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Der Wolfmensch Zweiter Teil – Kapitel 4

Elie Berthet
Der Wolfmensch
oder: Die Bestie des Gévaudan
Aus dem Französischen von A. Kretzschmar
Hartleben’s Verlags-Exedition. Pest, Wien und Leipzig, 1858.

Zweiter Teil

Die Belagerung

Das Waldhaus war, obwohl vom Oberforsthüter von Mercoire bewohnt, in seinem Inneren ebenso ärmlich und so kahl wie die Hütte des armseligsten Landmannes der Nachbarschaft. Die Gerätschaften schienen alt und abgenutzt zu sein, obwohl sie von einer sorgfältigen Wirtschafterin höchst sauber gehalten waren. Übrigens war die Dunkelheit in diesem Augenblick so groß, dass man diese Einzelheiten nur beim Schein der Blitze wahrnehmen könnte.

Die Person, welche beim Eintritt des Fräuleins von Barjac einen Schrei ausgestoßen hatte, war ein junges, hageres, blasses Mädchen.

Ihre Kleidung bestand in einem kurzen Rock und einem Mieder von altem gestreiften Stoff. Ihr Kopf und ihre Füße waren nackt.

Dieses arme Mädchen, die Tochter des Waldhüters Fargeot, war nicht schön, aber ihre krankhafte Blässe, ihre sanfte, schüchterne Miene, der ihren Zügen aufgeprägte Ausdruck von Schwermut flößten Mitleid ein.

Als Fräulein von Barjac eintrat, war Marion an ihrem Spinnrad beschäftigt. An ihren geröteten, müden Augen konnte man sehen, dass der Schmerz der einzige Gefährte ihrer düsteren Einsamkeit gewesen war. Jetzt stand sie da und betrachtete mit einem Gemisch von Überraschung und Unruhe die arme Christine, welche, ohne ein Wort sprechen zu können, auf einen Schemel niedergesunken war.

Endlich jedoch erkannte Marion die Person, welche mit so wenig Umständen zu ihr in ihre stille Klause hereingekommen war.

»Guter Gott, das ist ja das Fräulein, unsere Herrin!«, rief sie, die Hände faltend. »Wer hätte geglaubt … ach, gnädiges Fräulein, was ist Euch denn begegnet?«

Christine begann sich allmählich wieder zu erholen und brachte mechanisch ihre Kleidung in Ordnung – die erste Sorge einer Frau, wenn sie wieder zur Besinnung kommt.

»Ja, ich bin es, Marion«, entgegnete sie mit noch zitternder Stimme. »Der Gewittersturm … und übrigens verfolgte man mich … ist dein Vater hier?«

»Nein, gnädiges Fräulein.«

»Du bist also allein im Haus?«

»Ja, allein – wie immer.«

Dies wurde mit ergreifender Wehmut gesagt. Christine war aber noch viel zu bestürzt, als dass sie darauf hätte achten sollen.

»In diesem Fall«, hob sie wieder an, »beeile dich, alle Türen des Hauses zu verriegeln, man könnte mich hier suchen – schnell! Schnell!«

Marion, die ohne Zweifel schon lange an unbedingten Gehorsam gewöhnt war, beeilte sich, diesen Befehl auszuführen. Sie ging den Riegel der Haupttür vorzuschieben, dann begab sie sich in ein zweites Gemach und traf hier dieselbe Vorkehrung an einer Hintertür, welche in die Einfriedung hinausführte.

In diesem Augenblick wurde das Ungewitter noch viel heftiger. Regen, Donner und Wind tobten draußen. Obwohl stark befestigt, bogen sich die Fenster doch, als ob sie aufspringen wollten.

Als Marion wieder eintrat, sah sie, dass ihre junge Herrin zitterte.

»Verzeiht, gnädiges Fräulein«, sagte sie, »Ihr friert. Eure Kleider sind durchnässt und ich habe noch gar nicht daran gedacht, dass …«

Sie holte aus einem Winkel ein Reisigbund, welches sie in das Feuer warf. Es dauerte nicht lange, so wurde der Raum durch eine helle, belebende Flamme erheitert.

Das arme Mädchen hob in verlegenem Ton wieder an: »Wenn unser gutes gnädiges Fräulein sich herablässt, bei uns einzukehren, so sollte ich ihr vielleicht einige Erfrischungen anbieten … ein wenig Milch … Wein … was weiß ich? Aber ich habe nichts – gar nichts.«

»Ich danke«, entgegnete Christine zerstreut, »ein Glas Wasser wird mir genügen.«

Marion nahm von einem Brettgestell einen alten zinnernen Becher, den sie lange mit einem Tuch rieb. Dann füllte sie ihn mit Wasser und überreichte ihn ehrerbietig der jungen Edeldame, welche ihn in einem Zug leerte. Dieses natürliche Stärkungsmittel ermunterte Christine vollends wieder.

»Marion«, fragte sie, »wo ist dein Vater? Ich habe ihn auch heute auf der Jagd nicht gesehen.«

»Er muss bald wiederkommen, gnädiges Fräulein, und ohne Zweifel wird das Gewitter ihn genötigt haben, irgendwo einzukehren. Er ist aufs Schloss gegangen, um den hochwürdigen Pater Prior von Frontenac zu sprechen.«

»Und was will er denn vom Prior?«, fragte Christine, deren ungestüme Empfindungen wieder erwachten.

»Wenn er um irgendeine Begünstigung bitten will, hätte er dann nicht besser getan, sich an mich zu wenden?«

»Ihr seid zu gütig, gnädiges Fräulein«, entgegnete Marion, indem sie sich demütig verneigte. »Mein Vater ist nicht gewohnt, mir von dem, was er tut, Rechenschaft zu geben.«

Christine antwortete nicht. Sie war schon nicht mehr beim Gespräch, sondern horchte auf das Geräusch draußen.

»Gnädiges Fräulein«, fragte Marion nach einer kurzen Pause schüchtern. »Ihr sagtet soeben, es hätte Euch jemand im Wald erschreckt. Wer hat denn gewagt, auf Eurem eigenen Gebiet Gewalt gegen Euch zu gebrauchen?«

»Ein gefährlicher Narr, den ich von meinem Gebiet verbannt habe und der dennoch hier wieder plötzlich zum Vorschein kommt. Doch, du musst ihn ja kennen, Marion. Er ist ein ehemaliger Schützling deines Vaters und ich vermute, dass Fargeot ihm trotz meines Verbotes auch jetzt noch seinen Schutz angedeihen lässt.«

»Herr Gott, mein gutes gnädiges Fräulein, solltet Ihr vielleicht Jeannot zum Zorn gegen Euch gereizt haben?«

»Das ist möglich. Heute habe ich ihn abermals aus seiner Hütte in der Eberschlucht verjagt. Niemand, mag er wahnsinnig sein oder nicht, soll ungestraft meinen Befehlen Trotz bieten. Heute Abend, als ich infolge eines Ereignisses, welches du später erfahren wirst, allein im Wald umherirrte, begegnete ich diesem Menschen in Gesellschaft eines entsetzlichen Tieres. Beide haben mich bis hierher verfolgt.«

Marion verriet durch ihre Gebärden den größten Schrecken. »Ihr habt Jeannot gereizt!«, rief sie, »und wir sind allein! Und mein Vater bleibt so lange aus!«

Sie ging, um sich nochmals zu überzeugen, dass die Türen und die Fensterläden fest verschlossen waren.

»Warum bist du so ängstlich, Marion?«, fragte Fräulein von Barjac, die nun ebenfalls wieder unruhig wurde.

»Was haben wir hier zu fürchten?«

»Ich weiß es nicht, aber Jeannot ist so ganz anders als andere Menschen. Ich wollte, mein Vater wäre zu Hause, ich wollte, Ihr wärt selbst in Sicherheit auf Eurem Schloss Mercoire. «

»Sollte Jeannot dir oder deinem Vater etwas zuleide getan haben?«

»Niemals, gnädiges Fräulein. »Er kennt uns schon seit so langer Zeit! Wenn aber der Wahnsinn ihn ergreift wie heute – der Himmel stehe uns bei! Haben wir nicht so schon Kummer genug?«

»Gesteh es nur, Marion«, hob Fräulein von Barjac in strengem Ton wieder an, »es ist dein Vater, der diesen alten Tollhäusler in Schutz nimmt und ihm erlaubt, ohne mein Vorwissen auf meinem Grund und Boden zu verweilen.«

»Ja, gnädiges Fräulein, so ist es, aber ich beschwöre Euch, zürnt meinem Vater deswegen nicht. Jeannot war einer unserer Knechte, als wir zur Zeit meiner armen Mutter in Varinas wohnten. Obwohl sein Verstand sich seit jener Zeit verirrt hat, so kann man ihm dochMitleid nicht verweigern. Als dieser Unglückliche vor zwei Monaten wieder hierherkam, hatte mein Vater nicht den Mut, ihn wieder fortzuschicken und verbot den anderen Forsthütern, ihn zu belästigen. Jeannot ist in seinen lichten Augenblicken durchaus nicht bösartig, nur spricht er kaum und versucht sich immer zu verstecken. Übrigens lebt er unter freiem Himmel, man weiß nicht wie, und verlangt nichts. Wir sehen ihn zuweilen hier, aber …«

Sie unterbrach sich. Mitten durch das Toben des Sturmes hindurch glaubte sie von Weitem ein wildes Gebrüll zu hören.

»Was ist das?«, fragte sie.

»Es scheint mir in der Tat – doch nein, nein – es ist der Wind, der in den hohen Bäumen pfeift. Welch ein furchtbares Unwetter!«

Die beiden Mädchen schwiegen. Das Haus knarrte und ächzte, als ob es in dem Aufruhr der entfesselten Elemente zusammenbrechen wollte. Die Flamme des Herdes wurde heftig vom Wind zurückgetrieben, welcher sich im Schornstein verfing.

»Also«, hob Fräulein von Barjac wieder an. »Jeannot kommt zuweilen hierher?«

»Ja, ja, gnädiges Fräulein, und er jagt mir allemal tödlichen Schrecken ein. Wenn er in Abwesenheit meines Vaters kommt, so verstecke ich mich allemal auf dem Oberboden, denn er sieht mich mit einer Miene an …«

»Ich kenne diesen Blick«, sagte Christine bei dieser Erinnerung selbst erbleichend, »aber, liebe Marion, erkläre mir, warum Jeannot von diesem Wolf begleitet wird, den man die Bestie des Gévaudan nennt, und warum dieses Tier ihm nicht bloß nichts zu Leide tut, sondern sogar an seiner Gesellschaft Gefallen zu finden scheint?«

»Was sagt Ihr, gnädiges Fräulein?«, fragte Marion mit aufrichtigem Erstaunen. »Davon weiß ich nichts. Allerdings glaubt Jeannot in seinen Anwandlungen von Wahnsinn selbst ein Wolf zu sein. Dieser Gedanke ist ihm eingekommen, als er noch seine Herde auf den Bergen hütete. Ich habe ihn selbst auf allen vieren im Wald herumlaufen sehen wie ein wildes Tier. Aber, guter Gott! Wie soll man glauben, dass ein Christ in der Gesellschaft der Bestie des Gévaudan leben könnte?«

»Auch ich habe ihn gesehen, Marion, und werde diese Begegnung in meinem ganzen Leben nicht vergessen. Ja, ja«, setzte Christine in düsterem Ton hinzu, »in mehr als einer Beziehung wird der heutige Tag unauslöschliche Spuren in meiner Erinnerung zurücklassen!«

Es trat abermaliges Schweigen ein.

»Gnädiges Fräulein«, hob endlich Marion mit nachdenklicher Miene wieder an, »ich entsinne mich, dass Jeannot, ehe er den Verstand ganz verlor, in unserer Gegend für einen Hexenmeister galt, welcher die Tiere zu bezaubern verstünde. Zu jener Zeit hatte er einen jungen Wolf gezähmt, den er im Wald gefunden hatte, und dieser Wolf lief ihm überall nach wie ein Hund. Mein Vater und die anderen Forsthüter zwangen Jeannot, sich seines Zöglings zu entledigen, welcher ersäuft, erschossen oder erwürgt wurde – ich weiß selbst nicht was. Seit dieser Zeit hat Jeannot recht wohl wieder ein anderes wildes Tier bezaubern können.«

»Wer weiß«, hob Christine von einer plötzlichen Idee ergriffen wieder an, »ob dieser junge Wolf wirklich getötet wurde, ob es Jeannot nicht gelungen ist, die Forsthüter zu täuschen und ob sein Zögling nicht jetzt herangewachsen ist! Diese Voraussetzung würde die seltsamen Dinge, welche man erzählt, hinreichend erklären. Ich bin fest überzeugt …«

»Still! Still! Hört doch«, sagte Marion mit gedämpfter Stimme, indem sie den Arm ausstreckte, um Aufmerksamkeit zu erwecken.

Dieses Mal ließ sich ein doppeltes vollkommen deutliches Geheul in einiger Entfernung vom Haus hören. Das eine war hell, gewaltig und betäubend, das andere heiserer, weniger anhaltend und klang wie eine ungeschickte Nachahmung des ersten.

»Wir sind verloren!«, murmelte Marion kaum atmend.

»Diese teuflische Bestie wird trotz des Sturmes und dieser Wasserströme meine Spur wiedergefunden haben«, hob Christine kaum weniger bewegt wieder an. »O, wenn ich eine Waffe hätte!«

Fargeots Flinte hing an dem Kaminsims, und Christine bemächtigte sich ihrer mit Begier. Aber diese Flinte eines faulen und nachlässigen Forsthüters war verrostet, in schlechtem Zustand und nicht geladen. Vergebens verlangte Fräulein von Barjac Pulver und Kugeln. Die arme Marion, die vor Schrecken außer sich war, verstand sie nicht.

Mittlerweile war das Geheul näher gekommen und plötzlich pochte man heftig an die Tür, während gleichzeitig scharfe Klauen sich in das Holz eingruben, um es zu zerkratzen. Da die Tür Widerstand leistete, so hörte man eine krächzende Stimme, welche rief: »Es sind die Wölfe – die Wölfe wollen hinein – Mach auf, Marion, mach schnell auf oder die Wölfe werden dich fressen!«

Marion, die nicht imstande war zu antworten oder auch nur eine Bewegung zu machen, schmiegte sich an Fräulein von Barjac. Diese, ebenfalls stumm und zitternd, verzichtete bald auf Verteidigungsanstalten, die, wie sie einsah, vergeblich waren.

Das Pochen und das Kratzen an der Tür dauerte mit gesteigerter Wut fort. Man versuchte sogar den Boden darunter auszuhöhlen, um sich einen Eingang zu bahnen. Erde und Steine wurden hinweggescharrt. Durch die Öffnung hindurch sahen die angsterfüllten Belagerten eine breite, haarige, mit furchtbaren Nägeln bewaffnete Tatze hindurchkommen.

Dennoch aber schien es, als ob irgendein nicht zu beseitigendes Hindernis diese Arbeit unterbräche. Der Feind begann nun eine andere Taktik anzunehmen, um das Haus herumzuschleichen, um die schwachen Stellen zu ermitteln und auf einem anderen Punkt eine Bresche zu ermöglichen zu suchen. Man hörte sie an der Hintertür des Hauses und dann an jedem Fensterladen herumarbeiten. Die Zähne und Klauen hörten nicht auf, an den Brettern herumzuraspeln. Aus jeden fruchtlosen Versuch folgte ein unheimliches Geheul.

Die Lage der beiden unglücklichen jungen Mädchen begann eine verzweifelte zu werden. Die tiefe Dunkelheit, welche sie jetzt umgab und kaum durch den durch die Ritzen der Hütte fallenden Schein der Blitze unterbrochen wurde, dieser Aufruhr der Elemente, dieses fortwährende Brüllen und mehr als alles diese nach der Reihe auf alle Teile des Hauses erfolgenden Angriffe bereiteten ihnen eine tötliche Angst. Das Haus war alt und schlecht unterhalten. Es schien unmöglich, dass es den beiden Angreifern, dem Mann und dem Wolf, nicht bald gelingen müsse, in die Hütte einzudringen, wenn diese nicht bald Beistand erhielt.

Wer aber konnte zu dieser Stunde des Abends und bei diesem entsetzlichen Wetter wohl auf den Gedanken kommen, sich zum einsamen Waldhaus zu begeben? Selbst

wenn ein verirrter Jäger seine Schritte in diese Richtung lenkte, selbst wenn Fargeot, wie seine Tochter von einem Augenblick zum anderen hoffte, nach Hause zurückkehrte, was konnte wohl ein einziger Mann gegen die Bestie des Gévaudan und gegen einen wütenden Irrsinnigen ausrichten, der nicht weniger furchtbar war als das Tier?

Dennoch aber schienen die Belagerer die Nutzlosigkeit dieser oberflächlichen Angriffe auf mehre Punkte des Hauses einzusehen. Ihre Taktik abermals ändernd, konzentrierten sie ihre Anstrengungen auf den Laden eines Fensters. Sie hätten nicht besser wählen können. Das Holz des Fensterladens war von der Feuchtigkeit halb verfault. Die verrosteten Beschläge mussten bald biegen oder brechen. Eine kräftige, ohne Zweifel mit einem Stein bewaffnete Hand pochte anhaltend gegen diesen Laden. Das ganze Haus erzitterte und die Bretter schienen sich bei jedem Schlag öffnen zu müssen.

In den kurzen Zwischenpausen, wo das Pochen ruhte, sagte eine heisere Stimme unter dem Fenster: »Die Wölfe wollen hinein – die Wölfe werden hineinkommen – und sie werden alles fressen – die Wölfe werden hineinkommen!«

Ein stärkerer Schlag als die anderen spaltete das Holz des Fensterladens seiner ganzen Länge nach. Wildes, höhnisches Gelächter verkündete dieses Ergebnis den armen verzweifelten Mädchen. Sie konnten einander nicht sehen, aber sie suchten sich unwillkürlich im Dunkeln und schmiegten sich aneinander.

»Nun ist keine Hoffnung mehr«, sagte Marion mit gebrochener Stimme. »O, gnädiges Fräulein, Gott ist mein Zeuge, dass ich nicht um meinetwillen zittere. Ich bin so unglücklich gewesen! Seitdem ich meine Mutter verloren, habe ich keinen freudigen Augenblick wieder gehabt. Oft hat es mir am Notwendigsten gemangelt – allein, verlassen habe ich mir fast die Augen ausgeweint. Nein, ich fürchte den Tod nicht um meinetwillen, obwohl ich mir ihn weniger grausam gewünscht hätte. Oft habe ich den Wassertümpel hinter dem Haus betrachtet und bin mit dem Gedanken umgegangen, mich hineinzustürzen, um meinem erbärmlichen Dasein ein Ende zu machen. Aber um Euretwillen habe ich Furcht, gnädiges Fräulein, um Euretwillen, die Ihr so schön, so edel, so reich seid, Ihr, die Ihr alles besitzt, um glücklich zu sein.«

»Unser Schicksal wird bald ein gleiches sein!«, entgegnete Christine mit verstörtem Blick, »aber wir können nicht so umkommen! Was! Sollte denn unter dieser Menge, die sich heute Morgen um mich herumdrängte und mich mit Beteuerungen ihres Eifers überhäufte, niemand sein, der mich verteidigte?«

»Wir haben nun weiter keine Zuflucht mehr als zu Gott gnädiges Fräulein.«

»Dennoch aber hatte ich gehofft, dass wenigstens einer – doch nein, nein, ich habe seine guten Dienste zurückgewiesen. Vielleicht würde ich selbst in diesem furchtbaren Augenblick noch zögern, sie anzunehmen.«

»Einer – wohl jemand, der Euch liebt?«, fragte Marion im Ton unaussprechlicher Wehmut. »Ach, gnädiges Fräulein, Euch war also jedes Glück beschieden. Mich liebt niemand, niemand wird mich bedauern, wenn mich dieses wilde Tier zerrissen haben wird.«

In diesem Augenblicke zerbrach der Fensterladen vollends ganz. Ein Blitz gestattete durch die Öffnung hindurch das scheußliche vom Regen triefende Antlitz Jeannots und die gähnende Schnauze und das funkelnde Auge des Wolfes zu sehen, der auf seinen Hinterpfoten stehend die Trümmer des zerbrochenen Brettes wegzureißen versuchte.

Marion bedeckte das Gesicht mit den Händen, blieb aber mit resignierter Miene unbeweglich stehen.

Fräulein von Barjac dagegen konnte diesen furchtbaren Anblick nicht ertragen. Sie prallte bis an das äußerste Ende des Zimmers zurück und rief: »Hilfe! Mein Gott! Hilfe! Hilfe! Ich glaubte mich so stark und ich habe weder Kraft noch Mut! O, wer es auch sei, der mir in meiner tiefen Not Hilfe bringt, so werde ich ihn segnen, so lange ich lebe.«

Gerade, als ob dieses Flehen gehört worden wäre, antworteten menschliche Stimmen in einiger Entfernung vom Haus.

Jeannot und die Bestie hielten in dem Augenblick, wo sie in das Haus hineinspringen wollten, inne.

«Hilfe! Hilfe!«, rief Christine, abermals durch plötzliche Hoffnung wieder belebt.

»Hilfe! Hilfe!«, wiederholte Marion mit ihrer schwachen Stimme.

Die vier funkelnden Augen verschwanden vom Fenster. Im selben Augenblick kamen mehrere Personen herbeigeeilt. Man pochte entschlossen an während jemand von draußen sagte: »Sie ist hier! Ich habe ihre Stimme erkannt. Ich bin fest überzeugt, dass sie hier ist.«

Augenscheinlich war die Gefahr vorüber, aber Christine konnte sich immer noch nicht rühren. Die Tochter des Forsthüters ging die Tür aufriegeln.

Sofort stürzten die Ankommenden in das Haus.

Ein Dämmerschein erhellte noch das Freie, das Innere des Hauses aber blieb in Finsternis gehüllt. Einer von denen, welche eingetreten waren, fragte in bewegtem Ton: »Christine! Fräulein von Barjac! Im Namen des Himmels! Seid Ihr hier?«

»Ja, ich bin hier. Leonce, und ich danke Euch – Euch und denen, die Euch begleiten, für den Dienst, den Ihr mir leistet.«

»Gott sei gepriesen! Ach, Fräulein, Ihr habt mir tödliche Unruhe bereitet.«

Marion zündete ein Licht an. Leonce hatte einen Jagdwächter und einen Diener vom Schloss mitgebracht, denen er im Wald begegnet war, während er Christines Spur suchte.

Er hatte ihnen befohlen, mit ihm zu gehen. Trotz des Regens hatten alle drei den Teil des Waldes durchforscht, welcher an die Lache grenzte.

Endlich in der Voraussetzung, dass Christine ein Asyl im Waldhaus, der einzigen Wohnung in der Nähe, gefunden habe, waren sie hierhergekommen, um sich davon zu überzeugen, und, wie wir gesehen haben, gerade noch zur rechten Zeit angelangt.

Sie schienen im beklagenswertesten Zustand zu sein. Sie hatten die ganze Wut dieses furchtbaren Gewitters ausgehalten und ihre Kleider troffen von Wasser.

Leonce besonders war ganz erschöpft. Seine Krankheit, sein verwundeter Arm, den er in einer Binde trug, hätten ihm dergleichen Anstrengungen verbieten sollen. Die Blässe seines Gesichtes verriet seine furchtbare Erschöpfung. Dennoch aber beklagte er sich nicht. Weit entfernt hiervon strahlte sein Antlitz vor Freude, als er Fräulein von Barjac unversehrt vor sich sah.

Der Jagdwächter und der Diener kümmerten sich ihrerseits wenig um die Unordnung, in welche ihre Kleidung gekommen war. Die Freude, ihre Herrin wiedergefunden zu haben, welche man trotz ihres seltsamen, eigensinnigen Wesens anbetete, und vielleicht auch der Gedanke, dass bei der Rückkehr zum Schloss eine gute Belohnung sie erwarte, machte sie gegen alles Übrige gleichgültig.

Die arme Marion hatte sich beeilt, ein neues Reisigbündel in den Kamin zu werfen. Dies war alles, was sie für ihre Gäste tun konnte.

Während sie vor dem Feuer ihre durchnässten Kleider trockneten, blieb Christine beiseite auf einem Schemel sitzen und wiederholte unaufhörlich die Worte: »O, welch ein Tag! Welch ein schrecklicher Tag!«

Endlich wendete sie sich gegen Leonce und fragte ihn in einem Ton, der noch einen Rest von Verstörtheit verriet.

»Als Ihr jetzt hierherkamt, habt Ihr sie doch sehen müssen. Nicht wahr?«

»Wen denn, Fräulein von Barjac?«

»Nun die, welche Eure Gegenwart zur Flucht bewogen hat – jenen grässlichen Wahnsinnigen und jenes furchtbare Tier, dessen Beute wir beinahe geworden wären.«

»Ich verstehe Euch nicht, Christine, wir haben niemanden gesehen.«

»Was? Hier vor diesem Fenster habt Ihr nicht gesehen …«

»Wir sind von der entgegengesetzten Seite hergekommen. Übrigens blendete uns der Regen und der Wind brauste in unseren Ohren. Aber ich bitte Euch, Fräulein, sagt mir was geschehen ist.«

Christine erzählte ihm in wenigen Worten ihr Abenteuer, seitdem sie sich von ihm im Wald getrennt hatte.

Die Zuhörer vernahmen diesen Bericht mit einer Miene von Erstaunen und Bestürzung, worin sich ein gewisser Grad von Unglauben mischte. Leonce selbst neigte sich der Meinung zu, dass Fräulein von Bariac noch im Fieberdelirium befangen sei und verbarg diese Meinung nicht genug.

»Morbleu! Haltet Ihr mich denn für wahnsinnig?«, rief Christine mit ihrem gewöhnlichen Ungestüm. »So fragt doch diese arme Marion, fragt sie, was sie gesehen, was sie soeben hier gehört hat!«

Marion bestätigte schüchtern und mit niedergeschlagenen Augen die Erzählung ihrer Herrin.

»Und wenn dieses Zeugnis Euch nicht genügt«, fuhr Christine fort, »so betrachtet dieses Fenster. Sind die, welche es eingeschlagen haben, vielleicht chimärische Geschöpfe gewesen?«

Der Jagdwächter hob die Trümmer des zerbrochenen Fensterladens auf. Obwohl das Holz auf der Oberfläche verfault war, so besaß doch das Innere – es war starkes Eichenholz – noch bedeutende Festigkeit. Es hatte einer nicht gewöhnlichen Kraft bedurft, um es zu zerbrechen. Überdies bemerkte man auch auf dem Brett und sogar an den eisernen Beschlägen tiefe Ritzen, wie von einem spitzen Instrument herrührend.

Die Bruchstücke des Ladens gingen von Hand zu Hand. Der Jagdhüter und der Diener betrachteten sie und schüttelten betroffen den Kopf. Leonce wurde nachdenklich.

»Verzeiht mir, Fräulein Christine«, hob er wieder an, »dass ich gewagt habe, einen Zweifel an diesem außerordentlichen Ereignis kundzugeben. Ich erinnere mich jetzt in verschiedenen Büchern gelesen zu haben, dass gewisse, an das Leben der Einsamkeit gewöhnte Menschen und ganz besonders die Hirten im Gebirge leicht in eine Art Wahnsinn verfallen, welcher darin besteht , dass sie in Wölfe verwandelt zu sein glauben. Diese Monomanie, welche die Gelehrten mit dem Namen Lykanthropie bezeichnen, ist, wie man sagt, besonders in den schottischen Hochlanden sehr häufig, doch gestehe ich, dass ich bis auf den heutigen Tag diese Berichte für Fabeln gehalten hatte und dass mir das Vorhandensein solcher Wolfsmenschen oder Lykanthropen sehr problematisch zu sein schien. Jetzt jedoch bleiben mir über diesen Punkt keine Zweifel mehr übrig. Es scheint mir bewiesen zu sein, dass Jeannot mit der Lykanthropie behaftet ist. Unerklärlich aber ist mir noch das Einverständnis, welches zwischen diesem Wahnsinnigen und dem wirklichen, blutdürstigen, furchtbaren Wolf besteht, welcher der Schrecken dieser ganzen Umgebung ist.«

Christine wiederholte die Erklärung, die sie von Marion Fargeot in Bezug auf den jungen Wolf erhalten, welchen Jeannot früher einmal gezähmt hatte.

Da Leonce in dieser Tatsache noch keinen genügenden Beweggrund für diese monströse Gemeinschaft sah, so sagte der alte Jagdwärter, der sich vor dem Feuer wärmte, plötzlich: »Mit Eurer Erlaubnis, Monsieur, und auch mit Erlaubnis des edlen Fräuleins, unserer Herrin, es liegt in all diesem durchaus nichts Außerordentliches. Wenn Jeannot wirklich das Tier aufgezogen hat, so hat dieses sich recht gut an ihn gewöhnen können, selbst wenn es wieder wild geworden wäre. Ich könnte mehrere Beispiele derselben Art anführen. Ich kam selbst einmal auf die Idee, eine kleine Wölfin aufzuziehen, welche von einem durch die Hunde des Herrn Grafen erwürgten Wurf übrig geblieben war. Ich ließ sie von meiner Hündin säugen, welche endlich viel Zuneigung zu ihr fasste und ihr diese Nahrung ebenso gern und regelmäßig gewährte wie ihren Jungen. Als die Wölfin groß wurde, hielt ich sie aus Furcht vor einem Unfall sorgfältig angebunden, aber sie zerriss ihre Kette und lief davon. Ich dachte nicht mehr daran, als ich zwei Jahre später, während ich im Gebüsch von Pouillac jagte, meine Hündin plötzlich eine Fährte mit vielem Eifer aufnehmen und ohne anzuschlagen in das Dickicht eindringen sah. Da ich nicht wusste, was dies bedeuten sollte, so folgte ich ihr. Nachdem ich einige Augenblicke gesucht hate, fand ich sie beschäftigt, ganz freundschaftlich eine Wölfin zu lecken, welche ihr ihre Liebkosungen zurückzugeben schien. Als die Wölfin mich erblickte, sprang sie wie erfreut in die Höhe. Ich legte, ohne mir die Sache weiter zu überlegen, meine Büchse an und gab Feuer. Das arme Tier stürzte nieder. Als ich mich ihm näherte, schleppte es sich sterbend heran, um mir die Füße zu lecken. Wir hatten einander erkannt. Es war die Wölfin, welche ich aufgezogen hatte. Meine Hündin weinte und in der Tat, ich glaube, ich weinte auch. Ihr seht daher, dass selbst die Raubtiere zuweilen Gefühl zeigen. Nichtsdestoweniger will ich gern gestehen, dass, wenn die Wölfin Junge gehabt hätte, meine Hündin und ich vielleicht nicht so gut empfangen worden wären.«

»Und ebenso«, hob Fräulein von Barjac wieder an, »hat es mir geschienen, als ob das gute Einvernehmen zwischen diesem unglücklichen Wahnsinnigen und seinem scheußlichen Kameraden zuweilen gestört würde. Wie dem aber auch sei, so muss man auf Mittel denken, mein Besitztum so bald wie möglich von diesen gefährlichen Bewohnern zu befreien.«

»Ist denn Jeannot wirklich auch an und für sich selbst gefährlich?«, fragte Leonce, von einem Argwohn betroffen.

»Jagdwächter, Ihr könnt jetzt nicht mehr leugnen, dass Ihr Jeannot oft im Wald seit seiner Rückkehr nach Mercoire begegnet seid, obwohl Euer Vorgesetzter, der Oberforsthüter Fargeot, Euch verboten hat, von diesem Umstand zu sprechen. Ich beschwöre Euch daher, mir offen zu antworten: Glaubt Ihr, dass dieser Wahnsinnige in seiner Manie imstande wäre, menschliche Wesen anzufallen?«

Der Leser wird sich erinnern, dass Leonce, als er sich am Abend vorher im Tal der Monadière aus dem Sattel geschleudert sah, nicht von einem Wolf, sondern sich von einem Menschen angegriffen geglaubt hatte.

Der Jagdhüter antwortete, dass Jeannot, den er übrigens sehr wenig kenne und den er erst zwei- oder dreimal gesehen hatte, ihm sehr harmlos erschienen sei und dass derselbe allemal bei seiner Annäherung entflohen sei.

Marion bestätigte diese Erklärung.

»Wohlan«, sagte Leonce, »dann irre ich mich. Ich vermutete einen Augenblick – doch nein, nein, ich verleumde diesen armen Narren. Er würde die Nachahmung nicht so weit haben treiben können.«

Während dieses Gespräches hatte das Ungewitter sich ausgetobt und der Regen hatte aufgehört. Die Stürme in den Gebirgen haben umso weniger Dauer, je größer die Heftigkeit ist, mit der sie entfesselt werden. Der Diener ging auf die Schwelle der Tür hinaus und gewahrte durch die Risse der großen, schwarzen Wolken hindurch, welche noch grollend entflohen, den mit Sternen besäten, blauen Himmel. Er beeilte sich, den anderen diese gute Nachricht mitzuteilen.

»Fräulein«, sagte Leonce zu Christine, die immer noch düster und träumerisch dasaß. »wäre es Euch genehm, wenn wir uns aus den Weg machten? Man wird im Schloss sehr in Sorge um Euch sein. Indessen, da der Regen ohne Zweifel die Wege sehr ungangbar gemacht hat, so wäre es vielleicht besser, wenn wir ein Pferd holen ließen …«

»Nein, ich werde zu Fuß gehen«, entgegnete Christine, indem sie sich rasch erhob. »Es liegt mir daran, daheim in Sicherheit zu sein. Wir laufen vielleicht noch Gefahr, wenn wir den Wald zu dieser Stunde passieren.«

Der Jagdhüter und der Diener hatten Gewehre, aber der Regen hatte das Pulver notwendig nass gemacht. Christine befahl daher, in ihrer Gegenwart die Flinten wieder von Neuem zu laden. Was Leonce betraf, so hatte er nur einen Stock, um seinen wankenden Schritt zu stützen, aber er gedachte sich dessen im Fall eines Angriffes mit Nutzen zu bedienen und versicherte dies Christine, welche ihn mit wehmütigem Lächeln anhörte.

Nachdem diese Vorbereitungen beendet waren, näherte sich Fräulein von Barjac der Tochter des Oberforsthüters, welche mit geheimer Furcht der Verlassenheit entgegensah, in welcher sie zurückbleiben sollte.

»Marion, liebes Kind«, sagte Christine in gütigemTon, »wir haben miteinander eine jener Angststunden verlebt, welche man nie wieder vergisst. Du wirst fortan und stets an mir eine eifrige, treue Freundin haben. Worte, welche dir entfallen sind, haben mir verraten, dass du nicht glücklich bist. Ich will wissen, was der Grund deines Kummers ist. Besuche mich morgen auf dem Schloss. Du wirst mir deine Kümmernisse erzählen, und vielleicht finden wir Hilfe dagegen.«

Marion war tränengerührt.

»O, gnädiges Fräulein, wie gütig seid Ihr!«, antwortete sie in innigem Ton. »Ich bin ein armes Geschöpf, welches nicht würdig ist, von einer edlen und reichen Dame wie Ihr mit Wohlwollen betrachtet zu werden. Indessen, wenn Ihr einige Teilnahme für mich gefasst habt, so beschwöre ich Euch, zeigt Euch nachsichtig gegen meinen Vater. Er hat ohne Zweifel große Fehler begangen und er wird deren in Zukunft vielleicht noch mehr begehen. Ich bitte Euch aber inständig …«

»Gut, gut, wir werden mehr hierüber sprechen und es soll sich alles zu deiner Zufriedenheit gestalten, das verspreche ich dir. Komm morgen aufs Schloss. Ich werde dich erwarten. Bis dahin Mut gefasst. Meine Herren, seid Ihr bereit?«

Marion schien immer unruhiger und verlegener zu werden. »Gnädiges Fräulein, gnädiges Fräulein!«, stammelte sie, endlich ihre Schüchternheit überwindend. »Wollt Ihr mich denn verlassen? Wenn sie nun wiederkämen?«

Christine schlug sich vor die Stirn. »Ganz recht!«, rief sie. »wie konnte ich nur nicht daran denken! Ja, man hat recht. Bisweilen bin ich wirklich egoistisch und rücksichtslos. Verzeih mir, Marion, ich hätte bedenken sollen, dass man dich hier mit dem zerbrochenen Fenster nicht allein lassen kann. Wohlan, liebes Kind, warum willst du nicht gleich jetzt mit uns zum Schloss gehen?«

»Gnädiges Fräulein, das kann ich nicht. Mein Vater wird nun bald nach Hause kommen, und wenn er mich nicht fände …«

»Dann soll Grand-Pierre bis zu Fargeots Rückkehr bei dir bleiben. Er hat ein Gewehr und weiß sich dessen zu bedienen. Unter seinem Schutz wirst du nichts zu fürchten haben.«

»Ach, gnädiges Fräulein, wie vielen Dank bin ich Euch schuldig! Es wird Monsieur Grand-Pierre nicht sehr ermüden und übrigens mein Vater nun auch nicht lange mehr aus» bleiben.«

Grand-Pierre, der Diener, schien über den Auftrag, den man ihm erteilte und den er gleichwohl nicht zurückweisen konnte, nicht sehr erfreut zu sein.

»Morbleu, Marion«, hob er in ärgerlichem Ton an, »wenn ich warten soll, bis Euer Vater kommt, so riskiere ich die ganze Nacht bei Euch bleiben zu müssen.«

»Warum denn, Monsieur Grand-Pierre?”

»Weil heute Abend, ehe ich hierherkam, wir, Jerome hier und ich, Euren Vater ganz betrunken am Rand des Weges von Cransac, eine Viertelstunde von hier, liegend fanden. Wir wollten ihn bewegen, sich zu erheben, aber es war ihm nicht möglich. Man hätte ihn tragen müssen, was unmöglich war, so groß und schwer wie ist er. Wir haben uns daher begnügt, ihn in ein Felsenloch zu wälzen und ihn gegen das eben anziehende Gewitter zu schützen. Ohne Zweifel liegt er noch darin und wird allem Anschein nach vor morgen Früh nicht zur Besinnung kommen.«

Marion errötete vor Scham und die Tränen traten ihr in die Augen. Sie sagte zu Christine, aber ohne, dass sie gewagt hätte, sie anzusehen: »Verzeiht ihm, gnädiges Fräulein, trotz seiner Fehler liebt er mich – ja, er liebt mich – wenigstens so sehr wie er lieben kann. Übrigens empfahl mir meine Mutter auf ihrem Sterbebett unter allen Umständen über ihn zu wachen und ihn gegen seine eigenen Fehler zu schutzen. Dieses heilige Versprechen werde ich halten. Mein unglücklicher Vater kann nicht die Nacht der rauen Luft und den Angriffen wilder Tiere ausgesetzt zubringen. Ich muss sofort mich aufmachen, ihn zu suchen, aber ohne Hilfe kann ich nicht …«

»Ich verstehe dich. Grand-Pierre wird dich bis an den Ort begleiten, wo dein Vater sich befindet und wenn nötig, Dir ihn nach Hause führen helfen. Er wird sich nicht eher verlassen, bis Ihr wieder hier angelangt seid und nichts mehrzu fürchten habt. Bist du damit einverstanden?«

Marion erschöpfte sich in Danksagungen. Mittlerweile hatte der Jagdhüter Jerome das eingeschlagene Fenster, so gut er konnte, wieder repariert. Fräulein von Barjac empfahl ihren Schützling ihrem Diener Grand-Pierre an, erinnerte das junge Mädchen nochmals daran, dass sie sie den nächstfolgenden Tag erwarte, und verließ dann auf Leonces Arm gestützt und von Jerome begleitet, der sich bereit hielt, im Notfalle sofort Feuer zu geben, die Hütte des Oberforsthüters.