen schienen.

Um ein Uhr wurde an der Klingel gezogen, und der Aufwärter des nahen Gasthofs brachte das Mittagsmahl, das aus wenigen Schüsseln bestand, und auf dem runden Tisch vor dem Sofa aufgestellt wurde. Der Überbringer dieser duftenden Schätze sah Diane mit der Aufmerksamkeit an, wie man eine neue Erscheinung anblickt. Er näherte sich ihr und fragte: »Entschuldigen Sie, Sie sind wohl das neue Kammermädchen?« Als Diane dies bejaht hatte, setzte er hinzu: »Dann werden Sie das Fräulein jetzt wecken müssen.«

»Sie schläft also?«, fragte Diane verwundert.

»Das eben nicht…«, antwortete der Diener, »aber sie schriftstellert jetzt, und da ist sie wie im Traum. Ich muss immer, sobald das Mittagbrot auf dem Tisch steht, dreimal, und zwar recht stark an die Tür des Kabinetts pochen, um ihr anzuzeigen, dass es Zeit ist, die Feder niederzulegen. Jetzt, da Sie hier sind, Jungfer, können Sie es tun.«

Mit diesen Worten entfernte er sich, und Diane folgte nicht ohne eine kleine Bangigkeit seiner Vorschrift. Als sie angepocht hatte, ließ sich ein leiser Ton innen vernehmen, und bald darauf trat die Dichterin hervor. Aber welche Veränderung zeigte ihr Wesen! Nichts von Güte, Freundlichkeit oder Teilnahme lag in ihrer Miene, sie ging an Diane vorüber, ohne sie im Geringsten zu beachten. Als sie am Tisch saß, war ihr Auge starr auf einen Punkt gerichtet. Ihre Hände beschrieben seltsame Kreise und Figuren in der Luft. Diane hätte sie gern angeredet, und nach dem Urteil, das sie über das Zeugnis fällte, gefragt; allein sie wagte es nicht, und das Mittagsmahl ging peinvoll für die Schweigenden vorüber. Die Speisen wurden kaum berührt, denn das unheimliche Betragen hatte Diane den Appetit vertrieben. Als sie einen Dessertteller ergriff, und ihrer Gebieterin einen Apfel anbot, trafen sie die rollenden Augen der Dame, und eine nicht minder furchtbare Stimme rief: »Wissen Sie auch, dass ich für diesen Verrat Sie bitter bestrafen werde? Kein Wort! Ich will nichts hören! Keine Entschuldigung, Sie sind eine Elende!«

Diane ließ den Teller fallen und brach in Tränen aus. Sie wollte sich entfernen, als sie etwas rasch hinter sich her huschen hörte und in diesem Augenblick beide Arme der Dichterin sie umfassten.

»Um Gotteswillen, liebe beste Kleine, habe ich Ihnen weh getan?«, rief dieselbe sanfte Stimme von heute Morgen. Sich umschauend blickte die Erschreckte auch in dieselben sanften Augen, welche dieses Mal einen bekümmerten aufgeregten Ausdruck hatten. »Meine vielfältigen Träumereien! Wie oft haben sie mich schon Torheiten begehen lassen! Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir, ich will Ihnen alles erklären.«

Sie führte Diane zum Sofa und nötigte unter Liebkosungen ihr die besten Leckerbissen auf; dann sagte sie lächelnd: »Sie müssen wissen, dass ich eine Art Mondwandlerin bin, nur dass mein Mond auch am Tag scheint. Wandelt nämlich durch die Nacht meiner ärmlichen Existenz irgendeine große, schöne, leuchtende Idee, irgendeine liebliche, zauberische Phantasie, so muss ich aufstehen, alles um mich her liegen lassen und wandle dann auf den spitzen Dächern, auf den Kuppeln und Türmen einer geträumten Welt. So war ich auch heute mitten in meinem Roman und hatte Sie, meine kleine Freundin, und die ganze Welt um mich her vergessen. Als Sie mir nun den Apfel reichten, sprach ich jene bitteren Worte aus, die ich eine hart bedrängte Fürstin zu ihrer treulosen Freundin sagen lasse. War es ein Wunder, wenn ich Sie bis auf den Tod erschreckte? Geben Sie mir Ihre Hand, ich bin jetzt wieder eine gutmütige alte Frau, die nichts weniger als ihre Untergebenen kränken oder beleidigen will.«

Diane war vollkommen versöhnt, und der übrige Teil des Tages verging äußerst friedlich. Die Dichterin nahm sich am folgenden Tag mehr in Acht, aber einige Tage später machten Diane die wunderlichen Auftritte wiederum viel zu schaffen. Da der Roman immer düsterere Färbung annahm, so wurde seine Schöpferin auch immer schroffer und abweisender. Zuletzt wütete sie vollkommen und kam, wenn ihre junge Dienerin schüchtern angeklopft hatte, wie eine rasende Medea aus ihrem Kabinett hervorgeschossen. Diane dankte dem Himmel, als endlich der Roman zu Ende war, und ihre Gebieterin, als sie die letzten Bogen geschrieben hatte, wieder so mild und freundlich wurde, dass sich ihr das ganze Herz des jungen Mädchens öffnete.

»Ich habe jetzt«, sagte Fräulein Annette Zobel, »für einige Zeit Ruhe, da ich nicht so bald wieder an eine neue Produktion gehen werde, und da wollen wir recht vertraulich zusammen sprechen und kosen.«

Und so war es auch. Die alte Schriftstellerin teilte freimütig ihrem Liebling alles nur irgend Merkwürdige aus ihrem Leben mit. Dann forderte sie Diane zu gleichen Bekenntnissen auf. Unsere Heldin machte kein Geheimnis aus ihren früheren Schicksalen. Die Fantasie der Dichterin wurde ungewöhnlich gespannt, als sie die einfache Erzählung ihres Schützlings anhörte.

»In der Tat, mein Kind«, sagte sie, »das ist sehr sonderbar! Du kennst Deine Eltern nicht, du wirst von der Straße aufgehoben, ein junger Offizier wird dein Pflegevater, eine Gastwirtin nimmt dich auf und erzieht dich zu ihrem eigenen Gewerbe; junge, lockere Zeisige stellen dir nach, zwingen dich zur Flucht, und endlich gelangst du hierher. Dies alles ist nichts weniger als der gewohnte Lauf der Dinge. Es ist mir lieb, dass du aufrichtig gegen mich gewesen warst. Ich bin, wenn ich in deine Augen schaue, fest überzeugt, dass du mir die Wahrheit gesagt hast. Ei, ei, lass sehen, wie und was sich in dieser Sache wird machen lassen. Ich will einmal dein Leben wie einen Roman betrachten, den ich bis hierher geschrieben habe und zu dem ich nun einen genügenden Schluss finden muss.«

Diane wusste nun, da ihre Beschützerin diese Angelegenheit so nahm, dass nichts von ihr zu hoffen sei. Tatsächlich verfiel die Dichterin auch sofort in Träumereien, in welchen sie ihre junge Pflegebefohlene in allerlei mögliche und unmögliche Situationen brachte und zuletzt gar nicht mehr daran dachte, dass sie es mit einem wirklichen Wesen zu tun hatte.

Dianes Herz wurde schwer. Sie sah in dieser Einsamkeit niemand, der sie an das erinnert hätte, was sie verlassen hatte. Sie hörte auch nicht die entfernteste Kunde von ihren Lieben. Freiwillig war sie in die Verbannung gegangen, aber sie hatte nicht geglaubt, dass diese so bitter sei. Oft stand sie stundenlang am Eckfenster, wo zwei Straßen sich kreuzten, immer hoffend, in einem der Vorübergehenden einen Bekannten zu finden, allein vergebens. Die Stadt ist so groß und die Teile derselben, wo sie früher gelebt hatte und wo sie sich jetzt befand, lagen so weit ab, dass die Bewohner dieses einsamen Viertels schwerlich in großen Verkehr mit den besuchteren Gegenden kamen. Was musste die gute Mutter Sempel von diesem unbegreiflichen Verschwinden denken? Wie großen Kummer wird der arme Kandidat leiden, der ihr das heilige Versprechen abgenommen hatte, nie etwas ohne sein Wissen zu unternehmen. Aber alle diese Vorwürfe schlug das Bewusstsein nieder: Er ist sicher! Ihn stürze ich nicht mehr in Gefahr! Das ist ja alles, was ich wollte! Das arme Kind vergoss Tränen, indem sie sich diesen Trost zusprach. Die Spaziergänge, die sie in Begleitung ihrer Gebieterin machte, erstreckten sich nie weiter, als bis vor das nahegelegene Tor und in einen kleinen Baumgang, der sehr ruhig und abgelegen war. Hier kannte sie jeden Baum, denn unzählige Male war sie hier auf- und abgewandelt, bald ihren eigenen Gedanken lauschend, bald der Dichterin zuhörend, die ihr von Welt und Menschenleben auf die beschränkte Weise sprach, wie sie beides ansah, denn sie hatte wenige und fast gleichgültige Erfahrungen gemacht. Aber je mehr ihr das wirkliche Leben fremd war, desto mehr schwärmte ihre Fantasie. Eine von rotem Duft angehauchte Abendwolke konnte die zarte Seele der kleinen Dichterin in, der Himmel weiß, was für ferne Welten tragen.

»Ich habe nie geliebt«, sagte sie eines Abends zu ihrer stillen Begleiterin. »Ich weiß durchaus nicht, was ein zärtliches Verhältnis zu einem Mann zu sagen hat, und dennoch, welch eine Fülle von Liebe bewegt mein Herz! Diese Liebe ist aber gewissermaßen verteilt und zersplittert. Die Welt und ihre geheimnisvolle Bedeutung regt ewig neu ein von Liebe durchdrungenes Nachdenken bei mir an. Ich sinne und staune und kann meines schwärmenden Entzückens kein Ende finden. Wenn ich Leute sprechen höre, die sich satt und voll Unbehagen von der Welt abwenden, so kann ich nicht begreifen, was sie denken und empfinden. Für mich bringt jeder Morgen etwas Neues, noch nie Dagewesenes. Ich fühle mit jeder Stunde, dass Pflanze, Tier und Mensch in ein anderes Verhältnis zu mir treten und neue unerhörte Ansprüche auf meines Teilnahme machen. Kaum glaube ich hier abgeschlossen zu haben, so knüpft sich dort wieder etwas Neues an, und ich werde von einem Interesse ins andere hinein gehetzt. Sieh einmal jenen Stern dort oben, Diane. Meinst du nicht, dass er begründete Ansprüche auf mich macht? Er funkelt heute nicht so wie gestern. Entweder er oder ich müssen uns in diesen vierundzwanzig Stunden, die wir uns nicht gesehen, verändert haben. Das ist nur die kurze Spanne eines Tages. Wie wird sich erst unser Verhältnis gestalten, wenn hundert Jahre von heute an dahingegangen sein werden? Es bleibt nichts stehen, und darum müssen wir immer gefasst sein, dass irgendeine fremde Existenz in die unsrige hineinwächst, die sich schon lange angemeldet hat, die wir aber nicht beachtet haben, weil wir zu sorglos fortleben und immer denken, ein Tag sei so wie der andere.«

Wer die Dichterin so sprechen hörte, begriff, dass sie ein ganzes Leben so einsam hinleben konnte und sich nie nach Veränderung sehnte. Anders aber war es mit dem jungen und stürmischen Herzen ihrer Vertrauten. Es war ganz der Wirklichkeit zugewendet. Wenn ein heftiger Schritt hinter ihr ertönte, wenn ein Sporn erklang oder eine Degenscheide klapperte, so stockte das Blut in ihrem Herzen und alle idealen Welten der Dichterin zerfielen vor ihr in Staub. Und wie konnte es anders sein? Das Leben gehört dem Leben an, der Traum dem Traum.

Drei Monate hatte Diane in dieser Stille und Einsamkeit hingebracht. Es war tief im Winter, als ihre Gebieterin sie eines Tages überraschte, indem sie ihr den Vorschlag machte, einen der Vergnügungsorte der Stadt zu besuchen.

»Ich komme in meinem neuesten Werk«, bemerkte die Dichterin, »an die Beschreibung eines Balles. In der Vorratskammer meiner Fantasie sind so wenig Ballanzüge und in mein Ohr klingt keine jener frivolen Melodien, die dazu nötig sind, mich in jene Situation, die ich schildern soll, zu versetzen, dass ich notgedrungen die Wirklichkeit aufsuchen muss. Lass uns also, liebes Kind, diesmal zusammen Studien machen, Dir wird ein Tänzchen wohltun und mir wird wohltun, dich tanzen zu sehen. Ich denke, wir gehen heute Abend ins Kolosseum

Diane erschrak über diesen Vorschlag. Tausend Befürchtungen drängten sich mit einem Mal in ihre Seele. Sie hatte noch nie einen Ball in jenem bezeichneten Ort mitgemacht. Frau Sempel hatte ihre Gründe, dieses stets zu verhindern, denn sie wusste, dass es dort manches Mal etwas zu lebhaft herging und dass es der Sammelplatz vieler junger Herren war, die ihre Netze auswerfen. Die Dichterin jedoch ahnte von dem allen nichts. Sie bekämpfte die Weigerungen ihrer Pflegebefohlenen siegreich. Um acht Uhr hielt ein Mietwagen vor der Tür, in den Diane zitternd einstieg und an der Seite ihrer geschmückten Gebieterin Platz nahm. Fräulein Annette Zobel hatte ein kleines blaues Hütchen, etwas verblichen und etwas zerdrückt aufgesetzt, ein seidenes Kleid und einen Schal mit bunter Borte, dazu Handschuhe aus der Farbe der Eidotter. Diane prangte in einem schneeweißen Kleid, über das ein florartiger duftiger Überzug geworfen war, ein Geschenk von der Frau von Löwenhoff, ebenso die weiße Kamelie, die in ihrem dunklen Haar sich halb versteckte. Ein kleines Bouquet hatte der Portier des Nachbarhauses ihr besorgt und enthielt einige grüne Sprösslinge aus einem Treibhaus und eine kümmerliche kleine Rosenknospe; dennoch eine große Seltenheit in dieser Jahreszeit.

Hochklopfenden Herzens stieg unsere Schöne aus und gelangte durch eine Straße mäßiger Gaffer in das erleuchtete Haus. Man bezahlte an der Kasse die üblichen zehn Silbergroschen. Nun öffnete sich das ersehnte Paradies. Diane erstaunte über die Höhe und die Pracht des großen Tanzsaals. Die Töne der Geiger, die eben erst stimmten, erschütterten ihre Nerven und machten sie bald erbleichen, bald erröten. Es erschien ihr alles in seltsamer Pracht und Erhabenheit. Die ehrlichen Handwerkertöchter, die Schar der Näherinnen und vornehmere Klasse von Dienstmägden, die in ihrem Putz steif an den Wänden herumsaßen, erschienen ihr wie Prinzessinnen, manche sogar wie überirdisch Feen. Sie bemerkte nicht, dass sie selbst als eine solche erschien unter der Menge der plumpen, geschmacklos geputzten Gestalten. Sie bemerkte nicht, dass ein Schwarm junger Herren, mit den Lorgnetten vor den Augen, ihr folgte, und das ein Geflüster hinter ihr erklang, das immer lauter und kühner wurde. Nun tanzte man die Polonaisen, eine friedliche Gattung von Tänzen, bei denen man paarweise den Saal durchwandelt. Sie sind geschaffen, um schüchterne junge Gemüter miteinander bekannt zu machen, ehe der Strudel des Walzers oder die Entzückungen des bachantischen Galopps sie zusammenwürfeln. Bald schwebte auch unsere Heldin an der Hand eines jungen Ritters der Nadel, der einen wunderbar gekräuselten Kinnbart vorwies, die Reihe dahin. Die zweite Polonaise wurde einem Chevalier der Pfeffertüten, und die dritte einem blonden Jüngling des Kattunladens zugesagt. Die Dichterin stand an der Balustrade einer Loge und sah mit großer Befriedigung die hübsche Figur, die ihre Kleine machte. Die rollenden majestätischen Klänge der Polonaise verstummten und ein kapriziöser hüpfender Takt wurde vom hohen Balkon, wo das ernste Personal der Musikgötter Platz genommen hatte, angeschlagen. Sogleich wurde mehr Leben im Saal. Die in Fracks und Überröcken maskierten Leutnants mischten sich jetzt unter die Söhne des Erwerbes‹ und fischten mit graziöser Unverschämteit diesen die leichtfüßigsten und lebhaftesten Schönen hinweg. Die schlanke biegsame Taille eines Kornetts verleugnet sich auch unterm Überrock nicht, die nachlässig umgeworfene Kravatte zeigt an, dass man nicht nötig achtet, sich zu putzen, und der zerrissene Handschuh, der eine feine Hand und einen kostbaren Ring sehen lässt, übt stärkere Anziehungskraft als die ängstliche Toilette eines armen Verschämten und verlegenen Burschen. Die jungen Leutnants walzen mit ihren flatternden im Sturm eroberten Nymphen keck voraus, und hinten nach zieht sich der lange Schwarm der anderen Tänzer. Hier gibt es Paare, die eine geheime Neigung zusammenführt. Die junge Näherin mit zerstochenen Fingern und dem verblühten Lächeln auf den durch Arbeit gebleichten Wangen, ruht hier glücklich in den Armen des Jünglings ihrer verschämten Wahl, des hübschen Kellners, der ihr im verschwiegenen Nebenzimmer Punsch und Küsse serviert und ihr von seinen Hoffnungen und seinen Trinkgeldern vorlispelt. Ach, auch er ist nicht sicher. Einer jener räuberischen Kornetts dringt in das Zimmer, fächelt sich mit einem parfümierten Schnupftuch Luft zu und engagiert die Geliebte des armen Jungen, der nicht zu widersprechen wagt und einsam bei den Resten des Punsches zurückbleibt.

Welche Wonne hob Dianes Busen, als sie zum ersten Mal in ihrem Leben von einem geübten Tänzer geführt, in einem raschen Walzer dahinflog. Wie Götter durch eine Wolkenspalte auf die Erde blicken, so sah sie zwischendurch auf die Loge und das rote aufgeregte Gesicht der Dichterin, die darin Platz genommen hatte. Als ihr Tänzer sie zurück auf ihren Platz führte, fragte er, indem er ihre Hand drückte, ob der Tanz ihr Vergnügen mache.

»Das größte von der Welt«, antwortete Diane und erwiderte in ihrer kindischen Freude den Druck der Hand herzlich. Der Herr lächelte, sah sie spottend an und entfernte sich. Sie saß jetzt unter einer Menge Tänzerinnen, die so, wie sie, erschöpft ausruhten. Ihre Nachbarin, die lange stillschweigend die Kamelie betrachtet hatte, fragte sie nun mit einer Miene von Teilnahme nach ihren Namen. Diane nannte ihn und zeigte zugleich auf ihre Begleiterin.

»Wie viel haben Sie für die Madame bezahlt?«, fragte sogleich die Nachbarin. Als Diane auf ihre Frage nichts zu erwidern wusste und staunend die Fragende anblickte, sagte diese ungeduldig: »Nun ich meine, was zahlen Sie Miete für ihre Mutter, die da oben sitzt?«

»Für meine Mutter? Miete?«

»Oder Tante, gleichviel unter welchen Namen die Alte mit Ihnen geht. Aber sie wird teuer sein, da sie ein seidenes Kleid trägt und einen Hut auf dem Kopf. Ich bezahle für meine Mutter nur zehn Silbergroschen, aber dafür ist es auch eine billige Mutter, die nur ein Kattunkleid trägt. Ich hätte eine haben können mit Handschuhen und einer Tocque, aber man forderte zu viel, und mein Galan wollte das nicht zahlen, da er ohne dies Butterschnitte und Tee außer dem Abendessen für mich herschaffen will.«

»Aber meine Liebe!«, rief Diane und fasste die große schwitzende Hand ihrer Nachbarin, »ich begreife von dem allen nichts. Was wollen Sie mit Ihrer gemieteten Mutter sagen?«

»Nun«, entgegnete die Gefragte und warf den Kopf in den Nacken, »sind Sie denn so neu auf diesen Bällen? Ein armes Mädchen, das keine Begleiterin hat, muss sich eine mieten, denn allein in den Saal zu treten schickt sich nicht. Da gibt es nun alte Haushälterinnen, die zusammen eine zerlumpte Garderobe halten und sich als Mütter und Tanten zu diesen Gelegenheiten vermieten. Wer recht groß tun will, mietet sich auch einen Vater, und ich kenne Mädchen aus meiner Nachbarschaft, die die Kosten nicht scheuten und zu ihrer Mutter mit einem seidenen Kleid noch einen Vater mit einem Regenschirm mieteten. Allerdings sehr teuer, aber auch sehr vornehm. Man kann einem solchen Mädchen dann nichts Unehrerbietiges nachsagen. Ich bin zu arm, mein Wochenlohn wirft es nicht ab, und ich muss den ganzen Winter mit der kattunenen Mutter vorliebnehmen. Dort sitzt sie und schläft, ich will nur sagen, dass man ihr ein Glas Rum hinaufbringt.«

Diane fand in dieser ganzen Auseinandersetzung viel Auffallendes, doch getraute sie sich nicht eine so welterfahrene Dame, die mit so viel Sicherheit sprach, ihre tadelnden Bemerkungen über das Mieten so naher Verwandten mitzuteilen. Sie schwieg also und bald darauf tat die Nachbarin noch eine Frage: »Entschuldigen Sie, mit wem haben Sie getanzt?«

»Ich kannte ihn nicht.«

»Er war nicht übel, allein ich kenne Bessere«, fuhr die Nachbarin fort. »Was mich betrifft, so tanze ich gern mit Unteroffizieren. Sie haben eine stattliche Haltung und man sieht vornehm aus. Ich zahle einem recht großen schönen Unteroffizier zwei Silbergroschen. Das ist allerdings viel Geld, allein man will doch immer eine reputierliche Figur bilden. Ich tanze sehr schön und mache sehr ausgewählte Pas, wie Sie bemerkt haben werden.«

Die Unterhaltung wurde unterbrochen, denn die Musik forderte zu einem Contretanz auf. Eine Française zu tanzen, ist nicht jedermanns Sache. Es ist ein verzweifelt künstlicher und schwieriger Tanz. Die meisten jungen Pagen der Nadel und der Pechleiste erkannten das Unzulängliche ihrer Tanzkunst und traten ab, um den kühnen Rittern der Elle den Kampfplatz zu überlassen. Diane hatte einem solchen ihre Hand gereicht, und die künstlichen Verschlingungen nahmen ihren Anfang. Bei ihrem ersten Erscheinen hatte der Taumel der Tanzlust unsere junge Heldin so umschwirrt, dass ihre Befürchtungen, einen ihrer Verfolger oder Bekannten auf dem Ball zu finden, ganz verstummt waren. Nun, da sie ruhiger geworden war, ihre Gegenüberstehenden musterte und manches dunkle Auge mit forschender Neugier auf sich gerichtet sah, befiel sie eine beklemmende Angst. Sie wäre, wenn dies gegangen wäre, sehr gern aus den Reihen getreten, um den Saal schleunigst zu verlassen. Die künstlichen Sprünge ihres Tänzers, der bald in einem lebensgefährlichen Schwung in die Höhe flatterte, bald an der Erde wegglitschend nur mit Mühe das Gleichgewicht bewahrte, vermochten nicht ihre Gedanken von der heimlich erwachten Furcht zu entfernen. Sie wagte nicht ihre Blicke zu erheben und schwebte mit gesenkten Augen und hochroten Wangen dahin, wie eine junge Fee, die gegen das Verbot des Feenkönigs, sich unter die rohen Haufen der Sterblichen gemischt hat und nun zitternd ihr Unrecht einsieht. Nur wenige Minuten vergingen und ihre Befürchtungen machten sich wahr. Sie fühlte ihre Hand stürmisch ergriffen und gedrückt. Als sie aufschaute, blickte sie in Friedrichs treue und vor Freude blitzende Augen.

»Ischts möglich! Mamsell Sempel! Schi hier?«, rief der junge Schwabe, aber er musste die Hand loslassen. Der Tanz gebot es, aber von seinem Platz aus hielt er über die Wiedergefundene ängstlich Wache. So erschreckt Diane war, so konnte sie doch nicht umhin zu bemerken, wie hübsch der junge Gärtner heute war. Sein Anzug war der eines nachlässigen jungen Dandy des Handwerkstandes. So tanzte er auch oder ging vielmehr nur, denn seitdem sein Blick das geliebte Mädchen getroffen hatte, war es ihm unmöglich, noch auf irgendetwas anderes außer sie zu achten. Diane fasste schnell ihren Entschluss. Sie entfloh aus den Reihen der Tanzenden, suchte ihre Beschützerin auf und bat diese dringend, mit ihr sogleich den Saal zu verlassen. Fräulein Annette hatte nichts dagegen, sie sehnte sich schon lange nach ihrem ruhigen Zimmer. Beide Frauen entschlüpften auf einer Seitentreppe unbemerkt. Dies glaubte wenigstens Diane, allein Friedrich war nicht zu täuschen. Aus der Weise, wie hier der Gruß aufgenommen wurde, merkte er, dass es Dianen unlieb war, von ihm gefunden worden zu sein. Liebe und Eifersucht erwachten in seinem Herzen. Er beschloss auf jeden Fall in das Geheimnis ihres jetzigen Aufenthalts zu dringen. Zu gleicher Zeit mit Dianen entschlüpfte auch er seiner Tänzerin und kam noch eben zur rechten Zeit, um sich im Ballanzug ohne Hut und Mantel in der rauen Kälte des Dezembers, auf den im Rücken des Mietwagens angebrachten Tritt zu schwingen, in welchem die Flüchtlinge Platz genommen hatten. Die Kutsche rollte von dannen und legte ihren weiten Weg fast durch die ganze Stadt hin zurück, ohne dass der vor Frost und Aufregung zitternde Jüngling seinen Platz verlassen hätte. Nicht einmal die Peitsche des Kutschers, der einen blinden Passagier vermutend, ein paar Mal nachdrücklich ausholte und fast unserem jungen Ritter das Auge ausschlug, vermochte ihn zu verdrängen. Erst an dem Haus der Dichterin angelangt, sprang er ab und verbarg sich hinter dem Vorsprung eines Nachbarhauses. So vorsichtig er zu Werke ging, so konnte er sein Verlangen, das teure, in ihrem einfachen Schmuck so schöne Mädchen beim Aussteigen noch einmal näher ins Auge zu fassen, nicht widerstehen und beugte sich vor. Dianes Blicke erspähten ihn. Mit einem leisen Schrei floh sie in das Haus, und die Tür wurde verschlossen.