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Der Detektiv – Das Geheimnis des Czentowo-Sees – 2. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 7
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Das Geheimnis des Czentowo-Sees

2. Kapitel
Schraut wird noch klüger

Halb zwölf abends. Den Wartesaal 3. Klasse des Stettiner Bahnhofs in Berlin betrat ein recht bescheiden gekleideter buckliger Mann, der außer einem großen Pappkarton noch einen Violinenkasten trug. Er setzte sich in eine Ecke, bestellte ein Glas Bier und sog an seiner Zigarre, die längst ausgegangen war. Dabei überlegte er so allerlei. Dass Harst erst später ihm nach Szentowo folgen wollte und er nun dort allein zunächst das Terrain sondieren sollte, gefiel ihm gar nicht. Er glaubte sich dieser Aufgabe nicht gewachsen. Anderseits sagte er sich aber, dass seines Herrn Vorschlag, er solle dort in der Verkleidung eines wandernden Musikanten auftreten, recht gut gewesen war. Nur erschien es ihm überflüssig, dass Harst verlangt hatte, er müsste das Haus in der Blücherstraße, in dem Frau Auguste Harst nun bereits ein Lebensalter wohnte, durch den Gemüsegarten und den hinteren Ausgang des Grundstückes verlassen. Wozu diese Vorsicht? Das sah ja gerade so aus, als nähme sein Herr an, das Haus würde beobachtet!

Es wurde Zeit, sich ein Plätzchen in der 4ter Klasse des Personenzuges nach Danzig zu sichern. Schraut-Schüler bezahlte das Bier, nahm Karton und Violinenkasten und schlurfte hinaus auf den Bahnsteig. Seine Maske war vorzüglich. Er war ja auch ein recht befähigter Schauspieler gewesen, ehe er sich dem Trunk ergab und dann schließlich Taschendieb wurde. Nun, er würde diese gefährliche Fingerfertigkeit nie mehr zum Schaden seiner Mitmenschen ausüben. Harst hatte ihn nun auf den rechten Weg zurückgeführt, und von dieser ehrlichen Straße wollte er nie wieder abweichen – nie wieder!

Der Andrang zum Personenzug war nicht groß. Er fand in der Vierten ein Eckplätzchen und machte es sich bequem. Nach ihm kamen noch zwei Frauen mit vielen Paketen und ein älterer Mann herein. Dann nach einer Weile noch ein Kollege von ihm, ein rotbärtiger, schlotteriger Mensch mit einer blauen Brille und einer kleinen Drehorgel.

Der Drehorgelspieler nickte ihm, als er den Violinenkasten sah, kameradschaftlich zu und stellte sein Instrument auf die Bank neben ihn, sagte dazu mit heiserer Säuferstimme: »Passen Sie doch ’n bisschen auf meine Quietschkiste auf.« Dann verließ er den Wagen wieder und kehrte erst zurück, als der Zug sich bereits in Bewegung setzte. Er nahm mit einem »Na, da wären wir ja!« neben Schraut-Schüler Platz und holte eine dicke Stulle hervor. »Möchten Sie was abhaben?« fragte er. »Ich bin von Frau Auguste Harst gut versorgt worden …«

»Sie … Sie sind’s?«, stotterte der Komiker.

»Vorsicht! Wir sind Kollegen, die sich hier zufällig getroffen haben. Danach richten Sie sich. Hier, greifen Sie zu, essen Sie. Wir haben mit dem Bummelzug zwölf Stunden zu fahren. Glaubten Sie wirklich, ich wollte Sie allein reisen lassen? Nein, da hätte ich wohl kaum unseren jungen Freund Karl Malke nachmittags mit so viel Aufträgen herumgehetzt und mir von Ihnen nicht noch schnell eine Unterrichtsstunde im Schminken, Bartbefestigen und so weiter geben lassen! Nicht wahr, die Hausmacher-Dauerwurst meiner Mutter ist großartig! Wenn der Schaffner die Fahrkarten nachsehen kommt, wollen wir fragen, ob wir nicht hier und in den anderen Wagen Vierter ein wenig musizieren dürfen. Vielleicht haben wir Glück und stöbern einen braven Landmann aus Szentowo oder Umgebung auf, mit dem wir uns anbiedern können. Sie verstehen, Kollege, so ein bisschen aushorchen nach diesem und jenem! Übrigens: Blenkner war vorhin auf dem Bahnsteig. Er hat wohl gedacht, wir hätten den Elf-Uhr-Schnellzug versäumt. Er hatte auch seinen Freund wieder mit, denselben Mann, der heute Nachmittag in der Blücherstraße patrouillierte. Ist Ihnen das nicht aufgefallen? Nein? Aber, Kollege, Sie wollen doch Detektiv werden! Da muss einem alles aufstoßen, alles, jede Kleinigkeit, auch Kalkspuren am Stiefeloberleder, das einen dann auf einen Neubau hinleitet, wo man durch eine Zigarrenspende erfährt, dass Blenkner dort vor dem Regenguss Schutz gesucht hat.«

»Ah – endlich, Herr nein, nicht Herr, sondern Kollege, endlich höre ich nun auch Näheres über das, was …«

»Ja – alles werden Sie hören. Es ist recht viel. Es ist das Vorspiel für Szentowo. Also: Ich war beim Chefredakteur der bewussten Zeitung. Diese verdankt die Einzelheiten über das Geheimnis des Sees einem Brief mit unleserlicher Unterschrift. Das Schreiben traf gestern elf Uhr abends durch einen Dienstmann ein, eine Stunde nach Abschluss der Wette also, die ja bereits Tags zuvor in Anregung gebracht worden, aber noch nicht in ihren einzelnen Bestimmungen festgelegt war. Wie gesagt: unleserliche Unterschrift. Einleitende Sätze etwa: Es dürfte Sie interessieren, dass soeben im Universum- Klub – und so weiter. Ich kann Ihnen nun auf Grund eigener Sachkunde über diese erste Aufgabe, das heißt, über das Geheimnis des Szentowo-Sees, Folgendes mitteilen … Auf diese Weise war das Blatt imstande, gleich morgens seinen Lesern jene Einzelheiten zu bringen. Unleserliche Unterschrift und falsche Adresse! Denn ich habe Markgrafenstraße Nr. 35 das ganze Haus abgeklappert. Da wohnt nicht einer, der Szentowo kennt. Was hätten Sie nun nach diesen Feststellungen getan, Kollege?«

»Hm – schwer zu sagen.«

»Leicht zu sagen! Der Briefschreiber muss doch fraglos unter den Mitgliedern des Klubs einen Bekannten gehabt haben oder selbst zum Klub gehören. Woher sonst die schnelle Kenntnis vom Abschluss der Wette und sogar vom Inhalt der ersten Aufgabe? Ich fuhr also in den Klub und fragte zunächst den Hauswart, ob gestern Abend kurz nach zehn Uhr jemand von den Herren das Klubhaus verlassen hätte. Antwort: »Ja, Herr Doktor von Beltz; zusammen mit dem Herrn, der schon einige Male in letzter Zeit als Gast hier war.«

Da wusste ich Bescheid. Dieser Gast konnte es sein, der die Redaktion eine Stunde später benachrichtigt hatte, und dieser Gast …«

»Ich darf wohl den Namen nennen«, unterbrach Schraut-Schüler ihn schnell. »Es wird derselbe Herr sein, den mir heute Vormittag das Stubenmädchen im Fremdenheim Menkwitz als den Intimus Blenkner bezeichnete – der Güterdirektor Bollschwing aus Szentowo.«

»Stimmt – Bollschwing, der hier in Geschäften weilt und der die Besitzungen des Grafen von Lippstedt, des Schlossherrn von Szentowo – denken Sie an den Artikel! – verwaltet, derselbe Bollschwing auch, der vorhin Blenkner die Arbeit abnahm, diesen Zug nach uns zu durchsuchen, natürlich nur die erste und zweite Klasse, denn mich als Millionärssohn vermutete man nicht dritter oder gar vierter Güte, und der nachmittags unsere Blücherstraße unsicher machte. So, nun wissen Sie alles, bis auf den Inhalt eines Telefongesprächs nach außerhalb und einen Besuch bei Doktor von Beltz und einen zweiten bei einem Privatdetektiv. Und nun zeigen Sie, dass Sie Schlussfolgerungen ziehen können.«

»Bollschwing und Blenkner stehen zum Geheimnis des Sees irgendwie in Beziehung, und … und … Ja, das wäre wohl alles.«

»Hm – etwas wenig, lieber Kollege. Wir müssen Folgendes beachten: Blenkner hat uns belogen. Er hat, wie Sie herausgebracht haben, das Fremdenheim bereits um sieben Uhr morgens gemeinsam mit Bollschwing verlassen, der eine halbe Stunde vorher zu ihm gekommen war. Und er hatte eine Morgenzeitung überhaupt noch nicht zu Gesicht bekommen, als er mit dem Güterdirektor fortging. Erst um halb zehn erscheint er dann bei mir, erfindet sehr ungeschickt als Vorwand seines Besuchs die Geschichte vom Diebstahl und fragt, wann und ob ich in einer Verkleidung zu reisen gedenke. Ich glaube, diese Frage war der Hauptzweck seines Kommens. Der Nebenzweck aber der, mich von Angesicht zu Angesicht kennenzulernen, nachdem er umsonst in der Blücherstraße von etwa halb acht an darauf gewartet hatte, dass ich meine Wohnung verlassen und ihm so Gelegenheit geben würde, mich draußen genauer betrachten zu können. In dieser Zwischenzeit wird ihm dann der Einfall gekommen sein, persönlich bei mir vorzusprechen – unter einem Vorwand, den er wahrscheinlich für sehr gelungen hält. Gewiss, Bollschwing, der mich ja im Klub gesehen haben muss, wenn ich mich auch nicht auf ihn bei der Menge der eingeführten Gäste besinne, wird Blenkner eine genaue Beschreibung von mir gegeben haben. Und nachmittags finden wir dann Bollschwing in der Blücherstraße, wo er doch nur meinetwegen sich stundenlang aufgehalten haben wird. Was geht aus alledem mit unfehlbarer Sicherheit hervor? Sehr einfach: ein so übergroßes Interesse dieses Freundespaares an dem Mann, der sich anmaßt, das Geheimnis des Sees zu ergründen, dass man notwendig auf den Gedanken kommen muss, diese beiden Herren stehen zu dem Geheimnis in irgendwelchen nicht ganz einwandfreien Beziehungen, die sie veranlasst haben, mir jene etwas stark auffällige Aufmerksamkeit zu schenken. Kurz: Sie fürchten mich, wollen daher wissen, wann und ob ich verkleidet fahren werde, und geben sich alle Mühe, mich schon vor meiner Abreise so etwas dadurch ängstlich zu machen, dass sie den Kommissar und den Professor für den Zeitungsbericht erfinden. Ich sage – erfinden! Mich hatte es nämlich stutzig gemacht, dass Blenkner heute Vormittag bei uns erklärte, auch ihm wäre so etwas Ähnliches mal zu Ohren gekommen. Er gebrauchte vorsichtigerweise diese Worte, um sich nicht festzufahren. Mir fielen sie aber auf, da er doch als Neffe des Schlossherrn von Szentowo ohne Zweifel sehr genau über jene Unfälle hätte unterrichtet sein müssen und nicht behaupten durfte, ihm wäre dergleichen nur zu Ohren gekommen! Ich wollte sofort Gewissheit haben und ließ mich mit dem Gemeindevorsteher in Szentowo telefonisch verbinden, bat um strengste Diskretion und fragte nach dem Kommissar und dem Professor, die beinahe auf dem See verunglückt wären. Antwort: »Hier ist nichts dergleichen bekannt und auch nicht passiert – ganz bestimmt nicht. Ich müsste das wissen. Der Herr Graf von Lippstedt hat die Sache nur im letzten Herbst durch einen Berliner Detektiv untersuchen lassen, dieser ist aber sehr bald wieder abgereist. Der Detektiv hieß Holzmüller und war ein Berliner.« So, Kollege, nun wissen Sie auch, was es mit dem vorhin erwähnten Telefongespräch nach außerhalb für eine Bewandtnis hat, und nun brauche ich nur über die Besuche bei Doktor von Beltz, meinem Klubgenossen, und bei Detektiv Holzmüller kurz zu sprechen. Beltz lobte – er ist zuverlässig und verschwiegen – Bollschwing über alle Maßen als vornehmen Charakter und tadellosen Ehrenmann. Auch Blenkner ist ihm persönlich bekannt. Über diesen hörte ich ein ähnliches Urteil nur mit der kleinen Einschränkung: sehr adelsstolz und verschlossen. Dann zu Holzmüller. Der war eine Niete. Wusste nichts, gar nichts von Bedeutung, hatte acht Tage im Schloss Szentowo, das ganz dicht am See liegt, gut gegessen und getrunken, vierhundert Mark Honorar eingesteckt und nur ermittelt, dass der See steinigen Grund hat und durchschnittlich acht Meter tief ist. Während seiner Anwesenheit blieb das rätselhafte Leuchten aus. Die Seenixe streikte eben.«

Harst hatte inzwischen zwei belegte Brote verzehrt, klappte nun den Deckel seiner Drehorgel auf, in die ein Vorratskasten oben eingebaut war und sagte: »Karl Malke hat für das Ding 200 Mark bezahlt. Es ist noch ziemlich neu, spielt drei Walzer, ein Volkslied, einen Marsch und einen Choral. Wir werden gemeinsam hier im Zug musizieren. Sie begleiten die Walzer auf der Geige. Diese Art Orchester ist neu.« Er holte ein Kognakfläschchen heraus und reichte es Schraut-Schüler. »Nehmen Sie einen Schluck. Etwas Schnapsgeruch gehört zum Musikanten«, meinte er. »Wohl bekomm’s! Trinken wir auf einen guten Erfolg! Wir haben ja die besten Aussichten dazu. Wäre Blenkner nicht als Ratsuchender bei mir erschienen, so würden wir jetzt noch so gut wie nichts wissen. Nun aber sind wir bereits gewarnt – vor diesem Freundespaar, das uns fraglos in Szentowo gern das Leben recht sauer machen würde, wenn – sie es könnten, und das sich nun geteilt hat und getrennt seine dunklen Zwecke weiterverfolgen wird, nämlich Blenkner in Berlin und Bollschwing daheim in Szentowo, denn der Güterdirektor sitzt vorn in einem Abteil 2ter dieses Zuges. Das ist vorläufig meine letzte Neuigkeit.«

Schraut-Schüler schaute etwas verlegen drein. »Neben Ihnen kommt man sich nicht gerade sehr geistvoll vor, Herr Harst«, meinte er kleinlaut. »Sie haben ja bei der Ermittlung des Doppelmörders Menkwitz Vorzügliches geleistet, ich denke dabei besonders an das Taschentuch, aber – die jetzige Arbeit scheint mir doch die feinere, besser durchdachte.«

»Oh – das soll sich erst herausstellen. Wir sind ja erst am Anfang. Warten wir die Fortsetzung ab. Da ist auch der Fahrkartenschaffner …« Er fragte diesen, ob sie nicht hier ein wenig Musik machen könnten, erhielt jedoch die Antwort, die Reisenden wollten nachts schlafen. Morgens – das wäre was anderes.

Harst hatte jedoch in diesem Fall falsch gehofft. Trotz der Anbiederung mit den Reisenden sämtlicher Wagen 4ter Klasse fand er dann keinen Mitfahrenden, der aus Szentowo oder der Nachbarschaft stammte.

Nachmittags gegen zwei Uhr traf der Zug auf der kleinen Station Malchin ein. Hier stieg auch Bollschwing, ein kräftiger, stattlicher Mann in den besten Jahren, aus und begab sich zum auf ihn wartenden leichten Jagdwagen, rief dem Kutscher zu, er solle zum Pommerschen Hof vorausfahren und ging dann zu Fuß in das Städtchen hinein, das sich zu beiden Seiten des Bahnhofs hinzog.

Bollschwing schritt sehr eilig dahin. Harst gab Schraut die Weisung, ihn in einer Kneipe, an der sie vorüberkamen, zu erwarten. Mit der Drehorgel auf dem Rücken hielt er sich stets einige dreißig Meter hinter Bollschwing, der bald eine Art Vorstadt betrat, deren Villengrundstücke sämtlich in einer Waldlichtung lagen und an den Forst grenzten. Das letzte Haus war des Güterdirektors Ziel. Es war von Tannen und Buchen dicht umgeben. Harst zweifelte nicht, dass es dasjenige des Schriftstellers Blenkner wäre. Nachdem er die Drehorgel eilig in einem nahen Gebüsch versteckt hatte, kletterte er von der Seite über den niedrigen Holzzaun und schlich auf das kleine, freundliche Gebäude zu. Der Garten war recht groß. Als Harst nun eine laute Stimme hörte, die wiederholt »Marie – Marie!« rief, dachte er sogleich an Blenkner alte Wirtschafterin. Er wagte sich weiter vor. Schlimmstenfalls konnte er ja den Bettler spielen.

Marie hatte im Gemüsegarten die Erdbeerbeete in Ordnung gebracht, kam nun Bollschwing entgegengelaufen und wurde von diesem durch Handschlag begrüßt.

Harst lag jetzt hinter einem großen Jauchefass. Aber die beiden sprachen so leise, dass er nur wenige Worte verstand.