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Diane Teil 1 – Kapitel 15

Alexander von Ungern-Sternberg
Diane
Ein Kriminalgemälde der modernen Gesellschaft
Berlin, 1842, Buchhandlung des Berliner Lesekabinetts

Fünfzehntes Kapitel

Ein Heiratsantrag und eine apathische Dame

Die Nacht, deren einen Teil Diane auf der Landstraße zubrachte, verwachte im großen Berlin noch jemand schlummerlos auf seinem Lager. Er war gewiss nicht der Einzige, dem unter diesen vielen Dächern die Zeit des Schlummerns keinen Schlummer brachte, aber wohl der Einzige, von dessen Nachtwachen unsere Heldin lediglich allein die Schuld trug. Es war Friedrich. Der junge Gärtner war nach einem ernsten Nachdenken, in welchem er die Lage seiner Eltern, seine eigene Stellung und die Aussichten für die Zukunft erwog, zum Resultat gelangt, dass es allerdings keck sei, jetzt schon ans Heiraten zu denken, dass er aber nicht anders könne, als so keck handeln, wenn er nicht sein und Dianes Glück auf immer verscherzen wolle. Er stand auf, kleidete sich an, in demselben Anzug, der ihm von gestern her so merkwürdig geworden war, und wandelte nun höchst aufgeregt im wohlbekannten Garten umher. Die Blumen schienen sich um ihren Gönner und Pfleger wenig zu kümmern, sie standen in Nebel und Schlaf gehüllt, und ihre träumerischen kleinen Häupter hingen am Stängel, von keinem Lüftchen geschaukelt. Friedrichs Fantasie schuf sich einen Garten, viel größer als dieser, mit viel selteneren und schöneren Blumen. Dieser Garten war sein. Er wandelte mit dem Mädchen seiner Wahl durch die schönen, reinlichen Gänge. Knisternd verriet der reine Silbersand jeden Tritt, den die Glücklichen machten. Ach, da war es gut, Gärtner sein!

Er blieb stehen und schaute zum Giebel des Gasthauses hinüber. Ob er wohl schon heute hingehen und ansprechen sollte? Es fröstelte ihn, und gleich darauf glühte er wie im Fieber. Er wollte noch bis morgen warten und unterdessen Diane am Abend sprechen. Aber der Abend kam, und Diane nicht. Das kleine Sträußchen wurde von niemandem abgeholt. Friedrich schlief diese Nacht wiederum nicht und ging am anderen Tag wieder in seinem schwarzen Anzug im Garten spazieren, zur unbeschreiblichen Verwunderung des kleinen Gärtnergehilfen, der ihm mit seiner Gießkanne überall folgte.

Drei Tage kämpfte der arme Friedrich mit seiner Liebe und seinem Mangel an Mut. Am vierten Tag endlich, es war am Sonntag, besiegte er alle seine Bedenklichkeiten und ging festen Schrittes in den Gasthof hinüber. Frau Sempel war eben im Begriff in die Kirche zu gehen und hatte ihr Liederbuch mit dem Goldschnitt schon unter dem Arm. Herr Pädus lauschte schon an der Tür seiner Trinkstube, um, wenn die Witwe vorbeiginge, ihr seinen ›Guten Morgen‹ zu wünschen, als Friedrich angemeldet wurde.

Der ehrliche Schwabe merkte sogleich, denn wer etwas sucht, hat ein scharfes Auge, dass er ungelegen kam. Dazu fügte sich die fortwährende und nun durch die Befangenheit gesteigerte Besorgnis, seinen schwäbischen Dialekt nicht zu verraten. Er war also nicht imstande, während er einige Minuten gesprochen hatte, sich Frau Sempel verständlich zu machen, die ihm forschend und mit einer peinvollen Ungeduld ins Auge sah. Da die Gastwirtin wusste, dass Dianes unwillkommene Nachrichten durch diesen sehr ehrenwerten Zwischenträger ihr zugekommen waren, so meinte sie, die verworrene Rede des jungen Mannes erstrebe einen Dank für seine Bemühungen. Sie stattete ihm denselben in bester Form ab; aber das war es nicht, was Friedrich wollte. Eigennutz und Selbstgefälligkeit waren nicht seine Fehler. Er beschiffte also nochmals den ›Ozean der Rede‹ und schaukelte sich auf den höchsten Wogen, als der Geduldsfaden der Frau Sempel riss, und sie ausrief: »Aber was wollen Sie denn eigentlich, Herr Neuner?«

»Nischt, als die Hand von Jungfer Katharina«, platzte der Schwabenjüngling heraus, rot, wie mit Blut übergossen.

Frau Sempel war nun im Verständnis und beschloss, die Sache kurz abzumachen. Sie entdeckte dem Freiwerber, dass Katharina ihr Haus verlassen hatte und sie nicht wisse, wo sie sich jetzt befinde. Damit nötigte sie mit guter Art den Gärtner aus der Tür, machte ihm eine Abschiedsverbeugung und ging ihrer Wege.

Der Freiwerber blieb mitten auf der Straße stehen, schaute ihr starr nach, und drehte seinen Hut zwischen den Fingern, unfähig, das schnelle, erschütternde Ende seiner Unternehmung zu begreifen.

Wir müssen ihn einstweilen stehen lassen und Diane aufsuchen, die unterdessen ihre neue Laufbahn angetreten hat. Vom Halleschen Tor begeben wir uns in die eleganten und fashionablen Stadtviertel. Wir gehen die Straße hinauf, in deren Mitte vier Reihen stattlicher Lindenbäume prangen und die von diesen ihren Namen ›Unter den Linden‹ hat. Die Paläste Berlins bilden diese Straße, und das Brandenburger Tor mit der Viktoria Preußens schließt sie. Diese Viktoria lenkt ihre Rosse dem Standbild Friedrichs des Großen entgegen, gleichsam, als brächte sie ihm Kunde von der steigenden Größe und dem Glanz des Reiches, dem er einen weltberühmten Namen verliehen hatte. Den Prospekt dieser Straße bildet Berlins grandiosestes Gebäude, das königliche Schloss, in jenem imposanten Stil gebaut, der Würde und Schönheit vereinigt, und nichts vom kleinlichen und unpassenden Säulenschmuck an sich trägt, der die modernen Bauwerke verunziert und dem berühmten Museum das Ansehen eines Käfigs gibt, durch dessen Gitterstangen die Vögel sich hinausgedrängt und oben hingesetzt haben, immer bereit, wegzufliegen, indes der Wärter durch die unten hingestellte Trinkschale sie wieder zu locken und einzufangen versucht.

In eine dieser bezeichneten Gegenden folgen wir Diane in ein palastähnliches Haus und lernen dessen Eigentümerin kennen. Der Kandidat brachte seine Pflegebefohlene glücklich durch das Gedränge und stieg mit ihr die Treppe hinauf. Diane drängte sich fest an seinen Arm und wagte nicht, den finster blickenden, in seinem goldenen Bandelier prangenden Portier anzusehen, noch weniger, ihm auf seine barsche Frage, wer sie sei und was sie wolle, zu antworten.

Der Kandidat gab eine Karte ab; diese öffnete ihm die Türen.

In einem Saal, der mit dem größten Luxus ausgestattet war, lag in einem Lehnstuhl eine Dame in schwarzen, langen Locken, mit einem bleichen, aber sanften Antlitz. Sie winkte Diane näher und grüßte sie mit einem leisen Kopfnicken. Weinhold wurde entlassen, und unsere Heldin blieb mit der mysteriösen schwarzgelockten Dame allein. Es herrschte eine tiefe Stille. Diane sah sich schüchtern im Saal um, aber ihre Befangenheit war so groß, dass ihr ein Nebel vor die Augen trat und sie keinen Gegenstand zu unterscheiden vermochte. Als sie von dem Versuch, sich mit ihrer Umgebung bekannt zu machen, abstand und ihre Blicke auf die Dame richtete, gewahrte sie mit Schrecken, dass die dunklen Augen derselben sie mit einem forschenden und durchdringenden Ausdruck ansahen.

»Also Sie haben noch nie einen Anfall von Geistesschwäche gehabt?«, fragte sie. Ihre Blicke blieben fortwährend auf Diane gerichtet. »Antworten Sie mir, mein Kind. Herr Weinhold versichert mich, dass Sie vollkommen gesund seien. Allein ich glaube etwas in Ihren Blicken zu bemerken, das mir sagt, es sei dem nicht so. Reden Sie offen, waren Sie nie unter ärztlicher Behandlung?«

Diane zitterte heftig. Es wurde ihr bei diesen Fragen, deren Sinn sie nur halb begriff, so unheimlich zumute, dass sie sogleich hätte umkehren und entfliehen mögen. Dennoch blieb sie und antwortete mit einer verwirrten und stotternden Stimme: »Nein, gnädige Frau, gewiss noch nie.«

Die Dame blickte sie mit einem mitleidigen Lächeln an und gab ihr dann einen Wink, sich zu entfernen. Wie gern benutzte Diane denselben. Im Zimmer der ersten Kammerfrau angekommen, wurde sie von dieser begrüßt und nach den näheren Umständen ihres Lebens gefragt. Allein die Eingeschüchterte antwortete nicht, sie war froh, ein Stübchen angewiesen zu erhalten, wo sie, allein und von niemand belauscht, sich ausweinen konnte. Ach! Zum ersten Mal umfing sie eine kalte, fremde Luft, eine Luft, die sie nicht atmen konnte, ohne dass sie das Herz beklemmt fühlte. Wie sehnte sie sich zurück in ihr kleines Dachstübchen, mit seinem freundlichen Sonnenschein und seinen Blumentöpfen am Fenster. Wie glücklich hatte sie die bekannte Stimme Lenes gemacht, wenn sie auch scheltend erklungen wäre. Aber sie hörte nichts als das Wispern des Gesindes im Nebenzimmer, das sich über die Ankunft der neuen Gefährtin verbreitete. Ihr Name wurde öfters genannt und immer mit einem kleinen, scharfen Gelächter begleitet, das ihr von der Kammerfrau herzurühren schien, und das ihr ganz besonders widrig klang.

Nach Verlauf einer peinlichen Stunde erscholl eine hell tönende Glocke. Hiermit wurde das dienende Personal zum Mittagstisch gerufen.

Die Kammerfrau kam, um Diane abzuholen. Ein stattlicher Hausmeister prangte am obersten Platz der Tafel. Sein breites, rotes, von einem Bart eingeschlossenes Gesicht war in sonderbare Falten gelegt und drückte eine eingebildete, alberne Wichtigkeit aus. Alles, was er sagte und tat, war gemessen und voll lächerlichen Anstandes. Ihm zur Seite saß ein langer, schmächtiger, junger Mensch in einem schwarzen Anzug, der sein Haar gescheitelt und auf den Rockkragen herabhängend trug. Er sprach nichts, sondern verzehrte mit großem Appetit die Portionen, die ihm der Hausmeister mit steifer Grandezza vorlegte. Noch zwei Bediente in Livreen folgten, und den untersten Platz nahm ein Mohr ein, der zu beiden Seiten zwei kleine Grooms hatte, Kinder mit wahren Affengesichtern und in goldbetresste Jacken geknöpft. Diese Gruppe war höchst komisch; das schwarze Gesicht mit seinen weit vorgequollenen, starrenden Augen und dem wulstigen Mund, umgeben von den hässlichsten Exemplaren der weißen Rasse. Diane starrte dieses Kleeblatt an und wurde von ihm wieder angestarrt. Die Unterhaltung bildeten die Stadtneuigkeiten. Die Küchenmagd, welche aufwartete, betrachtete die Gesellschaft mit einem höhnenden Lächeln, das zu einem ausgelassenen Spott überging, wenn sie sich dem Schwarzen und den beiden Reitknechten näherte. Bis jetzt hatte Diane nicht auf die Gespräche geachtet, die geführt wurden, sie hatte zu viel zu tun mit den fremden Physiognomien. Einige Seltsamkeiten jedoch, die sich in die Konversation drängten, machten sie auf diese aufmerksam. Der Hausmeister fing an, immer sonderbarere und unerklärlichere Gesichter zu schneiden, öfters mit dem Kopf zu schütteln und die Schultern zu bewegen, als fühlte er sich im höchsten Grad unbehaglich und aufgeregt.

Die Kammerfrau bemerkte es und sah ihn besorgt von der Seite an. Endlich sagte sie: »Was fehlt Ihnen, Herr Jobst?«

Der Gefragte antwortete leise, indem er auf seinen Nachbarn zeigte: »Ich kann mit diesem Menschen wahrhaftig nicht länger beisammen sein. Die gnädige Frau kann sich einen anderen Hausmeister suchen, wenn sie meinen Vorstellungen nicht nachgibt. Hören Sie, wie er wieder vor sich hinbrummt, wie er wieder die langen, mageren Finger bewegt und glaubt, vor seinem Klavier zu sitzen? Ich kann das nicht ansehen, ohne dass sich mir die Seele im Magen umdreht. Es ist doch gar zu arg, einen Verrückten in seiner nächsten Nähe zu haben!«

»Was ist zu machen?«, flüsterte die Kammerfrau, »die gnädige Frau wird ihn nicht fortschicken. Sie sagt, keiner leiste ihr so gute Dienste wie er.«

»Aber er ist verrückt!«, rief der Hausmeister. »Und wir Gesunde sollen das leiden?«

Diane sah mit Verwunderung, wie der blasse junge Mensch, nachdem er seine Mahlzeit vollendet hatte, seinen Teller wegschob und eine Bravour-Partie auf dem Tischtuch abspielte, indem er dazu seine langen Haare schüttelte und düstere feurige Blicke um sich her warf. Die beiden Grooms und der Neger starrten ihn an und grinsten.

Der Hausmeister schenkte der Kammerfrau ein Glas Wein ein, und seufzte dabei tief. »Waren Sie gestern im Theater, Herr Jobst?«, fragte seine Nachbarin.

»Nein!«, tönte die verdrießliche Antwort. »Nach dem letzten Mordanschlag, den man auf mein Leben gemacht hat, gehe ich an keinen öffentlichen Ort mehr hin. Es ist unbegreiflich, dass ich noch lebe«, setzte er, tief Atem holend, hinzu. »Man tut alles, um mich auf die Seite zu schaffen.«

Die Kammerfrau lächelte und antwortete nicht. Der Klavierspieler hielt inne und sah mit einem triumphierenden, boshaften Lächeln den Haushofmeister an.

»Was soll das?«, fragte der Beleidigte zürnend.

»I, wo denken Sie denn hin?«, erwiderte der Blasse. »Wer wird denn auf Sie schießen. Ja, wenn Sie noch, wie ich, ein berühmter und beneideter Virtuose wären, dann könnte es sein, dass man Sie ermordete, um den kleinen Talenten Spielraum zu verschaffen. Aber so, es ist ja lächerlich.«

»Ich weiß, was ich weiß«, brummte der dicke Mann, »und mit Ihnen spreche ich nun einmal nicht. Dort die zwei wissen, was ich meine, und haben mehr Achtung vor mir.« Er blickte die beiden Livreebedienten an. Diese verneigten sich ehrerbietig. Der Mohr und die beiden Reitknechte grinsten.

Diane war froh, als die Mittagstafel ein Ende hatte und eine Klingel ertönte, die diese erbitterten und aufeinander erzürnten Tischgefährten zu ihren verschiedenen Berufspflichten rief. Die Kammerfrau blieb allein noch. Zu ihr fasste die arme Verlassene Vertrauen, und dieses Vertrauen wurde von der kleinen freundlichen Frau erwidert. Dennoch wagte Diane nicht, über den Zustand des Hausmeisters und des ersten Kammerdieners nähere Erkundigungen einzuziehen, von einer unerklärlichen Bangigkeit abgehalten.

Gegen Abend erschien Herr Weinhold und wurde mit der ausgelassensten Freude von seinem Zögling begrüßt. Ihm teilte Diane alles mit, was sie Seltsames und Unbehagliches in diesem Haus entdeckte. Der arme Kandidat lächelte zu diesen Berichten und erklärte sie für Einbildungen ihrer aufgeregten Sinne. Er gab ihr gute Lehren, wie sie sich zu verhalten habe, um den Schutz einer so großmütigen reichen und wohltätigen Dame nicht einzubüßen.

»Vornehme Herren und Damen haben immer ihre Eigenheiten, die der Niedriggestellte mit Geduld und Ergebung hinnehmen muss«, sagte er. »Du wirst dich an die Art und Weise der Frau von Löwenhoff gewöhnen, liebes Kind, und dann auch mit den übrigen Hausleuten in gutem Vernehmen stehen. Solltest du aber dennoch dieses Haus verlassen wollen, so komme nur zu mir. Ich will dann eine neue Stelle für dich suchen.«

Diane fragte, ob die Offiziere wieder im Gasthof gewesen waren. Weinhold erwiderte hierauf, sie hätten sich allerdings eingestellt, seien jedoch bald wieder gegangen, da sie das nicht gefunden, was sie gesucht hatten. Der Graf sei jedoch noch nicht wieder da gewesen.

Als der Kandidat fort war, vergoss Diane wieder ihre einsamen Tränen. Sie legte es ihrem Beschützer als Teilnahmslosigkeit aus, dass er nicht erschienen war, sich nach ihr zu erkundigen. Dann fürchtete sie, dass Krankheit ihn abgehalten habe. Bei diesem Gedanken zitterte sie heftig. Seinetwegen hatte sie den sicheren Herd der Heimat verlassen. Nun sollte sie quälenden Zweifeln hingegeben sein. Allein Weinhold hatte versprochen, ihr von ihm Nachricht zu bringen. Der arme Kandidat war einer von den Wenigen, die nie und unter keiner Bedingung ihr Wort brechen.

Dianes Geschäft war, ihrer Gebieterin bei der Toilette hilfreiche Hand zu leisten. Frau von Löwenhoff war fortwährend in einer höchst abgespannten Stimmung. Es schien, dass nichts auf der Welt imstande wäre, sie zu reizen oder zu beschäftigen. Sie war das Bild der trostlosesten Langeweile und Abgespanntheit. Ihr Auge war halb geschlossen, ihre Wangen zierte nie ein frisches und anmutiges Lächeln, alle ihre Bewegungen waren die einer Sterbenden, matt, fast willenlos. So ließ sie sich auch immer am Abend eines Tages, wo sie Besuche empfangen hatte, den Putz mit einer Miene abnehmen, als wollte sie damit sagen: O, könnte ich doch nur diesen Leib, dieses Gewebe von Nerven und Adern, mir auch so abnehmen lassen, wenn ich dann für immer Ruhe hätte. Diese unglückliche Laune wirkte lähmend auf den frischen Lebensmut Dianes. Sie hatte gewünscht, einen Blick der Liebe und des Vertrauens zu erhaschen, und sie erhielt keinen.

Eines Abends löste sie ein kostbares Armband in Form einer Schlange vom Arm ihrer Gebieterin und trug es mit anderen Schmucksachen in das Zimmer der Kammerfrau. Diese bemerkte kaum das Armband, als sie darauf lossprang, es mit funkelnden Augen erfasste, und sich dasselbe um den Arm legte. Zu gleicher Zeit wurden ihre Gebärden wild und schreckenerregend. Sie sprang im Zimmer hin und her, verzog das Gesicht in heftigem Schmerz und zeigte mit einem Ausdruck von Schauder und Entsetzen auf ihren Arm. Diane stand wie versteinert und sah diesem Schauspiel zu, ohne zu wissen, was sie davon denken sollte. Die Kammerfrau war bisher die Einzige gewesen, an deren stillem Wesen sie noch nichts von jenen auffallenden Zeichen bemerkt hatte, die ein Teil der Dienerschaft zeigte. Nun erschien sie seltsamer und unverständlicher als alle anderen. Mit Mühe nur konnte sie sich von der Erkrankten losmachen. Hilfe suchend eilte sie zu der Gebieterin, die sie noch immer, in ihrem Stuhle liegend und in melancholische Gedanken versunken, fand.

Auf ihre Klage und die Erzählung des Geschehenen lächelte Frau von Löwenhoff und sagte dann langsam: »Warum haben Sie ihr das Armband gezeigt? Allemal, wenn sie dieses erblickt, bekommt sie ihren Anfall.«

»Also wahnsinnig?«, rief Diane.

»Nicht doch!«, sagte Frau von Löwenhoff. »Sie war es einst; allein sie ist völlig hergestellt und bis auf diesen geringfügigen Umstand, dass sie das Armband nicht sehen kann, ohne zu glauben, es sei eine wirkliche Schlange, von der gebissen und getötet zu werden. Ihre unausweichliche Bestimmung sei, hat sie so viel gesunde Vernunft, wie ich und Sie, mein Kind.«

»Aber, gnädige Frau«, stotterte Diane, »der Hausmeister …«

»Ich weiß, was Sie sagen wollen«, fiel die Dame rasch und mit der Hand winkend ein. »Auch er hat seinen Sparren, auch er war einst unter ärztlicher Aufsicht. Eben dieselbe Bewandtnis hat es mit meinem Kammerdiener. Allein dies kümmert mich wenig. Was andere erschreckt und unbehaglich berührt, hat für mich einen Reiz. Das Leben langweilt mich. Ich höre immer dieselben Gespräche, dieselben vernünftigen Worte um mich her ertönen. Ich sehe alle Welt so handeln, wie man es von aller Welt erwartet. Dessen bin ich müde. Der Wahnsinn ist etwas stets Neues, Frisches, noch nie Dagewesenes. Denn man kann nicht zwei Verrückte finden, die sich vollkommen gleichen, da man doch Millionen Vernünftige findet, die zum Ekel einander ähnlich sehen. Meine Dienerschaft habe ich mir mit einiger Mühe zusammengelesen. Es sind ehrliche, gute Leute, die nur zu Zeiten und völlig gefahrlos daran erinnern, dass sie früher eine Zelle im Irrenhaus innehatten. Ich liebe das. Wenn mich mein Kammerdiener in den Wagen hebt, so tut er dies mit jener Miene hochfahrenden Stolzes, der einen großen Künstler begeistert, der sich herablassen muss, die kleinen Dienstleistungen des Lebens zu vollbringen. Oft höre ich ihn hinter mir auf der Lederdecke des Wagens eine schwierige Fuge trommeln. Dieses kitzelt mich mit so anmutiger Komik, wie es alle künstlich zubereiteten Späße der besten Komiker nicht vermögen. Oder erzählt mir mein Hausmeister, dass er die Krone niederlegen werde, weil er der ewig wiederholten Attentate auf sein Leben überdrüssig sei, so tröste ich ihn, indem ich ihn versichere, dass man der Polizei geschärfte Befehle erteilt und ihre Wachsamkeit sich verdoppelt habe. Er ist mir dafür sehr dankbar und hält mir das Haus gut zusammen. Ein anderer Diener seiner Art suchte Vergnügungen auf. Er bleibt mir sicher zu Hause, denn überall fürchtet er, seine Sicherheit und sein Leben angegriffen zu sehen.«

Frau von Löwenhoff hielt inne und sah mit einem lächelnden, fragenden Blick zu Diane auf. Diese war so überrascht von dieser Mitteilung, dass sie errötend und verwirrt ihre Blicke senkte. Sie erhielt die Erlaubnis, sich entfernen zu dürfen.

Zum ersten Mal konnte sie kein Auge schließen. Die Nacht dünkte ihr unendlich lang. Immer fürchtete sie, die Kammerfrau oder den Hausmeister oder den musikalischen Kammerdiener an ihre Tür pochen zu hören. Allein Frau von Löwenhoff hatte recht, diese Leute alle waren nicht weniger als gefährlich. Die kleinen Seltsamkeiten abgerechnet, betrugen sie sich fortwährend freundlich und wohlgesinnt gegeneinander. Bald hatte sich Diane an ihr Wesen gewöhnt. Aber andere Gefahren stellten sich ein.

Eines Abends wanderte sie an der Seite der Kammerfrau die große Lindenallee auf und ab. Es war ein Sonntag, eine bunte Spaziergängerschar drängte sich auf und ab. Es flutete und wogte. Hier und da tauchte der weiße Federbusch eines Offiziers, der Sonnenschirm einer Dame oder ihr flatternder Schleier auf. Man sah die fleißige, arbeitende Klasse im Sonntagsputz sich den Vornehmen und Müßigen anschließen. Der Hausmeister hatte sich, wie gewöhnlich, nicht entschließen können, sich in das Gedränge zu mischen, und der Kammerdiener schwankte bleich und unschlüssig umher. Der Mohr hatte sich eine runde, in feurige Farben gekleidete Köchin ausgesucht und durchbrach mit diesem Gegenstand seiner Neigung das dichteste Gedränge. Diane erfreute sich kindisch an der lauten bunten Menge und schaute eben arglos umher, als ihre Blicke auf zwei hässliche, graue Augen trafen, die starr auf sie gerichtet waren. Zugleich hörte sie die Worte: »Das ist sie! Das ist sie! Teufel! Wir wollen sie nicht aus den Augen lassen.«

Das arme Mädchen fühlte, wie alles Blut sich zum Herzen drängte. Sie erkannte den Leutnant Braun. Den Langen, mit den hässlichen Augen und dem langen rötlichen Bart kannte sie nicht. Seine Blicke, die zugleich boshaft und frech lüstern waren, ersparten ihr allen Zweifel über sein eigentliches Wesen und seinen Charakter. Diese beiden, für die Verfolgte so entsetzliche Gestalten, machten, dass sie mit aller Kraft ihnen zu entfliehen versuchte und die Kammerfrau gewaltsam mit sich fortriss.

»Aber, was ist Ihnen, Mamsellchen?«, fragte diese erstaunt.

Diane vermochte nur auf jene beiden hinzuzeigen.

Die Kammerfrau wandte sich forschend zu der bezeichneten Richtung hin und sagte besänftigend: »Das sind zwei vornehme Herren. Sie sprechen mit unserem Mohren. Ah! Sie scheinen sich nach uns zu erkundigen. Der Mohr nickt grinsend.«

»Lassen Sie uns gehen, liebe Frau.«

»Ja doch, nur nicht so schnell. Das wäre wider den Anstand.«

Diane hörte hinter sich lachen, und bald darauf keuchte der Mohr vorüber, der seine Schöne verlassen hatte, und Diane einen bedeutsamen Blick zuwarf. In diesem Augenblick hatten die beiden Verfolger ihr Opfer eingeholt.

»Finden wir dich endlich, Kleine!«, rief der Leutnant. »Das sollst du büßen, uns solange in die Irre geschickt zu haben. Warte nur!« Er fasste ihren Arm.

Der Begleiter sagte nichts, sondern klemmte nur ein großes Glas in die Augenhöhle und starrte so das Mädchen an, indem er zugleich an seinem Stockknopf zog.

»Geh, dies Stückchen hätte ich dir nicht zugetraut!«, rief der Leutnant.

»Ach, mein Herr, ich bitte, lassen Sie mich!«, schluchzte Diane und drängte sich gewaltsam durch. Ein entgegenflutender Schwarm kam ihr zu Hilfe. Glücklich gelang es ihr, einen kleinen Vorsprung zu gewinnen. Flüchtig wie ein Reh enteilte sie dem Baumgang und erreichte das Trottoir an den Häusern. Hier war sie sicher. Sie floh nun weiter und erreichte endlich ihr Haus. Wie verändert fand sie jetzt dies sichere Asyl. Ihre ruhige stille Stube enthielt keinen Talisman mehr, der ihre Angst, ihren Schrecken beschwichtigte. Ihr Zufluchtsort war ausgekundschaftet, und nichts als abermalige Flucht konnte sie jetzt retten. Sie überlegte, ob sie sich der Frau des Hauses entdecken sollte. Sie gab diesen Vorsatz wieder auf, da sie bedachte, wie wenig Frau von Löwenhoff sich eigentlich um anderer Leute Schicksal kümmerte.

Gegen Morgen des nächsten Tages kam der Mohr und stattete seine Botschaft ab, indem er zugleich einen zierlichen, kleinen Brief überbrachte. Diane wies ihn scheu zurück. Sie wusste nicht, was sie ergreifen, was sie tun sollte. Flucht war ihr einziger Gedanke.

Nach einigem Besinnen entschied sie sich, auch den Kandidaten nicht in ihr Vertrauen zu ziehen. Durch ihn musste der Graf die erneuerten Verfolgungen erfahren, und die Gefahr, die sie von seinem Haupt abwenden wollte, drohte ihm dann stärker als jemals. Sie musste also fliehen, allein, ohne Hilfe, ohne Mitwissen der ihren. Noch wartete sie ein paar Tage in der quälendsten Ungewissheit. Der Kandidat kam nicht, und nun war sie entschlossen. Frau von Löwenhoff, die sichtlich ihr Interesse an dieser Dienerin verloren hatte, da sie keine eigentümliche ›Grille‹ an ihr bemerkte, erteilte ihr willig ein Zeugnis. Diane hatte Vorsicht genug gelernt, ihre Flucht nicht wieder so unbesonnen und ohne die nötigen Papiere anzutreten.

Als sie über den Hausflur schritt, stand der Hausmeister da und machte ihr eine Abschiedsverbeugung voll majestätischer Huld. Der bleiche Kammerdiener sah sie zerstreut an und winkte ihr ebenfalls herablassend. Der Mohr jedoch streifte die beiden zudringlichen Knaben von sich ab und flüsterte ihr zu, dass er noch eine Bestellung an sie auszurichten habe. Diane floh eilig und hörte erfreut das große Tor hinter sich zufallen.

Mit flüchtigen Schritten eilte sie fort. Es war noch früh am Morgen, aber schon fingen sich die Plätze und Trottoirs zu beleben an. Diane zog ihren Schleier dicht vors Gesicht und eilte fürder. Die vielen sich durchkreuzenden Wege, die fremden Gesichter ängstigten sie, aber nach und nach kehrte ihr Mut zurück. Wohin sollte sie sich nun aber wenden? Sie blieb stehen und sah wenige Sekunden zweifelhaft vor sich hin. In diesem Moment streifte ein bekanntes Gesicht an ihr vorbei. Sie dachte nach, wo sie den ältlichen Mann gesehen hatte. Dieser kehrte um und stand jetzt vor ihr. Es war ein Briefträger, der öfter Briefe in das Haus ihrer früheren Gebieterin gebracht hatte. Er grüßte sie und fragte recht freundlich, ob sie sich vielleicht verlaufen habe. Im Ton der Stimme, im Wesen des Mannes lag etwas, das unwiderstehlich Vertrauen erweckte. Diane gestand ihm, dass sie für eine Freundin, sie wollte sich selbst nicht nennen, einen Dienst suche.

»So wollen Sie wohl zur Dame, die ein Mädchen anzunehmen wünscht? Sie wohnt hier gleich an der Ecke!«, rief der Briefträger. »Wahrscheinlich suchen Sie doch diese?«

Diane nickte bejahend. »Nun, die Treppe rechts. Ziehen Sie nur stark an der Klingel, denn ein Portier ist nicht im Haus und die alte Magd im Hof ist taub.«

Er eilte wieder fort, und Dianes Hand ruhte an der bezeichneten Klingel. Sie sah sich die Straße nochmals an. Es war keine von den breiten, mit schönen Häusern gezierten. Die Gegend war nicht so belebt, kein Bilderladen, keine prachtvollen Warenausstellungen zogen müßige Spaziergänger hierher. Nur Beschäftigte, Betriebsame gingen über diesen stillen Platz, durch diese stille Straße. Die Wohnungen waren hier billig, und die Leute pflegten hier zu Fuß zu wandern. Nur selten geschah es, dass ein zierlicher Herr oder eine von Straßenschmutz bespritzte, ins Gedränge gekommene Dame einem Lohnkutscher winkte, um sich von diesem gefahrlos in die besseren Stadtviertel bringen zu lassen. Aber diese Abgelegenheit war Diane gerade gelegen. Sie glaubte hier um desto sicherer versteckt zu sein. Herzhaft zog sie mit ihrer Hand an der Klingel.