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Der Spion – Kapitel 11

Balduin Möllhausen
Der Spion
Roman aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, Suttgart 1893

Kapitel 11

Auf gefährlichem Boden

Bald nach Abfall der Südstaaten von der Union war über St. Louis eine Art Belagerungszustand verhängt worden. Das hinderte nicht, dass die Streitkräfte der Rebellen, namentlich die Guerillabanden, von hier aus Unterstützung sowohl durch offene als auch verkappte Sezessionisten erhielten. Zu diesen zählten dort zeitweilig wohnende Plantagenbesitzer und ehemalige Sklavenhalter, die sich zu Vereinen zusammengetan hatten. Deren ganzes Fordern und Trachten lief darauf hinaus, im Geheimen Verrat Intrigen gegen die Bundesregierung und deren Anhänger zu spinnen. Anscheinend harmlos in den Tag hineinlebend und wenig Sympathie für den Süden zur Schau tragend, hielten sie die Fäden eines weit verzweigten Spionagesystems in den Händen, welches nur zu oft verderblich für diesen oder jenen unionistischen Truppenkörper, aber auch einzelne gefürchtete oder gehasste Persönlichkeiten wurde.

Eine derartige Gesellschaft hatte sich an jenem Abend im Haus Palmers zusammengefunden, wo ihr drei aneinandergrenzende Prunkgemächer zum Aufenthalt eingeräumt worden waren.

Obwohl den Gästen, vielleicht achtzehn an der Zahl, eine den Verhältnissen des Besitzers entsprechende glänzende Aufnahme und Bewirtung zuteil wurde, herrschte doch eine ernste, sogar gedrückte Stimmung unter ihnen. Gruppenweise saßen sie beisammen, die jüngsten Niederlagen der Sezessionisten, gewissermaßen die Vorläufer ihres gänzlichen Zusammenbruchs, eifrig beratend und erörternd.

Seitdem Palmer zu Oliva gerufen worden war, hatte peinliche Spannung die bisherige lebhafte Unterhaltung in Fesseln geschlagen. Dieselbe steigerte sich zur tiefen Besorgnis, als er wieder eintrat und jeder auf seinen Zügen eine Schreckenskunde las. Er versuchte zwar die sich ängstlich Herandrängenden mit wenigen ernsten Worten zu beruhigen, allein es gelang ihm nicht. Ohne beschwichtigende Wirkung blieb sein Versprechen, nach Olivas Abfertigung mit ausführlichen Mitteilungen nicht zurückzuhalten. Wie eine schwarze Ahnung lastete es auf allen Gemütern. In demselben Maß, wie die Ungewissheit folterte, wuchs auch die Erbitterung. In wildem Hass und finsterem Fanatismus erstickten gleichsam alle anderen menschlichen Regungen. Erst als Palmer sich mit mehreren älteren Häuptern entfernte, rückte man wieder zusammen, um bald diese, bald jene Mutmaßung mit unwillkürlich gedämpfter Stimme aufzustellen und zu erwägen. Doch welche Meinung man vertreten mochte: Vorherrschend blieb das Gefühl drohenden Unheils. Was aber in einem solchen Kreis verhandelt und vorbereitet wurde, das konnte, wenn auch in den Hauptsachen auf vereinzelte Mitglieder entfallend, nur Höllenwerk sein. Beinahe eine Viertelstunde hatte Oliva sich allein befunden, als Palmer wieder bei ihr erschien. Vier Herren, ungefähr gleichaltrig mit ihm, in ihren Physiognomien die unzweideutigen Merkmale heftiger Erregung, begleiteten ihn. Oliva hatte wieder Platz genommen. Deren höflichen Gruß beantwortete sie durch kurzes Neigen des Hauptes. Als sie gewahrte, dass die Herren Stühle wählten, von welchem aus sie ihr Antlitz zu überwachen vermochten, zuckte verhaltener Spott um ihre Lippen. Es galt ihr als Beweis, dass das Vertrauen in ihre Person dennoch kein so unbedingtes war, wie Palmer sie glauben machen wollte. Eine Vorstellung fand nicht statt. Die Begleiter des Hausherrn waren durch ihn offenbar über alles unterrichtet worden.

So knüpfte dieser ohne weitere Einleitung an das zuvor geführte Gespräch mit den Worten an: »Über Bedeutung und Zweck des aufgefundenen Briefes können auch bei Ihnen keine Zweifel walten. Er wurde geschrieben, um Quinch und sein Kommando in ihren Bewegungen zu lenken. Zu beklagen ist nur, ich wiederhole es, dass andere Schriftstücke ähnlichen Inhalts mutmaßlich in die Hände von Leuten fielen, welche dieselben, zumal hier am Ort unter der Gewalt unionistischer Behörden, unfehlbar als eine verhängnisvolle Waffe gegen uns benutzen werden.«

Die Pause, welche er eintreten ließ, galt Oliva als eine stumme Frage. Dieselbe beantwortend, neigte sie das Haupt zustimmend. Keine Linie ihres ernsten Antlitzes verriet den höhnischen Triumph, der in ihrem Inneren webte.

»Gut, Madam«, sprach Palmer weiter, »zunächst eine Frage, die im ersten Augenblick vielleicht zudringlich erscheint, jedoch am wenigsten darauf berechnet ist, Sie zu verletzen. Was führte Sie, nach Ihrem Äußeren zu schließen, eine Mexikanerin, gerade in jene Landesteile, welche zu unterwerfen Quinch sich zur Aufgabe gemacht hatte?«

Oliva runzelte die Brauen. Indem sie Palmer fest ansah, wichen wie in Entrüstung ihre Lippen ein wenig weiter von den weißen Zähnen zurück. Sie hatte es gleichsam im Gefühl, dass sie sich auf dem Weg befand, die vor ihr Sitzenden bis zu einem gewissen Grad zu beherrschen. Die unglaubliche Gewandtheit und kaltblütige Berechnung, welche sie sich im Feld in den Stunden der Gefahr aneignete, bewährten sich auch hier im beratenden Verkehr mit den verhassten Feinden.

»Ich antworte mit der Gegenfrage«, sprach sie gelassen. »Was bewog Sie, Ihre Berichte und Ratschläge eben dahin zu senden? Zweifeln Sie auf meinem guten Willen, einer gerechten Sache zu dienen, so haben Sie nur nötig, die Zusammenkunft aufzuheben, und ich ziehe meines Weges. Auch mir drohen Gefahren, sodass ich sogar den erprobtesten Gesinnungsgenossen gegenüber mit Ausschlüssen betreffs meiner Vergangenheit vorsichtig zu Werke gehen muss. Mein Name und meine Lebensgeschichte haben nichts mit den der Konföderation oder deren Anhängern zu leistenden Diensten zu schaffen.«

»Dann bitte ich um Verzeihung«, erwiderte Palmer schnell, immer mehr dem Einfluss der seltsamen, unheimlich ernsten Fremden nachgebend; »nichts lag mir ferner, als Ihre Opferwilligkeit mit Kränkungen zu lohnen. Daher eine andere Frage: Ahnen Sie vielleicht, in wessen Hände die geraubten Briefschaften fielen?«

»Wahrscheinlich in die des berüchtigten nördlichen Spions Kampbell. Ich müsste mich sehr täuschen, wären der Mord des Adjutanten und der Raub der Papiere nicht auf sein Anstiften zurückzuführen.«

»Kampbell und immer wieder dieser Kampbell«, versetzte Palmer, zu seinen Freunden gewendet, in deren verfinsterten Physiognomien peinliche Überraschung aufleuchtete. »Sogar Quinch nannte ihn mehrfach in seinen Berichten und schilderte ihn als einen der verwegensten Schurken, der je den Galgen verdiente. Überall, wo nur immer ein Teufelsstreich in diesem Teil des Landes gegen die Konföderation ausgeführt wird, kann man beinahe mit Sicherheit darauf rechnen, dass dieser verruchte Spion dahintersteckt.« Und wieder zu Oliva gewendet: »Sahen Sie ihn jemals?«

»Niemals. Er ist der einzige Mensch, den ich wirklich fürchte.«

»So kennen Sie auch kein Mittel, die geraubten Papiere zurückzuerlangen? Mit Freuden opferte ich eine hohe Summe, um den möglichen Folgen des Verlustes der Briefschaften auszuweichen.«

»Befinden sie sich in seinem Besitz, so gibt er sie um keinen Preis heraus«, versetzte Oliva überzeugend. »Ich hörte genug von ihn, um behaupten zu dürfen, dass weder mit List noch mit Gewalt etwas gegen ihn auszurichten ist.«

»Man müsste einen Preis auf seinen Kopf setzen, alle unsere Spürhunde gegen ihn loslassen«, beteiligte einer der anderen Herren sich nunmehr in heftiger Erregung an dem Gespräch. »Ich selbst biete tausend Dollar und mehr.«

Oliva zuckte die Achseln und bemerkte geringschätzig: »Ein Mann seines Schlages wird nicht leicht eingefangen. Und wer kennt ihn? Weiß man wirklich seinen Namen, so mag man ihm zehnmal begegnen, ohne zu ahnen, wen man vor sich hat. Er ist zu gut bedient. Oft genug erhielt ich die Beweise dafür, und zwar auf eine Art, dass ich nur wie durch ein Wunder den gegen mich eingeleiteten Nachstellungen entschlüpfte.«

»Sie besitzen eine große Sachkenntnis und ein klares Urteil«, nahm Palmer wieder das Wort auf, »es ist daher gerechtfertigt, wenn ich die Frage an Sie richte: Welchen Gebrauch, glauben Sie, würde Kampbell möglichenfalls von den betreffenden Schriftstücken machen?«

»Meines Erachtens kann das nur von Umständen abhängen«, antwortete Oliva bedachtsam. »Aus dem von mir überbrachten Schreiben scheint hervorzugehen, dass die in demselben enthaltenen Ratschläge durch die in den geraubten verzeichneten ergänzt wurden.«

»So verhält es sich. In den einzelnen Teilen unverständlich, war das Ganze darauf berechnet, Quinch in seinen Märschen derartig zu bestimmen, dass seine Bahn nicht von unionistischen überlegenen Streitkräften gekreuzt wurde.«

»Darf ich wissen, worauf alles hinausläuft?«

»Weshalb nicht, zumal durch den Verlust der Briefe die bisherigen Pläne hinfällig geworden sind? Es muss wenigstens befürchtet werden, dass Quinch in deren weiterer Verfolgung den über seine Bewegungen unterrichteten Unionisten gerade in die Arme liefe. Der Grundgedanke bleibt freilich bestehen, und der lautet dahin, dass bei den nächsten Zusammenstößen, die voraussichtlich bei Kansas City oder tiefer im Inneren des Staates Missouri stattfinden, die Guerillabanden in der Lage sind, im Rücken der Unionisten zu operieren und dadurch um so nachdrücklicher in die Gefechte einzugreifen.« Hier wendete Palmer sich wieder mit einem Anflug von Begeisterung an seine Freunde: »Gelingt es uns, durch neue, genau abgefasste Weisungen die verschiedenen Banden, die südlich an der Grenze von Arkansas, wie die in der Nachbarschaft des Ozarkgebirges hausenden und die von Quinch kommandierte zur rechten Stunde zusammenzubringen, so bilden sie immerhin eine Streitmacht, mit welcher die schwächeren Armeeteile, ob Vorhut oder Nachhut, der Unionisten zu rechnen haben würden. Es ist sogar die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass, wenn dieser Plan glückt, die vereinigten Guerillascharen eine günstige Entscheidung beschleunigen. Nur zwei gewonnene Schlachten, durch welche die Nordarmee vernichtet wird, und Missouri mit seiner zum großen Teil sezessionistisch gesinnten Bevölkerung fällt dem Süden wieder zu. Das aber könnte einen gänzlichen Umschwung der augenblicklich für uns misslichen Verhältnisse nach sich ziehen.«

»Es müssten also schleunigst neue Ratschläge an Quinch und die anderen Chefs übermittelt werden«, meinte abermals einer der mit unerkennbarer Ehrerbietung zu Palmer aufschauenden Herren.

»Das Wort schleunigst möchte ich zurückweisen«, versetzte ein anderer. »Bevor wir überhaupt neue Ratschläge entsenden, müssten wir selbst über die Pläne der in der Nachbarschaft von Kansas sich zusammenziehenden feindlichen Streitkräfte genau unterrichtet sein, und das erfordert Zeit und Geduld.«

»Das kann und darf nicht lange dauern«, wendete Palmer zuversichtlich ein, »die Entscheidungskämpfe in unserem Staat sind vor der Tür und unsere Freunde in Kansas City auf der Wacht. Sogar über die kleinsten Vorbereitungen, von welchen man aus die hinter denselben sich entwickelnden Pläne zu schließen vermag, gelangen regelmäßig ausführliche Berichte in meine Hände, und aus diesen gehen die für die Guerillachefs bestimmten Weisungen gewissermaßen von selbst hervor. Wie lauten Ihre Ansichten darüber?«, kehrte er sich Oliva zu, deren ruhige Haltung und verschlossenes Antlitz undurchdringlich verbargen, mit welcher regen Spannung sie dem Gespräch folgte.

»Meine Ansichten sind die einer Frau«, antwortete diese eintönig, »sie können sich also nur in einem dumpfen Gefühl begründen. Darum befragt, muss ich freilich darauf hinweisen, dass ein Zusammenziehen der Guerillabanden erst kurz vor den letzten Entscheidungskämpfen ratsam erscheint. Denn ist es den einzelnen Abteilungen erleichtert, überall, wo sie gerade weilen, sich auskömmlich zu verproviantieren, so stößt das bei einer nach Tausenden zählenden irregulären Truppe auf unüberwindliche Hindernisse. Auch birgt es nicht zu unterschätzende Gefahren in sich, wenn die verschiedenen Banden verfrüht einheitliche Märsche ausführen, deren Zweck ziemlich durchsichtig ist. Ich würde daher anraten, sie so lange auseinanderzuhalten, wie es als vereinbar mit dem beabsichtigten Unternehmen gilt.«

»Man sollte glauben, Sie hätten Ihre Ausbildung in einem Generalstab erhalten«, versetzte Palmer erstaunt. »Ihre Gründe sind schlagend und verständlich. Freilich, Sie befanden sich an Ort und Stelle, ein Vorzug, dessen sich keiner von uns rühmen darf. Als solche verdienen sie sicher die größte Berücksichtigung. Ich setze voraus, Sie kehren in absehbarer Frist zu dem oberen Missouri und Kansas zurück. Wären Sie in solchem Fall geneigt, diese oder jene Botschaft an bestimmte Persönlichkeiten gelangen zu lassen? Sie begreifen, solche durchaus sichere Gelegenheiten bieten sich zu selten, als dass wir sie unbenutzt vorübergehen lassen dürften.«

Oliva überlegte. Erst nach einer Weile antwortete sie zögernd: »Sie übersehen, dass derartige Botschaften, würden sie bei mir entdeckt, mein Verderben unfehlbar besiegelten. Aber immerhin, sie könnten in unverfänglicher Form verfasst sein. Außerdem müsste mit Namen und Aufschriften vorsichtig verfahren werden. Ich erinnere Sie an den von mir überbrachten verhängnisvollen Brief, der mir aufgrund seines unerhört ausführlichen Inhaltes als Wegweiser bis vor Ihre Tür diente. Auch gebe ich zu bedenken, dass ich als Frau schwerlich jedes Mal in die Lage gerate, sie persönlich übermitteln zu können.«

»Sie würden auf alle Fälle einen zuverlässigen Boten wählen.«

»Wer vermag in jedem Menschen Herz zu lesen?«

»Ich baue auf Ihren Scharfsinn, mit welchem ungewöhnlicher Mut sich paart. Doch wann gedenken Sie aufzubrechen?«

»Es kann Tage, auch Wochen dauern, Zufälligkeiten entscheiden darüber.«

»Unter allen Umständen werde ich Sie wiedersehen? Vielleicht empfiehlt es sich, mir anzuvertrauen, wo Sie wohnen?«

»Ich wohne nicht, sondern halte mich nur versteckt. Mit meinem auffälligen Äußeren muss ich doppelt auf der Hut sein. Erhielte Kampbell eine Ahnung von meinem Wirken, so wäre ich verloren, und andere mit mir. Ich gewann den Eindruck, dass vor dem Scharfblick dieses unsichtbaren Feindes nichts verborgen bleibt. Zahlreiche Helfershelfer müssen ihn unterstützen, oder es wäre ihm nicht möglich, überall und nirgends zugleich zu sein. Aus solchen Ursachen suche ich auch am liebsten meine Zuflucht mitten unter unseren gehässigsten Feinden.«

»Wie soll ich Ihnen etwaige Botschaften und Aufträge zustellen?«

»Gar nicht. Um ganz sicher zu sein, verschweige ich sogar Ihnen meinen Aufentaltsort. Bin ich erst über meinen Aufbruch schlüssig geworden, spreche ich hier wieder vor. Bis dahin halten Sie alles bereit, was Sie mir anzuvertrauen wünschen. Zugleich erteilen Sie hier im Haus Befehl, mich sofort bei Ihnen anzumelden, anstatt mit Fragen zu belästigen.«

Mit diesen Worten erhob sich Oliva. Eine vornehm abgemessene Verneigung vor den anderen Herren galt als Abschiedsgruß, dann begleitete Palmer sie in die Vorhalle hinaus, wo der Diener darauf wartete, den Torweg für sie zu öffnen.

»Eine wunderbare Erscheinung«, erklärte Palmer, als er zu seinen Freunden zurückkehrte und mit ihnen den Weg zu den Gesellschaftsräumen einschlug. »Welche Erfahrungen gehören dazu, in einer Person, welche gewiss geschaffen gewesen ist, der Mittelpunkt eines glücklichen Familienlebens zu werden, eine derartige Entschlossenheit, eine derartige Todesverachtung zur Reife zu bringen?«

»Erfahrungen, die weniger glühenden Patriotismus als bitteren unauslöschlichen Hass erzeugten«, lautete die Erwiderung. »Ich beobachtete sie scharf. Jede Linie ihres tatsächlich schönen Antlitzes verriet eine Willenskraft, wie man sie in manchem Mann vergeblich suchen würde. Trotzdem halte ich für dringend geboten, sie fortgesetzt zu überwachen.«

»Überwachen? Ja«, erklärte Palmer; »allein so vorsichtig, dass sie keine Ahnung davon erhält, vorausgesetzt wir erfahren, wo sie sich gerade aufhält. Dieselben Zufälligkeiten, welche sie, eine Mexikanerin, in den südlichen Verband trieben, können eine plötzliche Sinnesänderung in ihr verursachen, und sie wäre ein gefährlicher Feind.«

»Ein furchtbarer Feind«, bestätigte ein anderer, »nur um so ernster ist es geboten, auszukundschaften, wo sie ihren Unterschlupf fand. Wir müssen wissen, mit wem sie verkehrt, wer bei ihr ein und aus geht.«

»Und nochmals rate ich dringend zur Vorsicht«, versetzte Palmer, »namentlich in der Wahl der zu Kundschafterdiensten heranzuziehenden Personen. Ich erinnere daran, welche Mühe es kostete, den alten Findegern, diesen verbissenen deutschen Unionisten, in seiner festungsartig eingeschlossenen Wüstenei unseren Blicken zugänglich zu machen. Es konnte eben nur durch meine Tochter geschehen. Jeder andere Versuch wäre an der Rohheit dieses auf seinen Reichtum trotzenden deutschen Bären gescheitert.«

»Bestätigte sich auch nur der kleinste Teil des auf ihm ruhenden Verdachts?«, warf ein anderer mürrisch ein. »Ich glaube nicht. Für einen einfältigen, aufgeblasenen Gesellen halte ich ihn, dessen Hauptkraft im Poltern und dem Bewusstsein liegt, die ihn umringende Wüstenei zu jeder Stunde in einen Haufen Gold verwandeln zu können. Wenn er nur hin und wieder sein Banner prahlerisch hissen und sein buntes Haus bewundern kann, ist er zufrieden.«

»Der hinterlistigste Gauner ist er, der je unter der Maske der Einfalt verräterische Politik trieb«, wendete Palmer erregt ein. »Wer hätte ihm die Überlegung zugetraut, sich in hervorragender Weise am Treiben unserer gefährlichsten Gegner zu beteiligen und sein Haus zum Versammelungsort der böswilligsten Elemente herzugeben? Und dafür erhielt ich unwiderlegliche Beweise. Da ist zum Beispiel dieser Captain Houston. Seitdem er wieder einen Fuß vor den anderen zu setzen vermag, wurde er gewissermaßen die Seele jener politischen Vereinigungen, die unablässig über den Untergang der Sezession brüten. Wenn aber ein solcher Mann nicht nur persönlich mit diesem verschlagenen Sargfabrikanten verkehrt, sondern auch im Briefwechsel mit dessen junger Hausgenossin steht, wie soll ich das anders deuten, wenn nicht als Verrat! Doch jetzt nichts mehr davon. Meine hochherzige Tochter muss geschont werden.«

Langsam verschiedene Gemächer durchschreitend, im Eifer des Gesprächs zuweilen auch stehen bleibend, waren sie vor den Gesellschaftsräumen eingetroffen. Die Flügeltür öffnete sich. Lichterglanz strömte ihnen entgegen. Frauen und Mädchen in rauschenden Gewändern umringten sie. Erwartungsvoll hingen alle Blicke an ihren Augen.

 

*

 

Nachdem Oliva auf die Straße hinausgetreten war, säumte sie nach den ersten wenigen Schritten solange, bis das Geräusch herüberdrang, mit welchem der Diener das Hausportal hinter sich schloss. Dann umkehrend eilte sie in entgegengesetzter Richtung davon. An der Ecke der Parkeinfriedigung gesellten Nicodemo und Fegefeuer sich zu ihr, Letzterer, um nach kurzen Gruß vorauszutraben und den von ihnen zu folgenden Weg gewissermaßen zu überwachen.

»Errangst du irgendeinen nennenswerten Erfolg«, fragte Nicodemo, sobald der Bursche außer Hörweite getreten war.

»Überraschende Erfolge«, antwortete Oliva gelassen, »sie sind in die Falle gegangen. Durch den Brief kopflos geworden, klammerten sie sich, jede Vorsicht außer Acht lassend, gewissermaßen an mich und meine Ratschläge an, als ob von mir die Abwendung einer großen Gefahr zu erwarten gewesen wäre.«

»Wenn erst ruhigere Überlegung Platz griff, wird das Erwachen des Argwohns nicht ausbleiben«, warf Nicodemo besorgt ein.

»Wohl schwerlich; zu bedachtsam ging ich mit der Aufstellung des Netzes zu Werke. Zunächst verschaffte man mir Einsicht in ihre heimlichen Pläne. Ich hätte lachen können über ihren Unverstand. Außerdem wird man mir die Mittel zu ihrem eigenen Verderben wie zu dem Quinchs einhändigen. Was liegt mir an ihnen? Meinetwegen mögen sie bis ans Ende der Welt Verrat spinnen, wenn es uns nur gelingt, des verruchten Bandenchefs habhaft zu werden. Und das hoffe ich jetzt zuversichtlich. Ich müsste mich sehr täuschen, würde es nicht in unsere Hand gegeben, auf Grund der neuen Weisungen ihn am oberen Kansas festzuhalten und gänzlich abzuschneiden. Nachher sehen wir weiter.«

»Du fürchtest nicht, durchschaut worden zu sein?«

»Nein. Der Schrecken, den ich ihnen einflößte, verwandelte sie in Wachs, welches ich in jede mir zusagende Form zu kneten vermochte.«

»Ich frage dich besorgt: Wird die Täuschung lange bestehen können?«

»Lange genug, ich bezweifle es nicht, um mit Muße unsere Vorbereitungen zu treffen und dann von hier zu verschwinden«, sprach Oliva. Sie lachte spöttisch, indem sie bemerkte: »Es ist ergötzlich, wie sie den Kampbell fürchten.«

»Lass dich nicht zu sehr in Sicherheit wiegen. Auch sie sind gewohnt, überall Verrat zu wittern.«

»Mögen sie. Ich gab ihnen solche Erklärungen, dass es sie kaum überraschen kann, mich im Kreis ihrer hartnäckigsten Gegner ausfindig zu machen.«

»Deine jetzige Zufluchtsstätte kennen sie nicht?«

»Sie befragten mich darum. Ich wies sie kurz ab.«

Nicodemo schwieg. Erst nach einer Pause fragte er wieder: »Du bist zufrieden mit deiner augenblicklichen Lage?«

»Dem Captain Durlach sind wir zu großem Dank verpflichtet. Ich hätte kein besseres Unterkommen finden können. Die Zuverlässigkeit der neuen Hausgenossen wird nur durch ihre Güte übertroffen. Sogar in den Seltsamkeiten des alten Sargfabrikanten offenbart sich Menschenfreundlichkeit.«

»Seine Nichte, die Schwester des Captains, soll ein liebes Kind sein.«

»Sie übte auf mich den Eindruck eines Engels der Unschuld aus.«

»Wenn du mit ihr fortan im täglichen Verkehr bliebest …«

»Um die Ärmste zu verbittern? Ihren Glauben an die Menschheit heillos zu erschüttern?«

»Im Gegenteil, um dich ihrem besänftigenden Einfluss zu unterwerfen.«

Oliva lachte herb. »Und solchen Vorschlag muss ich von dir hören?«, fragte sie vorwurfsvoll. »Freilich, was du sprichst, kommt aus einem edlen treuen Herzen. Du kennst mich genugsam, um zu wissen, dass ich mein Ziel nie aus den Augen verliere. Und zu ihr gehöre ich am wenigsten. Mit heimlichem Beben reichte ich ihr die Hand. Hätte sie geahnt, dass dieselbe Hand nicht zögerte, das tödliche Geschoss auf einen Mitmenschen zu entsenden, so würde sie entsetzt vor deren Berührung zurückgebebt sein.«

»Du befandest dich in der Rolle eines Kriegers, zugleich in der Verteidigung deines eigenen Lebens. Wer dürfte wagen, daraus einen Vorwurf gegen dich zu erheben? Dein eigenes Gewissen straft dich nicht; das genügt.«

»Nein, sicher nicht. Aber es würde mich strafen, kehrte ich plötzlich auf der von mir mit so viel Hingebung verfolgten Bahn um.«

Nicodemo antwortete nicht. Bald darauf lag die zu dem Schneckenhaus führende Pforte vor ihnen. Die nächste Turmuhr meldete das Ende der Mitternachtsstunde. Vergeblich sahen sie sich nach Fegefeuer um.

Nicodemo war eben im Begriff, den Türklopfer zu heben, als auf der anderen Seite eilige Schritte sich näherten. Der gewandte Bursche hatte den Zaun überstiegen und war zum Haus hinübergelaufen, wo Hobel ihn bereits anmeldete. Martin kam ihm auf der Veranda entgegen und begleitete ihn ungesäumt zum Torweg hinüber. Nachdem Oliva eingetreten war, schlüpfte Fegefeuer hinaus, um Nicodemo fernerhin als Wegweiser zu dienen.

Gleich darauf wurde Oliva von Margaretha in der Haustür willkommen geheißen und in ihre Wohnung geleitet. Dort stand ein Mahl bereit. Ebenso war ein sauberes Bett für sie aufgeschlagen worden. Gleichzeitig hatten die beiden innig verbundenen zänkischen alten Junggesellen sich in ihre Gemächer zurückgezogen.

Ein halbes Stündchen später war das letzte Licht im Schneckenhaus erloschen.