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Diane Teil 1 – Kapitel 14

Alexander von Ungern-Sternberg
Diane
Ein Kriminalgemälde der modernen Gesellschaft
Berlin, 1842, Buchhandlung des Berliner Lesekabinetts

Vierzehntes Kapitel

Bekenntnisse eines armen Kandidaten

Wenn unsere Lippe zum ersten Mal die Bitterkeit spürt, mit der die Schale des Leids gefüllt ist, dann schaudern wir krampfhaft zurück und stoßen unwillig den Kelch vom Mund. Wir wollen lieber sterben, als trinken, aber die Schale nähert sich immer wieder. Der krampfhafte Schauder lässt nach, die milde Pflegerin Religion lehrt uns die Heilkräfte des Trankes kennen, und wir wählen nicht den Tod, sondern den Kelch des herben Leids, und leeren ihn, wie wohl immer noch unter heftigen Qualen, bis auf den letzten Tropfen seiner schweren Hefe. Das ist die Geduld des Weisen, das erzwungene Lächeln der Demut, die verhüllte Todeswunde des Frommen.

Diane war jung und stolz, und sie schauderte, als ihr der Becher gereicht wurde.

»Lieber sterben!«, rief sie, indem sie sich unter Tränen auf ihrem dürftigen Lager wand. »Aber, kann ich nicht fliehen? Er soll nie, nie wieder von mir hören, nie wieder durch mich belästigt werden. Ich werde in die weite Welt gehen, fern, fern von hier, zurück in das Dunkel, aus dem ich kam!«

In der leidenschaftlichen Aufregung des armen Mädchens war das Ergreifen dieses Entschlusses und das Ausführen desselben eins. Sie sprang von ihrem Lager auf, griff aufs Geradewohl einige Kleidungsstücke zusammen, schnürte sie in ein Bündel, und indem sie angsterfüllt, aber entschlossen, sich der Treppe näherte, blieb sie nahe an der Tür der Frau Sempel stehen, um zu lauschen, ob diese schliefe. Sie hörte die schweren Atemzüge ihrer Pflegemutter, sie kniete an der Schwelle nieder. Indem sie ein kurzes Gebet gesprochen hatte, in welchem sie die Schlummernde der Obhut Gottes empfahl, stieg sie rasch hinab, öffnete mit einem Nachschlüssel die Tür, drückte sie wieder hinter sich ins Schloss und befand sich nun auf der Straße, als eben die früheste Morgendämmerung mit den Schatten der Nacht zu kämpfen begann. Der Mond stand noch verblasst am Himmel. Zu ihm aufschauend zuckte es durch die Seele des armen Flüchtlings, und jene Szene des Abends trat lebendig vor sie.

Sie wanderte die Straße hinab, indem sie die Stadt hinter sich ließ, und erreichte bald die letzten Häuser. Als sie an einem einsam stehenden, ärmlichen Kaufladen vorbeiging, erblickte sie schon das weit gedehnte Feld vor sich. Ein Schlächter, der Vieh zur Stadt trieb, blieb stehen und sah sich das so leicht dahinwandelnde, zarte Mädchen mit dummem Staunen an. Eine Milchfrau, die ihren hundebespannten Karren vor sich hinlenkte, machte gleichfalls halt und ließ ihr rautönendes Wo will Sie hin, Mamsellken? ertönen. Der Schlächter wartete, bis die Milchfrau ihm in die Schussweite des Wortes kam, und teilte ihr dann seine mutmaßlichen Ansichten und Bemerkungen über die Wanderin mit. Diane hörte ihr rohes Gelächter, zugleich das Bellen der Hunde, das Brüllen des Viehs hinter sich her erschallen. Sie schwellte noch flüchtiger die Landstraße dahin. Sie legte eine Stunde Wegs zurück. Ihre Kräfte fingen an, nachzulassen. Die helle Morgensonne warf ihre Strahlen über das weite Land, in der Ferne sah man den Nebel der großen Stadt und erkannte undeutlich die Form einzelner Türme und Kuppelspitzen. Nirgends war ein Dorf oder eine Schenke zu sehen, überall Feld. Am Horizont ein langgedehnter, bläulicher Waldstreifen. Diane setzte sich auf einen Steinhaufen, der zur Verbesserung der Chaussee am Weg aufgestellt war. Ihr Haupt auf die Hand stützend, verfiel sie in traurige Betrachtungen. Wo sollte sie hin? Wer sorgte für sie in der weiten Welt? Als sie zufällig aufblickte, sah sie einen schönen Vogel, der sich in geringer Entfernung von ihr auf einem spitzen Stein schaukelte und dessen kluges Auge auf sie gerichtet zu sein schien. Er war so zierlich gebaut, sein kleiner Leib zeigte so schimmernde Farben, dass Diane unwillkürlich die Hand aufhob, um ihn zu erhaschen. Da entfloh er weit, weit in die freien, frischen Morgenlüfte hinein. Dieses Beispiel gab ihr Mut. Sie war ja auch jung, auch ein freies Vögelchen, sie wollte sich ebenso in die Lüfte erheben und in die weite Ferne hinausziehen. Schnell griff sie wieder nach ihrem Bündel und ging rüstig weiter. Eine Stunde legte sie noch zurück, da fand sie eine Schenke, in welche sie eintrat und sich ein frugales Frühstück geben ließ. Mit der freundlichen Magd, die es ihr brachte, knüpfte sie ein Gespräch an und teilte ihr den Wunsch mit, in einen Dienst zu treten. Die Magd wies sie zu einer alten Dame, die, wenige Stunden entfernt, in einem kleinen Landhäuschen wohne und ein städtisches Kammermädchen suche. Diane hörte dies mit großer Freude, denn als sie das Frühstück bezahlte, sah sie mit Schrecken, dass die mitgenommene Barschaft nicht mehr weit reichen würde. Sie hatte nur das wenige, was sich im Beutel vorgefunden, zu sich gesteckt. Ihre übrigen ziemlich bedeutenden Ersparnisse hatte Frau Sempel in Verwahrung.

Das Landhäuschen der alten Dame war weiter entfernt, als die Magd angegeben hatte. Erst spät am Abend, müde und hungrig, erreichte die Wanderin ihr Ziel und stand vor einer hohen, verschlossenen Hofpforte, die erst nach langem wiederholten Pochen von einem herkulisch ausschauenden Hausknecht geöffnet wurde. Als er das Mädchen vor sich sah, erheiterten sich seine grollenden Mienen. Er meldete Diane bei seiner Gebieterin an. Die alte Dame ließ sie sogleich vor sich kommen und sah sie mit einem prüfenden Blick vom Kopf bis zu den Füßen an. Diane hatte unterdessen Zeit, das Zimmer zu mustern und zehn kleine Betten mit Staunen zu betrachten, in denen vielfarbige Katzen lagen und schlummerten. Ein großer braun und schwarz getigerter Kater stand auf dem Fensterbrett. Indem er einen hohen majestätischen Buckel machte, gähnte er in die Morgenluft hinaus, die in das kleine Fenster hereinwehte und die weißen Vorhänge wie zwei Segel aufblähte.

Die Dame nahm ihre grüne Brille, die sie während der Prüfung aufgesetzt hatte, vorsichtig ab, lüftete ein wenig die breiten Flügel ihrer Nachthaube und fragte dann, nachdem sie sich vom Namen des Mädchens in Kenntnis gesetzt hatte, wo ihr Dienstzeugnis sei. Diane erschrak und gestand, dass sie kein solches habe. Die Dame kniff die Augen ein, sperrte den zahnlosen Mund weit auf und sah mit dieser nicht sehr anziehenden Mimik ihr künftiges Kammermädchen an. Darauf nahm sie eine Prise und schnarrte dann: »Also entlaufen?«

Diane wusste nicht, was sie antworten sollte, und wurde rot bis an die Stirn. Die Alte fühlte sich in ihrem Argwohn bestärkt. Sie wiederholte noch einmal und noch ausdrucksvoller ihre vorherige Grimasse und klingelte dann. Der herkulische Hausknecht trat wieder herein. Seine Gebieterin zischelte ihm ein paar Worte ins Ohr, worauf er sich mit einem spottenden und frechen Blick auf Diane entfernte. Nicht lange darauf trat ein kleiner Mann ein, der eine schäbige Uniform trug und stark nach Branntwein duftete. Diane wich scheu vor ihm zurück. Er schien sich dieses Eindrucks, den er hervorbrachte, zu freuen und blinzelte mit seinen kleinen grauen stechenden Augen das Mädchen an. Bei seinem Eintritt waren alle Katzen in den Betten aufgewacht und spielten miauend um seine krummen, mageren Beine her. Er liebkoste eine nach der anderen und fragte dann die Alte, was sie von ihm begehre.

»Hier ist wieder so eine verlaufene liederliche Dirne«, tönte die Antwort, »die bei mir eine Freistätte sucht. Ihr müsst sie in die Stadt zurückbringen, so wie Ihr es mit jener machtet, die vor drei Tagen hier war und sich für eine vornehme Dame ausgab.«

»Ha, ha, ha! Sie sitzt im Zuchthaus!«, entgegnete der Grenzwächter.

»Um Gotteswillen!«, rief Diane und wandte sich zitternd zur Alten. »Was habt Ihr mit mir vor? Ich kam zu Euch in der redlichsten Absicht.«

»Ja, so sprechen sie alle«, rief der Grenzwächter. »Kommen Sie mit mir, Mamsellken. Es soll Ihnen nichts Übles geschehen!«

»Nimmermehr!«, rief das geängstigte Mädchen und klammerte sich an den Tisch, wodurch sie bewirkte, dass die grüne Brille herabfiel.

»Ha! Sie zerbricht mir noch mein Glas!«, kreischte die Alte. »Mach Sie, dass Sie fortkommt, Sie abscheuliches Weibsstück! Tu Er Seine Schuldigkeit, Herr Petermann, Er sieht ja, eine alte, wehrlose Dame wird belästigt!«

Diane sprang auf. Einen verachtenden Blick auf die Alte werfend, die sich wie verrückt gebärdete, sagte sie zum kleinen Mann in der Uniform: »Ich werde allein in die Stadt zurückkehren.«

»Das geht nicht, Mamsellken! Ohne mich keinen Schritt.«

»Ach, habt Erbarmen mit mir, was wird man sagen, wenn ich mit Euch zurückkomme? Nehmt hier alles Geld, was ich habe, und lasst mich gehen. Ich gelobe es, ich kehre in die Stadt zurück!«

Ohne weitere Erwiderung führte der Wächter die sich Sträubende hinaus. Draußen nahm er das angebotene Geld und sagte mit einer völlig veränderten, sehr freundlichen Stimme: »Sein Sie ruhig, ich bringe Sie zwar in die Stadt, aber niemand soll erfahren, dass ich mit Ihnen gehe. Wir wollen das schon so geschickt einrichten.«

Und so geschah es auch. Überall, wo ihnen Leute begegneten, trennte sich der unehrenvolle Begleiter und blieb entweder zurück oder ging voraus. Diane hatte nur wenige Stunden in der Schenke, in der sie früher gefrühstückt hatte, geschlummert. Der empörende Auftritt, den sie hatte erdulden müssen, die Schmach, die ihr angetan worden war, gaben ihr ungewöhnliche Kräfte. Noch am Vormittag des folgenden Tages traf sie nach ihrer sehr kurzen, aber sehr traurigen Wanderung wieder im Bereich des Käfigs ein, dessen Gitterstäben sie als freier kecker Vogel hatte entfliehen wollen. Ihr Begleiter war jetzt die Zartheit selbst. Er machte sich überall, in jedem Kaufladen etwas zu schaffen. Obwohl er seine wandernde Schöne nicht aus den Augen ließ, hatte es doch nie den Anschein, als gehöre er zu ihr. So kamen denn beide endlich vor die Tür des Gasthauses Zum Schwan.

Frau Sempel schrie laut auf, als sie ihre Pflegetochter erblickte. »O, du gottloses Kind!«, rief die Gastwirtin, »welch böse Stunden hast du mir bereitet! Ich dachte wirklich, die Offiziere, Gott strafe mich, hätten dich geraubt! Ja, ja, das glaubte ich, und Lene – glaubte es auch. He! Herr Grenzwächter, was wollen Sie?«

Der Angerufene erklärte jetzt den Grund seines Erscheinens und bemerkte dabei, wie er gleich gesehen hatte, dass ein so junges, schönes Frauenzimmer unmöglich eine Landstreicherin sein könne. Er empfing noch ein Trinkgeld aus der mildtätigen Hand der Frau Sempel und entfernte sich dann, ohne Aufsehen zu erregen. Als die Pflegemutter und die Pflegetochter wieder allein waren, ergoss sich das Herz der Ersteren in bitteren Vorwürfen, und die sanfte, klagende Stimme der Letzteren bat demütig um Verzeihung.

»Ist das mein Lohn, ungeratenes Kind?«, rief die Gastwirtin. »Der Dank für acht lange Jahre, wo ich mit treuer Sorgfalt deiner gepflegt und dich in allem Guten unterwiesen habe? Du läufst aus dem Haus, bei Nacht und Nebel, ohne mir Lebewohl zu sagen, und ich alte Närrin sitze und weiß nicht, wo ich dich suchen soll?«

Diane gab ihr kleinlaut die Gründe an, die sie zur Flucht bewogen hatten. Sie teilte ihr die Nachrichten mit, die Friedrich ihr gebracht hatte. Frau Sempel hörte ihr mit großer Aufmerksamkeit zu. Der Umstand mit dem Duell und dass ihr Liebling in Gefahr kommen sollte, war der Alten ein Grund zum ernstesten Nachdenken.

»Du hast vollkommen recht, Katharina«, sagte sie nach einer Pause. »Wenn es sich so verhält, dann musst du allerdings mein Haus verlassen. Ich gehöre nicht zu den schlechten Frauen, die das Geld über alles setzen. Obwohl die Herren Offiziere, seitdem sie sich hierher gewöhnt haben, einen schönen Taler Geld in meine Tasche fallen lassen, so will ich doch lieber zu meinem spärlichen Gewinn zurückkehren, als einen Menschen in Gefahr bringen, entweder dich oder den Grafen. Ich will die Sache mit Herrn Weinhold besprechen.«

Dianes Flucht blieb im Stadtviertel verschwiegen. Die Offiziere waren am Mittag gekommen. Da sie merkten, dass niemand anderes als Lene zu ihrer Bedienung erschien, waren sie sehr bald wieder verschwunden. Weder die Scherze Lenes noch die Pasteten der Frau Sempel hatten sie zu halten vermocht.

Am Morgen des anderen Tages nach der Flucht wanderte Diane wieder dieselbe Richtung hinaus, aber dieses Mal von der Frau Sempel begleitet. Beide machten halt an dem kleinen Häuschen, das der Kandidat bewohnte.

Herr Weinhold hatte während des Zeitraumes, den wir in unserer Geschichte übersprungen haben, nochmals sein Examen gemacht und war zum vierten Mal durchgefallen. Jetzt gab er es für immer auf, die strengen Richter jemals zu seinen Gunsten zu stimmen, und verfiel von der Zeit an in eine sanfte und anhaltende Melancholie. Sein kleines Häuschen verließ er jetzt gar nicht mehr. Er pflegte die Blumen seines Gärtchens, und wenn er die wenigen Unterrichtsstunden, die ihn ernährten, gegeben hatte, verschloss er sich in den Raum seines Zimmers, welches Schreib-, Speise- und Schlafstube zugleich war. Seine Bücher und Schreibhefte machten die Welt aus, in der er lebte. Dabei wurde er immer bleicher, seine hellen braunen Augen erhielten einen immer sanfteren Schimmer und das kranke Lächeln wich nicht mehr von seinen blassen Lippen.

Als Frau Sempel in sein Zimmer trat, packte er eilig ein paar Bögen zusammen, um die Gastwirtin nicht sehen zu lassen, dass es ein Gedicht war, denn oftmals hatte ihm seine Gönnerin das Tadelnswerte einer so brotlosen Beschäftigung, als ihr das Versemachen erschien, vorgehalten. Diane blieb draußen vor dem Gärtchen, denn sie wusste, dass der arme Kandidat nur einen Stuhl hatte, und wollte ihn nicht in Verlegenheit setzen, zwei Gäste auf einmal zu beherbergen. Sie saß unter dem schon herbstlich verdorrten Baum des Gartens und wartete, bis man sie rufen würde. Dies geschah bald. Frau Sempel hatte ihre Rede angebracht und überließ nun das Feld ihrer Pflegetochter und dem Kandidaten.

»Du hast nicht recht getan«, hob dieser an, als beide allein waren, »deine liebevolle Gönnerin so treulos zu verlassen, Katharina. Ich will es auf mich nehmen, dir eine neue Stelle zu verschaffen, die dir und uns behagen wird.«

Das junge Mädchen sah ihn dankbar an. Ihre Schönheit und Frische lockten ein Lächeln auf die bleichen Wangen des Mannes. »Aber hast du auch bedacht, wie böse die Welt ist?«, setzte er hinzu. Seine Miene wurde wieder traurig.

»Was ich von ihr gesehen habe, war schlimm genug«, entgegnete Diane.

»Und noch lange nicht das Schlimmste, Katharina. Ich sage dir, noch lange nicht das Schlimmste. Die alte Frau, die du so böse schiltst, ist ein Engel, gegen die Menschen gehalten, die Gott oft zur Prüfung der Geduldigen in dieses irdische Jammertal sendet.«

Diane senkte den Blick, ohne etwas zu erwidern.

»Sie trieb dich aus ihrem Haus«, fuhr Weinhold fort, »weil sie die Welt kannte und wusste, wie oft unter lockender Hülle die Torheit und das Laster sich verbergen. Sie besorgte strenge Wacht und hielt ihre Schwelle rein. So sollen wir alle strenge Wacht und unsere Schwelle rein halten, denn die Welt sucht, wie sie uns verderbe. Ist irgendwo ein süßes Plätzchen, wo Friede blüht und Unschuld lächelt, o, da baut nur die Mauer recht hoch, baut sie bis an die Wolken. Doch wird ein vergifteter Pfeil hinüberfliegen und in das offene Herz eurer Liebe treffen. Es ist eben hier auf Erden nicht anders!«

Er hielt inne und senkte einen Blick des Mitleids und der Zärtlichkeit auf seine Zuhörerin. »O!«, rief er und fasste eine ihrer kleinen Hände, die er in seine beiden schloss, »o, könnte ich dich geheim halten, Katharina, vor aller Welt!« Er ließ die Hände sinken und rief schmerzvoll: »Aber ich kann es nicht. Sie werden kommen und mit giftigen Küssen vom Rot deiner Wangen naschen! Sie werden kommen und dich um deine Tränen und dein Gebet betrügen! Sie werden es, und ich, ich werde sie nicht hindern können!«

Er sank erschöpft auf seinen Stuhl und verhüllte sein Antlitz.

Diane beugte sich über ihn. »Du bist krank, Weinhold!«, flüsterte sie.

»Meinst du?«, rief er und sah furchtsam zu ihr empor. »Oft glaube ich es selbst, wenn ich so lange Nächte einsam vor mich hingrüble, und in dem Nebel, der sich um mein armes Haupt zieht, keinen Ausweg finden kann. Aber dann kommen wieder Augenblicke, wo ich mich den Gesunden dünke, den einzigen Gesunden unter lauter Pestkranken, die ihre ekelhaften Beulen mir entgegenhalten und ihre verdrehten, missgestalteten Glieder recken. Zu mir spricht dann die Natur: ›Dich, dich lieb ich, du verstehst mich! Die Vögel sagen zu mir: Du bist unser Genosse. Die Quelle murmelt: Du hast mir mein Leiden abgelauscht. Und der Wald säuselt: In meinen einsamen Schatten gehörst du, du allein!‹ Ach, dass ich noch immer mit der Welt verkehren muss, dass ich mich nicht ganz verlieren kann in die Schatten undurchdringlicher Wälder, wo kein Menschenfuß mich ereilt, keine Menschenstimme mehr an mein Ohr schlägt!«

»Die Erde ist so schön!«, sagte Diane.

 »Ja, aber uns Armen zum Hohn!«, rief der Kandidat. »Wir haben nur die Wege auf ihr, die Kummer und Elend mit harten Füßen ebnete. Weit weg von uns führt die breite Straße, auf der der Reichtum dahinsaust. Als ich jung und noch reiselustig war, bat ich einen reichen Mann um ein kleines Darlehen. Ich wollte reisen, ich wollte die Wunder der Welt sehen. Er schlug es mir ab, und an demselben Tag wurde ihm die Summe von einem Diener gestohlen, den er mit Wohltaten überhäuft hatte. Seitdem weiß ich, in welchem Takt das Herz der Reichen schlägt. Überall traf ich dasselbe Gesetz, überall die kleine Summe der Armut verweigert und dem Undank und dem Laster zugeschoben. Aber ich bin ein Tor, dass ich dir mein Leid klage. Ich will lieber gehen und für dich tätig sein.«

»Wie schwer wird es mir, dich zu verlassen!«, rief Diane und schmiegte sich an ihren Lehrer.

»Das wirst du nicht«, entgegnete ihr dieser.

»Muss ich nicht aus dieser Stadt fort?«

»Nein. Sie ist groß genug, um dich gegen deine Verfolger zu verbergen. Sie werden deine Spur verlieren und dich bald um ein anderes Wild, dem sie nachjagen, vergessen. Ich freue mich, dass ich deinen Geist mit Kenntnissen ausgerüstet habe. Du wirst sie jetzt brauchen können. Eine Stelle als Gesellschafterin bei einer adligen Dame wäre gerade, was ich in Zukunft für dich passend fände. Doch, wir wollen sehen. Geh nun nach Hause und erwarte mich heute Abend, wo ich bei euch vorsprechen werde.«

Der Kandidat brachte seine Schulbücher zusammen, und Diane nahm von ihm Abschied.