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Der Wolfmensch Zweiter Teil – Kapitel 6

Elie Berthet
Der Wolfmensch
oder: Die Bestie des Gévaudan
Aus dem Französischen von A. Kretzschmar
Hartleben’s Verlags-Exedition. Pest, Wien und Leipzig, 1858.

Zweiter Teil

Der Antrag

Am Morgen nach jenem so bewegten und so tragisch verhängnisvollen Tag trat Fräulein von Barjac in einen speziell zu ihrem Gebrauch reservierten kleinen Salon, wohin Schwester Magloire und der Chevalier jeden Morgen zu kommen pflegten, um ihre Befehle zu empfangen.

Die junge Edeldame war bleich und sichtlich angegriffen, aber eine auffallende Veränderung war in ihrer äußeren Erscheinung vorgegangen. Anstatt jenes ewigen Amazonenkleides von grünem Taft und jenes Männerhutes, wofür sie noch am Tage vorher eine ausschließliche Vorliebe zeigte, trug sie jetzt ein einfaches, aber elegantes, nach der Mode des Tages geschnittenes Kleid. Ihr frisiertes und gepudertes Haar war mit einer Spitzencoiffure geschmückt. Die krankhafte Mattigkeit ihrer Bewegungen, die Melancholie, welche ihren Zügen aufgeprägt war, machte ihre Umgestaltung vollständig. Anstatt der stolzen Jägerin, welche am Tag zuvor mit der Flinte auf der Schulter im Wald von Mercoire herumgaloppierte, sah man jetzt ein junges, bescheidenes, gelassenes Mädchen, welches mit den Schwächen des Weibes zugleich auch alle Reize desselben wiedergefunden hatte.

Weder die gute Schwester Magloire noch der ehrliche Chevalier waren auf eine solche Umwandlung gefasst. Sie hatten sich erhoben, um ihre junge Gebieterin zu empfangen, und blieben ganz bestürzt stehen, als ob sie ihren Augen nicht trauten.

Bald aber wich die Überraschung der Freude. Magnac machte große Augen und vergaß nach seiner Gewohnheit auf zeremoniöse Weise zu grüßen. Er verstreute auf seinem weißen Bruststreifen eine Prise Tabak, die schon auf dem Weg zu seiner Nase war, und murmelte bei sich selbst: »Vornehme Miene, vollkommener Anstand, edle, dezente Haltung, man kann es nicht besser wünschen.«

Aber die Bewunderung des Ehrenstallmeisters war viel zu ehrerbietig, um sich auf offene Weise kundzugeben.

Die Nonne war weniger zurückhaltend.

»Heilige Jungfrau! Mein liebes Kind«, sagte sie, indem sie die Hände faltete, »wie wunderschön Euch dieses Kleid sitzt! Ihr seid schön genug, um die Engel zu entzücken. Wie reizend Ihr Euch ausnehmt! Ihr wollt also endlich auf jenes garstige Reitkleid verzichten, welches der Gegenstand meines fortwährenden Kummers und Ärgers ist?«

»Ich habe darauf verzichtet, liebe Schwester«, entgegnete Christine mit sanftem Lächeln. »Fortan werde ich nur die Kleidung tragen, welche meinem Geschlecht und meinem Alter zukommt.«

Sie sank auf ein Sofa nieder, als ob der Weg aus ihrem Zimmer in den Salon ihre Kräfte erschöpft hätte. Als sie die verlegene Miene ihrer Ratgeber bemerkte, hob sie in melancholischem Ton wieder an: »Ich setze Euch in Erstaunen, wie ich sehe. Die Veränderung aber, welche in meinem Gemüt vorgegangen ist, ist noch größer als die, welche Euch in meiner Kleidung betroffen macht. Ach, meine guten Freunde«, fuhr sie mit innerer Bewegung fort, »jene Lehren, welche Ihr mir so vielmal gegeben habt und welchen ich nicht Gehör schenkte, hat mir die Wirklichkeit auf grausame Weise eingeschärft.«

Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen. Die Schwester und der Chevalier wechselten einen Blick. Sie begannen zu fürchten, dass diese Umwandlung, welche sie entzückte, ihrer jungen Herrin große Überwindung koste.

»Mein Kind«, sagte Schwester Magloire, indem sie sie auf die Stirn küsste, »die Ereignisse des gestrigen Tages rechtfertigen diese peinliche Rückkehr zu Euch selbst nur zu sehr, dennoch aber darf man den Mut nicht sinken lassen und …«

»Die Ereignisse des gestrigen Tages, meine gute Schwester, sind durch meine Schuld herbeigeführt worden«, entgegnete Christine im Ton der Niedergeschlagenheit. »Vergebens versuche ich mir es zu verhehlen. Wenn ich durch die Leichtfertigkeit meiner Handlungen und meiner Worte nicht die Beleidigung kühn gemacht hätte, so wäre ich nicht gezwungen gewesen, zu unheilvollen, äußersten Mitteln meine Zuflucht zu nehmen. Wenn ich einige Augenblicke später das Aufbrausen meiner Gedanken zu mäßigen gewusst hätte, wenn ich ganz einfach, wie die Klugheit verlangte, zum Schloss zurückgekehrt wäre, so hätte ich weder mich noch andere neuen Gefahren preisgegeben. All mein Kummer hat seinen Entstehungsgrund in meinem Stolz, in meiner Heftigkeit, in meiner Unfügsamkeit, aber ich werde diese unwürdigen Neigungen unterdrücken. Ich habe es versprochen: Ich will es und es wird mir gelingen.«

Nach einer kurzen Pause hob sie wieder an: »Man wird diese Waffen, diese Kleider, alle jene männ­lichen Attribute, die sich fortan nicht für mich ziemen, aus meinem Zimmer entfernen. Überdies, Herr Chevalier, bitte ich Euch, Buch zu verkaufen, ihn zu verschenken, mit einem Wort, den Stall so schnell als möglich von ihm zu befreien.«

Magnacs etwas schwerfälliger Geist konnte dem stets ungestümen Willen seiner jungen Herrin in seinen raschen Entwicklungen nicht folgen, und jedes Wort Christines versetzte den wackeren Edelmann in neues Erstaunen.

»Buch verkaufen!«, rief er, indem er seine langen Arme an seinem Körper herabsinken ließ. »Wäre es möglich? Und wenn Ihr nun ausreiten wollt, Fräulein?«

»Ich werde nicht mehr reiten, mein lieber Chevalier. Da der Zustand der Straßen in hiesiger Umgegend mir verbietet, im Wagen zu fahren, so werde ich künftig in Euer beider Gesellschaft zu Fuß spazieren gehen. Meine guten Freunde«, fuhr Christine in weichem Ton fort, indem sie ihren beiden Mentoren jedem eine Hand reichte, »ich bin bis jetzt sehr undankbar und sehr schlecht gegen Euch gewesen. Ich habe Eure weisen Ratschläge verachtet, ich habe sie so oft lächerlich gemacht. Verzeiht mir! Trotz des Unrechts, welches ich gegen Euch begangen, habe ich doch niemals aufgehört, Euch zu achten, Euch zu lieben.«

Diese liebreichen Worte rührten Magnac und die Nonne zu Tränen. Der Chevalier führte die Hand, welche man ihm bot, ehrerbietig an seine Lippen, und Schwester Magloire rief außer sich vor Freude: »Liebes Kind, wie glücklich bin ich, Euch von solchen Gesinnungen beseelt zu sehen! Der Himmel hat also endlich das Gebet erhört, welches ich jeden Tag an ihn richtete. Dennoch aber, meine Tochter, hütet Euch, mit einem Mal Euch tapfer aufzulegen, welche Eure Kräfte übersteigen würden. Ich finde diese Änderung sehr rasch und sehr gewaltsam.

»Schon gut! Wir werden auf diesen Gegenstand wieder zurückkommen, meine Schwester«, unterbrach sie Christine zerstreut. »Ich wünschte aber jetzt zu erfahren …« Sie stockte sehr verlegen. »Wie sich der Verwundete befindet«, setzte sie dann hinzu.

»Ohne Zweifel«, hob die Nonne wieder an, »wollt Ihr von jenem guten, jungen Mann, Monsieur Leonce, sprechen, der Euch gestern so große Dienste geleistet und Euch mit so viel Mut und Selbstverleugnung geschützt hat. Wir hoffen, dass die Aufregungen und Anstrengungen dieses grausamen Tages keinen schlimmen Einfluss auf ihn äußern werden. Aber welch eine Torheit war es von ihm, unsere Wachsamkeit zu täuschen und in den Wald zu laufen, ehe er noch wieder zu Kräften gekommen und seine Wunde vernarbt war. Ich habe ihn diesen Morgen besucht. Seine Schulter ist auf dem besten Weg zur Heilung, und wenn er seinen unruhigen Geist ein wenig beschwichtigen könnte …«

»Ich freue mich zu hören, dass Monsieur Leonce seine Aufopferung für mich nicht zu bereuen haben wird«, entgegnete Christine in etwas kaltem Ton. »Der gestrige Tag hat mir genug andere Ursachen zu Kummer und Betrübnis zurückgelassen. Ich wünschte aber auch zu hören …«

»Ohne Zweifel handelt es sich um jenen Edelmann, der sich durch Unvorsichtigkeit mit seinem Hirschfänger selbst verwundet hat, nicht wahr?«, fragte der Chevalier. »Niemand wünscht mehr als ich, dass der Wolfsjägermeister so schnell wie möglich wiederhergestellt werde, und ich habe dazu ganz besondere Gründe. Dennoch aber muss ich zugeben, dass der Arzt in Bezug auf seine Wunde eben nicht die zuversichtlichste Hoffnung hegt.«

»O, Gott wird nicht zulassen, dass er daran sterbe!«, seufzte Christine, indem sie die Augen gegen Himmel richtete.

Bald darauf hob sie wieder an: »Lasst mich jetzt einige Augenblicke allein, meine guten Freunde. Ich werde bald in den Salon hinunterkommen, wo wir noch einige Gäste haben. Schwester Magloire, die Tochter des Forsthüters, Marion Fargeot, wird ohne Zweifel heute Morgen aufs Schloss kommen. Ihr werdet Befehl geben, dass man sie sofort bei mir vorlasse. Ich will mich ausführlich mit diesem armen Geschöpf besprechen. Es ist dies vielleicht für mich eine Zerstreuung in dem Kummer, der mich verzehrt.«

Als Schwester Magloire schon im Begriff stand, sich mit dem Chevalier zu entfernen, sagte sie plötzlich: »Ach, Fräulein Christine, über der Freude, euch so gut zu sehen, habe ich ganz vergessen — der hochwürdige Pater Prior von Frontenac hat mich beauftragt, Euch um die Gunst einer Unterredung unter vier Augen zu bitten«

Christine ließ sich eine leichte Bewegung der Ungeduld entschlüpfen, dennoch aber antwortete sie in sanftem Ton: »Ich kann mich nicht weigern, den Prior zu empfangen. Sagt ihm daher, er möge kommen, liebe Schwester, ich erwarte ihn.«

Magnac und die Nonne verließen das Zimmer. Beide wünschten sich Glück, die ihrer Obhut anvertraute gebieterische junge Dame von so günstigen Gesinnungen beseelt zu sehen.

Indessen, während der Chevalier sich mit Enthusiasmus über Christines Fügsamkeit und Anstandsgefühl aussprach, sagte die heller blickende Schwester, indem sie den Kopf schüttelte: »Geduld, Geduld, Herr Chevalier! Ich liebe nicht so rasche Heilungen. Glaubt mir, es stehen unter solchen Umständen leicht Rückfälle zu fürchten, und Rückfälle sind in der Heilkunde etwas weit Schlimmeres als ursprüngliche Krankheiten.«

Und sie trennten sich, um ihren Pflichten nachzugehen.

Einige Augenblicke später trat der Pater Bonaventura in Christines Zimmer. Fräulein von Barjac saß düster und niedergeschlagen auf dem Sofa.

Beim Anblick des Priors erhob sie sich, verneigte sich zeremoniös und zeigte auf einen ihr gegenüberstehenden Sessel, ohne jedoch ein Wort zu sprechen.

Der Pater schien ebenfalls bekümmert und abgespannt zu sein. Nach den gewöhnlichen Komplimenten sagte er in ernstem Ton: »Ihr habt seit einigen Stunden grausamen Kummer erfahren, meine Tochter, und ich möchte gern glauben, dass Ihr ihn nicht verdient habt. Ich will jedoch keine Vorwürfe an Euch richten, während Ihr euer Unrecht schon tief zu fühlen scheint. Lieber will ich, so viel an mir ist, dieses Unrecht wieder gut machen helfen.«

Christine dankte dem Prior für seine zeitherige Güte und sprach den für die Zukunft festen Willen aus, den weisen Ratschlägen zu folgen, welche man ihr erteilte. Der Pater Bonaventura lächelte und seine Züge erheiterten sich ein wenig.

»Mit großer Freude, meine Tochter«, hob er wieder an, »höre ich Euch so sprechen. Bis jetzt – leider lässt es sich nicht anders sagen – habt Ihr Euch häufig undankbar und widerspenstig gegen die Personen gezeigt, welche Euer Vater auf seinem Sterbebett zu Euren Beschützern ausersehen hat. Ihre Absichten sind verkannt worden. Ihr habt Euch gegen die Gesetze empört, welche sie Euch im Interesse Eures Glückes, Eurer Würde auflegen wollten. Euer Widerstand ist sogar so hartnäckig gewesen, dass ich mich gefragt habe, ob er nicht vielleicht einen anderen Grund habe, als die wilde Unabhängigkeit Eures Charakters. Die Lage einer katholischen Bruderschaft in dieser halb protestantischen Provinz ist ganz besonders schwierig, und der Wohlstand und das Gedeihen unserer Abtei reizt alle schlimmen Leidenschaften gegen uns auf. Unsere Feinde und die Feinde unserer heiligen Religion verfolgen uns mit den widerwärtigsten Verleumdungen. Wäre es nun nicht vielleicht möglich, mein liebes Kind, dass diese Verleumdungen bis zu Euch gedrungen wären? Sind sie nicht vielleicht die Ursache der Entfremdung oder, rund heraus gesagt, des Widerwillens, den Ihr uns unter verschiedenen Umständen bewiesen habt?«

Christine antwortete in verlegenem Ton, dass die in Bezug auf die Väter von Frontenac in der Umgegend verbreiteten Gerüchte auf zu unbestimmten Behauptungen ruhten, um ernste Aufmerksamkeit zu verdienen.

»Und dennoch kennt Ihr sie, meine Tochter«, hob der Mönch in bitterem Ton wieder an, »und ich habe vollen Grund zu glauben, dass sie einigen Eindruck auf Euch gemacht haben. Was würde denn geschehen, wenn diese öffentlichen Gerüchte eine bestimmte Gestalt gewännen, wenn sie auf wirklichen, unbestreitbaren Tatsachen zu ruhen schienen, wenn sie endlich offen von angesehenen Personen behauptet würden? Würdet Ihr dann nicht die sein, welche den ersten auf ihre Wohltäter würfe? Würdet Ihr nicht die väterliche Sorgfalt verwünschen, welche sie Euch von Eurer Kindheit an gewidmet haben? Meine Pflicht gebietet mir daher, Euch, meine Tochter, gegen diese falschen Beschuldigungen zu warnen. Vergesst nicht, dass, möge auch geschehen, was da wolle, und möge auch der Schein sein, wie er wolle, die Väter von Frontenac ein Recht auf Eure Achtung, Eure Freundschaft haben.«

Fräulein von Barjac hörte mit düsterer Miene zu, als ob diese Hindeutungen ihr Misstrauen, anstatt es zu beschwichtigen, noch mehr erweckt hätten.

Der Prior fuhr fort: »Lassen wir diese Eventualitäten, die sich vielleicht niemals verwirklichen werden, vor der Hand auf sich beruhen. Ich hatte einen anderen Zweck, indem ich Euch um diese Unterredung bitten ließ. Es ist mir nicht gestattet, meinen Aufenthalt in Mercoire zu verlängern. Dringende Pflichten rufen mich zur Abtei zurück, wo infolge der Gebrechlichkeit unseres ehrwürdigen Abtes die Last der Geschäfte auf mir allein ruht. Unglücklicherweise hat, wie Ihr wisst, meine Anwesenheit hier nicht die beklagenswerten Ereignisse des gestrigen Tages zu verhindern vermocht. Da sie sich aber einmal nicht ändern lassen, so gedenke ich abzureisen, sobald die Gesundheit meines Neffen mir es erlauben wird, was nun nicht lange mehr dauern kann. Vor meiner Abreise aber wünsche ich mit Euch über gewisse Fragen zu sprechen, die für Eure Zukunft von größter Wichtigkeit sind.«

»Ich höre Euch, ehrwürdiger Vater«, entgegnete Fräulein von Barjac mit einem Gemisch von Neugier und Zurückhaltung.

Der Prior sammelte sich. »Meine Tochter«, hob er endlich in gewinnendem Ton an, »wir können, obwohl wir von der Wichtigkeil unserer Mission durchdrungen sind, über Euch nicht so viel Wachsamkeit ausüben, wie nötig ist. Als Beweis will ich nur die gestrige Katastrophe anführen, eine Katastrophe, deren Folgen wir uns bemühen müssen, abzuwenden und deren wirkliche Umstände ganz besonders nicht zur Kenntnis der Welt gelangen dürfen. Diese Tatsachen oder auch andere nicht weniger betrübende Tatsachen, können sich zu Eurem großen Nachteil wiederholen. Ich halte es daher für dringend notwendig, einen Entschluss in Ausführung zu bringen, welcher vom Kapitel von Frontenac bereits gefasst worden ist. Ihr werdet nun bald achtzehn Jahre alt. Es ist dies ein Alter, wo man nach dem Begriff der Welt zu unterscheiden beginnt. Deshalb werde ich Euch ohne Umschweif sagen, dass wir, die frommen Väter und ich, beschlossen haben, Euch so bald wie möglich zu vermählen.»

Bei dieser unerwarteten Verkündung wurde Christines Antlitz purpurrot.

»In der Tat, Herr Prior«, sagte sie in stolzem Ton, »Ihr und die hochwürdigen Väter sind allzu besorgt um mich. Wenn die von Euch übernommene Aufgabe, mich zu überwachen, Euch jetzt zu beschwerlich erscheint, so verzichtet doch darauf! Ich fühle mich fähig, mich allein zu leiten und zu schützen. Was eine fügsame Hinnahme des Gatten betrifft, den es Euch belieben wird, mir zu bezeichnen, so werde ich mich nicht darein fügen, denn ich werde mich niemals vermählen, wenn ich in meiner Wahl nicht frei bin.«

Der Prior lächelte. »Hm«, hob er an, »ich sehe, mein Kind, dass Euer Wille noch weit entfernt ist, von Euren soeben erst gemachten schmerzlichen Erfahrungen, wie man sagte, gebrochen zu sein. Aber könnt Ihr glauben, dass die Väter von Frontenac, von deren Güte und Gerechtigkeit Ihr so viele Beweise erhalten habt, Euer Gefühl tyrannisieren möchten? Dies ist durchaus nicht ihr Gedanke, denn sie haben nur Euer Glück im Auge. Auch beschwöre ich Euch, mir mit Aufrichtigkeit zu antworten. Sollte nicht Eure eigene Wahl sich schon auf jemanden gerichtet haben?«

Christine drehte rasch den Kopf herum. »Nein, auf niemanden«, antwortete sie.

»Überlegt es Euch wohl, meine Tochter, und lasst Euch durch keine falsche Scham zurückhalten. Antwortet mir, wie Ihr einer Mutter, einem Beichtiger antworten würdet. Gibt es unter den jungen Männern, die Ihr hier oder anderwärts gesehen habt, nicht einen, der Euch vorzugsweise Neigung eingeflößt hätte?«

»Nein« entgegnete Christine.

»Das ist sonderbar. Ich hätte geglaubt – doch da fällt mir ein, meine Tochter – vielleicht fürchtet Ihr, diese Zuneigung sehen zu lassen, weil sie vielleicht auf eine Person gefallen ist, deren Vermögensumstände und Rang unter den Euren stehen. Lasst Euch durch eine solche Rücksicht nicht abhalten, die Wahrheit zu bekennen. Wir wissen besser als Ihr selbst die Entfernung zu beurteilen, welche Euch vom Gegenstand Eurer Wahl trennt. Ich bitte Euch daher, um alle beklagenswerten Folgen zu vermeiden, Euch freimütig zu erklären.« Er heftete einen durchdringenden Blick auf Fräulein von Barjac, welche ihre Befangenheit nicht verhehlen konnte.

Mit einem gewissen Grad von Zorn antwortete sie: »Ich begreife nicht, hochwürdiger Vater, wodurch Ihr auf diese Idee gekommen seid. Ich bin zu stolz, um mich so weit zu erniedrigen, und wenn ein meiner unwürdiges Gefühl mir unbewusst in meinem Herzen Wurzel gefasst hätte, so würde ich doch Kraft genug haben, um es auszureißen.«

Der Prior sah sie immer noch an, als ob er an der Energie zweifelte, mit welcher sie prahlte. Plötzlich nahm er eine andere Miene an und hob in ungezwungenem Ton wieder an: »Ich freue mich sehr, dass dem so ist, Christine. Ich fürchtete, wie ich gestehen will, eine jener frivolen Leidenschaften, welchen die Jugend gern Wichtigkeit beilegt. Da ich mich aber geirrt habe, so hoffe ich, dass alles gut gehen werde.«

Fräulein von Barjacs Überraschung erreichte den höchsten Grad. »Wie so?«, fragte sie.

»Weil, da Euer Herz noch frei ist, Ihr keinen Grund haben werdet, die ehrenvolle Partie zurückzuweisen, welche die Väter und ich Euch vorzuschlagen gedenken.«

»Was? Wollt Ihr …«

»Es handelt sich, meine Tochter, um eine so glänzende Partie, wie Ihr sie nur wünschen könnt. Alle unsere Stimmen sind auf einen schönen, gebildeten, gut erzogenen jungen Mann von vornehmer Geburt und großem Vermögen gefallen.

Ganz gewiss werdet Ihr ihn mit Gunst empfangen, wenn er Euch vorgestellt werden wird.«

Christine sprang von ihrem Sitz auf. »Ihr irrt Euch, hochwürdiger Vater«, sagte sie im Ton der Aufregung. »Euer schöner, so reicher und so vollkommener junger Mann wird mir vielleicht missfallen. Um der Sache sofort ein Ende zu machen, erkläre ich, ich werde ihn niemals heiraten!«

»Aber warum denn nicht, meine Tochter?«

»Nun, gesetzt, ich wollte mich überhaupt nicht vermählen, ich wünschte meine Unabhängigkeit zu bewahren. Euer schöner Bewerber wird mir missfallen, dessen bin ich gewiss. «

»Aber woher wisst Ihr das? Ihr habt mich noch gar nicht weder nach seinem Namen noch nach seiner Stellung in der Welt, noch nach seinem Charakter, noch überhaupt nach etwas gefragt, was zu einem ernsten Entschluss bestimmen kann!«

»Was kommt weiter darauf an? Ich will ihn nicht kennen. Ich mag ihn nicht sehen. Lasst es Euch gesagt sein, Pater Prior, und verkündet es auch den übrigen frommen Vätern von Frontenac: Ich werde niemals den jungen Mann heiraten, von welchem Ihr jetzt sprecht.«

Sie brach ohne anscheinenden Grund in Tränen aus.

Der Prior bewog sie sich wieder zu setzen und sagte dann in liebkosendem Ton: »Kommt, meine Tochter, erklärt Euch offen gegen mich. Um auf diese Weise ohne nähere Prüfungen die ehrenvolle Partie zurückzuweisen, welche sich darbietet, müsst Ihr mich getäuscht haben oder Euch selbst über den wirklichen Zustand Eures Herzens täuschen. Gesteht es daher Eurem Freund, Ihr liebt jemanden, nicht wahr?«

»Nein nein, tausendmal nein!«, rief Christine mit dem Fuß stampfend.

»Aber welche Beweggründe …«

»Brauche ich wohl Beweggründe? Nehmt an, es sei ein unüberwindliches Vorurteil, eine Laune, wenn Ihr wollt!«

»Es ist ein Grund vorhanden, den Ihr nicht gesteht, meine Tochte«r, entgegnete der Prior in strengem Ton, »weil er aus einem tadelnswerten Gefühl hervorgeht. Trotz Eures Leugnens haben jene Verleumdungen, von welchen ich vorhin sprach, Eure Seele angesteckt und sie mit Galle gefüllt. Wenn Ihr auf diese Weise gleich von vorn herein den Plan zurückweist, den Eure Vormünder für Eure Zukunft entworfen haben, so geschieht es aus Hass gegen diese Personen selbst, aus Verachtung ihrer Autorität. Alles was von ihnen ausgeht, ist Euch verdächtig und erregt Euren Widerwillen. Ein seltsamer Lohn für so viel Sorge und Mühe!«, setzte der Mönch mit Bitterkeit hinzu. »Verhängnisvolle Undankbarkeit, die wir nicht verdient haben!«

Fräulein von Barjac versuchte nicht ein Gefühl zu leugnen, welches nur zu wirklich wahr war.

»Fräulein Christine«, hob der Prior in etwas kurzem Ton wieder an, »das Kapitel von Frontenac und ich, wir werden nicht dem weichen, was nach Eurem eigenen Geständnis weiter nichts als eine unverständige Laune ist. Wir sind Euch stets mit der äußersten Nachsicht begegnet und Ihr seht selbst, was unsere Sanftmut hervorgebracht hat. Wir besitzen nach dem Willen Eures Vaters unumschränkte Gewalt über Euch bis zu Eurer Vermählung. Von dieser Gewalt werden wir Gebrauch zu machen wissen. Beharrt daher nicht bei diesem Geist der Widerspenstigkeit, den ich durch die letzten Ereignisse gezähmt glaubte. Er hat genug Unglück angerichtet. Die Zeit ist da, ihm ein Ende zu machen. Bereitet Euch also darauf vor, den Bewerber, der Euch binnen hier und kurzer Zeit vorgestellt werden wird, geziemend zu empfangen. Wenn Ihr durch einen Eurer gewohnten Einfälle versuchen wolltet, unsere Befehle zu umgehen, so würden wir Mittel finden, Euch dies bereuen zu machen.«

Vielleicht hatte der Prior, indem er diese drohenden Worte an seine Mündel richtete, nicht die Wirkung vorausgesehen, welche er auf sie hervorbringen würde.

Christine zitterte vor Entrüstung, ihre Stirn runzelte sich, ihre Augen funkelten, und ihre Nüstern blähten sich auf. Einen Augenblick lang konnte man glauben, dass sie sich von ihrem Ungestüm hinreißen lassen würde. Der Wille aber beherrschte diesen inneren Sturm. Zum ersten Mal in ihrem Leben wusste Christine von Barjac ihren Zorn zu mäßigen, wenn auch nicht zu besiegen.

»Mein Vater«, sagte sie mit ein wenig zitternder Stimme, »Ihr habt Euch mir soeben in einem ganz neuen Licht gezeigt. Um so besser! Eine unverhohlene Feindseligkeit ist mir lieber als honigsüße Heuchelei. Man hat Euch nicht getäuscht, wenn man Euch versicherte, dass seit gestern mit mir eine Umwandlung vorgegangen sei. Ja, ich habe mich vollständig geändert und Ihr werdet bald den Beweis davon sehen. Fürchtet von meiner Seite keine neue Tat des Ungehorsams, keine direkte Beleidigung. Ich habe den festen Wunsch, künftig nicht mehr die Grenzen dessen zu überschreiten, was Ihr die Pflicht, die Schicklichkeit nennt. Ich werde mich ohne Murren in die zuweilen kindische Zurückhaltung fügen, welche man den Mädchen meines Standes auflegt. Nur vergesst nicht meine Worte, hochwürdiger Vater, und überliefert sie dem Kapitel von Frontenac: Kein göttliches oder menschliches Gesetz wird mich zwingen, den Gatten zu nehmen, den es Euch beliebt hat, für mich zu wählen und ich werde ihn niemals nehmen … niemals … niemals!«

Sie wiederholte diese letzten Worte mit einer außerordentlichen Heftigkeit.

Der Prior betrachtete sie mit mitleidiger Miene. »Ich muss mich«, entgegnete er, »für den Augenblick mit der Versicherung begnügen, welche Ihr mir gebt, künftig als bescheidene, zurückhaltende Jungfrau zu leben. Das Übrige wird sich später finden. Ihr werdet heilsame Betrachtungen anstellen, Ihr werdet den Rat Eurer Vernunft anhören. Ich bin überzeugt, wenn Ihr den Mann kennenlernen werdet, den wir Euch bestimmt haben …«

»Ich werde ihn mit Höflichkeit empfangen, hochwürdiger Vater, aber erwartet nichts weiter. Ja, lieber würde ich meine Hand dem letzten Untertan meiner Herrschaft reichen als diesem Unbekannten, den ich schon verabscheue.«

»Willigt bloß ein, ihn zu sehen«, sagte der Mönch lächelnd, »und bis dahin vertagt jeden vorzeitigen Entschluss. Doch lassen wir auch diesen Gegenstand ruhen, meine Tochter«, fuhr er in verändertem Ton fort, »und kommen wir auf einen anderen, der für Euch nicht weniger peinlich sein wird. Trotz aller unserer Bemühungen scheinen sowohl hier als auch anderwärts nur wenig Personen zu glauben, das der Baron von Laroche-Boisseau sich selbst auf der Jagd verwundet habe. Man hält die Umstände zusammen, man vergleicht sie und man vermutet schon die Wahrheit. Nun aber wäre Gefahr für Euren Ruf vorhanden, wenn diese Wahrheit bekannt würde.«

»Ja, ja, Ihr habt recht, mein Vater«, rief Christine. »Ich stürbe vor Scham, wenn man erführe … Aber dieser Mann wird doch nicht so verworfen sein, seine eigene Schande zu offenbaren?«

»Ich hoffe es auch nicht, meine Tochter, und ich glaube auch derer sicher zu sein, welche Kenntnis von Eurem Geheimnis haben. Der Gefährlichste wäre vielleicht jener Bürgerssohn, Monsieur Legris. Der Chevalier aber versichert ihm eine solche Furcht eingejagt zu haben, dass Legris nicht wagen wird, ein Wort von dem zu sagen, was er gesehen hat. Nichtsdestoweniger können viele Umstände die Müßigen und Neugierigen auf die Spur von Entdeckungen bringen, und Euer übrigens sehr natürlicher Abscheu vor Herrn von Laroche-Boisseau wird Stoff zu allerhand Vermutungen geben.«

»Aber was wollt Ihr, dass ich tue, hochwürdiger Vater? Ist es nicht schon genug, dass ich diesen Elenden unter mein Dach aufgenommen habe?«

»Die Klugheit ebenso wie die Menschlichkeit, meine Tochter, verlangte dies. Wie würde in den Augen der Welt Eure Weigerung erschienen sein, in Euer Haus einen Edelmann aufzunehmen, der sich in Eurem Dienst schwer verwundet? Die Deutung wäre zu klar, zu leicht gewesen. Doch geduldet Euch, meine Tochter. Der Baron wird Mercoire verlassen, sobald er imstande ist, ohne Gefahr transportiert zu werden.«

»Mein Vater, Ihr glaubt also, dass er davonkommen werde?«

»Das weiß nur Gott, meine Tochter. Um aber der öffentlichen Meinung eine andere Richtung zu geben, ist es notwendig, dass Ihr womöglich Euren gerechten Zorn gegen Herrn von Laroche-Boisseau verbergt, dass Ihr selbst in Bezug auf ihn die Rücksichten nehmt, welche ein kranker Gast das Recht hat, von der Herrin des Hauses zu erwarten. So wäre es zum Beispiel klug, wenn Ihr ihm sofort einen Besuch machtet, damit es sämtliche Fremde erfahren, die gegenwärtig noch in Mercoire anwesend sind. Dann hätte die Böswilligkeit keine Nahrung mehr.«

»Wie, mein Vater, Ihr wünscht. Aber selbst wenn ich keinen Grund hätte, diesen Mann zu meiden, wäre dann nicht der Schritt, den Ihr mir anratet, dem herrschenden Gebrauch zuwider?«

»Es gibt Fälle, wo Brauch und Sitte den Rücksichten der Menschen weichen müssen. Dieser Besuch wird ganz natürlich erscheinen und wie sollte man sich darüber wundern, da man Euch vor noch nicht zwei Tagen Leonce, meinen Neffen, einem armen, geringen Knaben, der kein Recht auf eine so ausgezeichnete Gunst hatte, beinahe in Euren Armen tragen gesehen hat.«

Christine errötete sehr über diese Erinnerung. »Wohlan, es sei, mein hochwürdiger Vater«, hob sie wieder an. »Wenn ich auch später die Opfer verweigern muss, welche Ihr von mir verlangen werdet, so kann ich Euch wenigstens hierin zufriedenstellen. Ich werde mich also in das Zimmer des Herrn von Laroche-Boisseau begeben. Ich werde mich bemühen, meinen Widerwillen, meine Verachtung, meine Selbstvorwürfe in seiner Gegenwart zu verbergen. Ich werde mit Mund und Miene lügen, weil es sein muss. Es wird dies eine erste und harte Buße für meine begangenen Fehler sein.«

Der Prior erhob sich. »Mut, meine Tochter!« sagte er in gütigem Ton. »Ich erwarte von diesem Schritt das beste Ergebnis. Ihr werdet mich im Zimmer des Verwundeten finden und ich werde dafür sorgen, dass Euer Besuch die größtmögliche Anzahl von Zeugen habe. Ganz gewiss, Christine«, setzte er lächelnd hinzu, »Euer unglücklicher Geist des Ungehorsams beginnt sich zu mildern. Schon mehrmals im Laufe unserer gegenwärtigen Unterredung ist es Euch gelungen, das Aufbrausen Eures Gemüts zu meistern. Das sind Anzeichen von günstiger Vorbedeutung und ich habe die Hoffnung, dass Ihr Euch endlich den innigsten Wünschen Eurer Freunde fügen werdet.«

»Mein Vater, rechnet nicht darauf, dass ich jemals …«

»Gut, gut. Lasst mir meine Illusion, wenn es eine ist, und verderbt nicht die Freude, welche Eure gegenwärtige Fügsamkeit mir einflößt. Auf baldiges Wiedersehen, meine Tochter. Gott möge Euch beraten und erleuchten.«

Mit diesen Worten verließ er das Zimmer.

Als er fort war, versank Christine in tiefe Betrachtungen. »Er scheint mit dieser Unterredung sehr zufrieden zu sein«, murmelte sie misstrauisch. »Sollte er mir eine Schlinge gelegt haben? Man versichert, dass dieser Prior eine ungeheure Geschicklichkeit besitzt, Intrigen anzuspinnen, und ich — mein Gott! Wie soll ich mich seinen Künsten entziehen?«

Der Pater Bonaventura seinerseits sagte, während er sich auf sein Zimmer zurückbegab, zu sich selbst: »Sehr gut! Auf die eine oder andere Weise muss es sich Entscheiden. Ich bin des Erfolges sicher, dafern nicht eines jener Ereignisse eintritt, durch welche zuweilen die weisesten menschlichen Berechnungen zunichtegemacht werden.«