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Der Welt-Detektiv Band 6

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Diane Teil 1 – Kapitel 11

Alexander von Ungern-Sternberg
Diane
Ein Kriminalgemälde der modernen Gesellschaft
Berlin, 1842, Buchhandlung des Berliner Lesekabinetts

Elftes Kapitel

Das Wiedersehen

Die Lebensweise der Fürstin war keiner Veränderung unterworfen. Es blieb darin sich alles gleich. Um die gewohnte Stunde wurde der Besuch aus der Nachbarschaft empfangen, um die gewohnte Stunde wurde ein Spiel gemacht, um die gewohnte Stunde wurde musiziert oder gelesen. Der junge Neffe war nur sehr selten dazu aufgelegt, den Umgang seiner Tante auch zu dem seinen zu machen. Er führte eine Lebensweise für sich, die nicht minder unregelmäßig, aber etwas munterer war als die der alten Dame. Judith hatte bald erforscht, dass er ein leidenschaftlicher Jäger, ein wilder Spieler und im Punkt der Frauen ein toller Ausschweifling war, und dass demzufolge sein Gleichmut und seine Ruhe, mit der er sich zu Hause zeigte, nur erkünstelt sein musste. Sein Benehmen gegen Judith war vertraut, aber nie beleidigend. Die Munterkeit, die im Charakter des jungen Mädchens zu liegen schien, ihr Witz und ihre gute Laune zogen ihn an, und die Mittagsstunde, wo beide sich allein gegenübersaßen, war immer eine sehr erwünschte für den jungen Leichtfuß. Er gab sich alle Mühe, liebenswürdig zu sein und Judiths Aufmerksamkeit zu fesseln, denn so oberflächlich er auch zu urteilen pflegte, so ahnte er doch etwas Besonderes, Ungewöhnliches in dem Wesen seiner neuen Bekanntschaft. Er hatte die Kunde ihrer Liebenswürdigkeit überall hin verbreitet und seine Freunde auf den seltenen Schatz neugierig gemacht, ohne ihnen denselben zu zeigen.

»Wissen Sie wohl«, hob er eines Tages an, »dass die guten Leute der Nachbarschaft sehr begierig sind, Ihre Bekanntschaft zu machen, und dass zu fürchten steht, sie möchten alle möglichen Maschinen in Bewegung setzen, um ihren Zweck zu erreichen. Sie sind in Ihrem wüsten Schloss tatsächlich nicht länger sicher.«

»Und wer wünscht mich zu sehen?«, fragte Judith.

»Da ist die Frau von Traubenstein, die auf diesen Punkt närrisch ist«, antwortete der junge Mann. »Ich versichere Ihnen, dass sie Ihnen ordentlich nachstellt. Was soll man beginnen?«

»Ihr den Willen tun.«

»Wie, teure Diane, Sie wollten also eine Einladung von Frau von Traubenstein annehmen?«

»Weshalb nicht? Ihre Tante, mein Herr, kümmert sich sehr wenig um das, was ich tue. Die Dame, von der Sie sprechen, ist eine achtbare Frau. Es wird mir lieb sein, ihre Bekanntschaft zu machen, und wenn sie mir ihren Schutz gewähren will …«

»Das wird sie mit großem Vergnügen«, fiel der Baron schnell ein. »Die Sache ist abgemacht. Frau von Traubenstein muss meine Mutter um Erlaubnis bitten, Sie einige Tage bei sich behalten zu dürfen. So wie die Verhältnisse noch jetzt gestaltet sind, wird meine Mutter diese Erlaubnis nicht verweigern.«

Diese Andeutung, so leicht sie hingeworfen wurde, entging Judith nicht. Die Frau des Bankiers kam. Mit ihr kam Judith auf dem nur wenige Meilen entfernten benachbarten Landgut an. Es war völlig verschieden von dem Feudalschloss der Fürstin. Im modern gotischen Stil gebaut, lag es bunt, breit und glänzend da, ziemlich geschmacklos, aber, was die Einrichtungen des Inneren betraf, sehr bequem. Herr von Traubenstein war ein adlig gewordener Bankier und spielte jetzt den galanten Ritter des Mittelalters. Einen runden Saal hatte er mit den Erinnerungen aus Preußens Vorzeit bemalen lassen. Es fehlte darin nicht an feuerroten und berlinerblauen Federbüschen, an grotesken Ordenstrachten und kaffeebraunen Mönchsgewändern, mit den dazugehörigen Gesichtern, Händen und Füßen. In diesem Saal waren alle Möbel mit Bernstein ausgelegt, und der Baron pflegte zu bemerken, dass der Bernstein ein wundervoll bereitetes Erdholz sei, welches die Naturforscher noch nicht genug analysiert hätten, und das vorzüglich der preußischen Küste eigen sei. Die alten Ritter und der Bernstein machten diesen Teil des Landhauses unbequem, in allen anderen Zimmern lebte man sehr behaglich.

Die Zusammenkünfte hier waren sehr bunt und geräuschvoll. Jeder Tag brachte neue Gäste. Man wusste nicht, wo sie herkamen, aber sie waren da. Der Park und der Garten waren mit Spaziergängern gefüllt, an den Seen saßen alte Herren mit Brillen, die den Fischen beschwerlich fielen, ohne sie doch fangen zu können. Die offenen Fenster gaben den Gesang der Stimmen frei, die drinnen neue Operarien wohl oder übel vortrugen. Am Abend tanzte man, belustigte sich an Spielen der Unschuld. Der gutmütige Hausherr war höchst erfreut, eine so lustige Gesellschaft beisammen zu haben, und entpfropfte manche Flasche, um seinerseits auch nicht ohne Vergnügen zu bleiben. Man trank, man lachte, man tanzte und vermied nur den Saal mit dem Bernstein und den geschichtlichen Erinnerungen aus Preußens Vorzeit.

Wenn wir Judith in den geselligen Formen der sogenannten großen Welt eingeweiht haben, wenn wir sie elegant und zierlich sich bewegen sehen und ein besseres Französisch sprechen hören, als jemals in diesen Kreisen gehört wurde, so kann dies bei dem Mädchen, das unter Elend, Niedrigkeit und Verbrechen aufwuchs, unnatürlich erscheinen. Allein wir dürfen nicht vergessen, dass sie acht Jahre in einer der ersten Erziehungsanstalten der Hauptstadt zugebracht hatte. Dies ist genug, um sich die äußeren Formen anzueignen. Wieviel Judith in ihrem Inneren von den Eindrücken ihrer Jugend bewahrte und wie wenig diese zu vertilgen war, werden wir im Verlauf ihrer ferneren Schicksale lesen.

»Fräulein von Belmont!«, rief Frau Traubenstein, Judith einem Damenkreis vorstellend. Indem die neu Eingeführte noch beschäftigt war, die Fragen der Begrüßungen, die auf sie losstürmten, zu erwidern, öffnete sich die Tür, und ein junger Mann, vom Hausherrn begleitet, trat ein. Ein Blick auf ihn machte, dass sie erstarrte. Es war Simeon, sie konnte sich nicht irren. Er hatte sie im selben Augenblick auch erkannt. Seine Blicke waren mit einer Art wilder Freude, mit Überraschung und Staunen auf sie gerichtet. Allein beiden verbot der Ort und die Zeit, ihre Gefühle laut werden zu lassen.

Nachdem der Bankier den Ankömmling den älteren Damen vorgestellt hatte, trat er auch zu Judith und rief: »Rittmeister von Treufels, eben zurückgekehrt von seinen Reisen, mir ein sehr werter und warm empfohlener Gast.«

Judith verneigte sich, und der Bankier ließ sie beide allein.

»Judy, ich wusste, dass du hier bist«, flüsterte der vermeintliche Rittmeister. »Teufel, wie bist du schön und groß geworden! Aber auch ich habe mich zu einem ganz kompletten Burschen ausgebildet. Nicht wahr? Nun werde nicht rot, ich begreife, dass wir uns nicht gekannt haben. Nimm dieses Buch, da segelt ein altes Schiff auf uns zu. Sacré! Es lebe die Verstellung!«

»Waren Sie auch in Stockholm, Herr Baron?«, fragte Judith, in einem englischen Taschenbuch blätternd.

»Einen ganzen Winter, mein Fräulein.«

»O, eine wunderbare Stadt!«, rief Frau von Traubenstein, die hinzugetreten war. »Ich habe meinen Mann so oft gebeten, mich nach Schweden reisen zu lassen, aber er behauptet, dass ich die Seereisen nicht vertragen könne. Kannten Sie einen Grafen Silberkron in Stockholm, Herr Rittmeister?«

»Gewiss«, erwiderte der Gefragte. »He! Diable! Es wird keine bedeutende Familie in Schweden sein, mit der ich nicht in Berührung gekommen bin. O, ich hatte vortreffliche Rekommandationen, gnädige Frau. Donnerwetter, das muss wahr sein!«

»Die muss man allerdings mitbringen«, erwiderte die Dame etwas erschreckt über die Exklamationen des Rittmeister, »denn nach den Erfahrungen, die man täglich machen kann, ist der Adel überall noch sehr exklusiv. Dies ist jedoch ganz ohne Beziehungen gesagt!«

Mit einem Blick auf Judith entfernte sie sich.

»Was wollte das Bierfass damit sagen?«, fragte Simeon, als sie fort war.

»Nichts, was uns persönlich angeht«, entgegnete Judith. »Es war eine Bemerkung über meine Beschützerin.«

»Beschützerin, Judy? Ich denke, sie ist deine Verwandte?«

»So weit bin ich noch nicht«, flüsterte das Mädchen, eifrig mit dem Album beschäftigt, das auf dem Tisch lag.

»Aber so weit musst du kommen; diable m’en porte! Wenn ich dir behilflich sein kann, so sage es. Du weißt von alters her, dass ich nicht scherze und ebenso wenig mit mir scherzen lasse.

»Das Beste wird jetzt sein, dass du gehst«, rief Judith unruhig. »Wir dürfen nicht zusammen gesehen werden.«

»Oho! Aber ich werde nicht gehen. Ich finde, dass du sehr hübsch bist, und ich werde Dir den Hof machen. God dam! Ja das werde ich!« Er warf dabei einen frechen und auffordernden Blick auf Judith und drückte leise ihre Hand, die das Buch hielt.

Judith fühlte das Blut zum Herzen treiben. »Verlasse mich!«, sagte sie leise, aber mit festem Ton. »Hier können wir nicht miteinander sprechen. Das siehst du ein.«

»Gut denn, ein anderes Mal!«, rief er und drehte sich rasch um.

Judith sah ihm nach und erblickte ihn bald darauf mit dem Baron im Gespräch. Sie beobachtete ihn jetzt schärfer und ohne Herzklopfen. Dieses Zusammentreffen hatte sie nur auf einen Augenblick erschüttert, jetzt hatte sie ihre Ruhe, ihre Besonnenheit wieder. Sogleich ordnete sie in ihrem Geist die Maßregeln, die sie zu nehmen habe, um Simeons Erscheinen für sich selbst gefahrlos, ja sogar nützlich zu machen. Fortwährend verfolgte sie ihn, wo er ging und stand. Sie staunte über die Veränderung, die in seinem ganzen Wesen vorgegangen war, allein sie war nicht unzufrieden damit. Acht Jahre hatten den Knaben zu einem großen, vollen, etwas derben Jüngling emporwachsen lassen. Ein dunkler Lockenkopf und ein schwarzer Bart, der fast die Hälfte seines Gesichts versteckte, gaben ihm im Verein mit seiner gebräunten Hautfarbe und seinen dunklen blitzenden Augen den Charakter von Mut und Kraft. Aber es waren nicht der Mut und die Kraft, die sich mit Würde und Haltung vereinigten. Es blitzte so viel Frechheit und Schlauheit hindurch, dass ein auch nur oberflächlich beobachtender Blick sich aus der Nähe des Herrn Rittmeisters zurückgescheucht fühlte. Aber in der großen Welt sieht man derlei Gestalten viele. Judith, die anfangs jeden Moment vor der Entdeckung ihres Gefährten erbebte, merkte bald, dass sie sich unnütze Besorgnis machte. Er gefiel ungemein. Die Gesellschaft war entzückt von seinem Unterhaltungstalent und verzieh ihm seine etwas brüsten Manieren, seine Redensarten und Ausdrücke, die nicht die zierlichsten waren.

Die Gesellschaft unternahm öfters Spaziergänge. Auf einem derselben fand der liebenswürdige Rittmeister Gelegenheit, sich seiner früheren Vertrauten zu nähern. Judith war zufällig zurückgeblieben und sah sich am Eingang des Parks von flüchtigen Schritten eingeholt. Sie floh nicht und duldete, dass der Gefährte ihrer Kindheit seinen Arm vertraulich um ihre Taille legte.

Er sagte: »Lass uns diesen Seitenpfad gehen, ma belle. Die Frauen sind ganz toll hinter mir her. Ich werde, hol mich der Teufel, nicht leicht eine freie Stunde wie diese finden!«

Judith sah ihn mit einem scharfen, prüfenden Blick an, während sie sich von ihm fortziehen ließ. Simeon, um diesem Blick zu entgehen, zündete eine Zigarre an, trällerte dann eine Tanzmelodie vor sich hin, warf den Kopf in den Nacken und blies Wolken aus Tabak in die Luft.

»Simeon!«, rief die Genossin seiner Verbrechen, »Du hast nicht den Mut mich anzusehen? Gestehe es, du hast unterdessen die Bahn des Lasters bis an ihr grauenvolles Ziel verfolgt? Gestehe es, Simeon!«

»Noch nicht bis zum Galgen!«, gab der Gefragte lachend von sich und beugte sich rasch vor, um seine Gefährtin zu küssen.

Schaudernd und mit aller Kraft stieß Judith ihn von sich.

»Was ist dir, meine Kleine? Millionen Teufel! Gefalle ich dir etwa nicht mehr? Oder soll ich vielleicht große Umstände mit der kleinen Judy Florentin machen?«

»Lass meinen Arm los! Entferne dich! Ich befehle es dir!«, rief Judith stehen bleibend und ihre Blicke fest auf ihn richtend. Der Zorn presste ihre Lippen zusammen. Blässe deckte ihr Antlitz. Die freche Miene Simeons verschwand und er wich unwillkührlich zurück. Nach einer Weile stammelte er: »Mais, voyez celle coquine! Was ist dir, Judy? Wir sind ja allein, uns hört niemand!«

»Und wenn uns auch niemand hört«, entgegnete die Tochter Florentins mit kalter und fester Stimme, »wenn wir auch miteinander und den Geistern unserer Vergangenheit allein sind, so darf ich doch diese Sprache, diese Marnieren nicht dulden. Höre es, Simeon, ich werde sie nie dulden!«

»Ganz wie Sie befehlen, mein Fräulein«, entgegnete Simeon, seinen Arm, mit dem er sie umfasst hielt, zurückziehend und die Zigarre wegschleudernd. »Ich bin nicht aufdringlich. Ich habe gute Sitten, ma foi, ich habe eine noble tournure!«

Judith schien besänftigt. Beide gingen stillschweigend einige Schritte nebeneinander. Endlich hub er wieder an. »Aber, Donner und Pest! Judy, bist du nicht eine Närrin, dass du mit deiner Angelegenheit nicht weiter gediehen bist? Aber so sind die Weiber! Sie tun alles halb. Lass mich machen. Ich will der alten Fürstin eine Pistole auf die Brust setzen, ich will sie zwingen, zu gestehen, wer du bist. Du wirst sehen, Judy, sie prellen dich ums Geld.«

Judith ging in tiefe Gedanken versenkt. »Wo hast du meinen Vater gelassen?«, fragte sie endlich.

»Er starb im Gefängnis in Würzburg, Judy. Dein und mein Geheimnis ist mit ihm begraben!« Simeon jauchzte laut auf und schlug mit seinem Stock nach den Zweigen der Bäume.

»Er wurde nicht verhört?«

»Er starb noch vor dem Verhör! Saint Crispin! Ich sagte immer, dass er ein alter schlauer Fuchs sei!«

»Friede seiner Asche!«, sagte die Tochter des Verbrechers.

»Braun und Schmidt«, fuhr Simeon fort, »wurden indessen auch bald gefangen; aber es waren Burschen aus Stahl und Eisen. Sie werden nichts verraten haben. Um jedoch den möglichen Folgen zu entgehen, floh ich damals nach Amerika. Ein gescheiter Gedanke, par bleu! Aber es gefiel mir nicht in der neuen Welt; Teufel! Diese Leute haben Gefängnisse, in denen es noch weniger komfortabel eingerichtet ist als in den Käfigen des alten Europas.«

»Du verwirktest also auch dort deine Freiheit?«

»Durch kleine Missverständnisse! Judy, durch kleine Missverständnisse! Lass es dir erklären. Ich hatte eben noch meine Lehrjahre zu bestehen und lebte noch in der ersten schönen Morgenröte der Gaunerei, das heißt in der Praxis des Taschendiebstahls. Ich wohnte bei einer alten puritanischen Witwe, die sich, Gott steh mir bei, allen Ernstes in meine schönen Augen verliebte und für das Heil meiner Seele zu sorgen versprach. Ich machte ihr begreiflich, dass dies am besten auf dem Weg einer Heirat geschähe. Sie sah meine Gründe vollkommen ein. Der Tag war schon festgesetzt, wo ich über ihre Reize und ihre Geldsäcke zum Herrn und Gebieter eingesetzt werden sollte. Welch ein erhabener Fingerzeig des Schicksals, mich auf die Bahn der Ehrlichkeit zurückzulenken, die ich in einem sehr zarten Alter unbewusst verließ! Ah dieu, dans le prinstemps de mes jours! Allein, es sollte nicht sein. Die Gestirne wollten es nicht. Kreuzdonnerwetter! Meine Alte hing von Verwandten ab, die sie bewachten und unseren zarten Bund trennten, ehe er noch völlig geschlossen war. O, die Welt ist perfide! Zur Entschädigung stahl ich meiner ehemaligen Braut ein Armband mit Diamanten. Es wurde entdeckt, und die gute Seele, – o nichts geht über edler Frauen Wert – behauptete vor Gericht, es mir geschenkt zu haben. Aber ein Ring, der sich beim Armband befand, verdarb wieder die ganze Sache. Er gehörte dem Bruder meiner Dame. Da dieser nicht dazu zu bewegen war, diesen Ring ebenfalls als eine geheime Gabe der Zärtlichkeit von seiner Seite anzugeben, so wurde ich als Dieb festgesetzt. Als ich wieder frei kam, hatte ich noch eine Zusammenkunft mit meiner sechzigjährigen Schönen. Sie zerfloss in Tränen und gab mir den Inhalt ihrer Schatulle, um die Rückreise nach Europa zu bestreiten. Eine Bedingung war nur dabei, die mir nicht gefiel; ich sollte sie selbst mitnehmen. Ich wusste, dass ihr Geld verklausuliert war, und von diesem Moment an war meine Liebe erloschen. Ich nahm also die Schatulle und ließ die Alte zurück. In Europa gelandet, lernte ich in Straßburg in einem gewissen Klub eine Gesellschaft ehrenwerter Männer kennen, die einen Geheimhandel zwischen Frankreich und Belgien besorgten. Ein Zweig dieses Handels ging in die Literatur über. Ich lernte hier mir Urteile über Bücher und Ideen anzueignen und gab meinem Wesen einen vornehmen Anstrich. Allein das Geschäft warf wenig ab, und die Buchhändler, diese eingefleischten Teufel, waren uns immer auf den Fersen. Ich bestahl die Kasse unsers Vereins und kam in Paris an, wohlbehalten und in der besten Laune von der Welt. An Verbindungen fehlte es mir nicht, denn mancher stolze Name, in dessen Klang sich kein Zischlaut der Schlange Verleumdung mischte, hatte in unseren Registern gestanden. Ich wurde unterstützt und bezog manches Honorar, solange man mich noch in der Verbindung glaubte. Als aber bald böswillige Zungen die Wahrheit verbreiteten, machte ich selbst den Angeber und gewann die Summe, die auf Entdeckung dieser Umtriebe gesetzt war. Paris lässt kein Talent untergehen, ma foi, das muss wahr sein! Ich erhielt Aufforderungen zu meinem alten Handwerk, du kennst es, Judy, zurückzukehren. Allein das Sitzen behagte mir nicht, und solange ich meine Tasche mit echten Bankzetteln gefüllt wusste, kümmerte ich mich wenig um die falschen. Übrigens war Gefahr dabei. Die Polizei in Paris, kannst du mir glauben, hat andere Begriffe von Schnelligkeit und Geschicklichkeit als hier in diesem idyllischen Land, in den paradiesischen Gefilden Pommerns. Ich trat also in eine Gesellschaft von Aktionären, die für die zweckmäßigsten Schuhe auf dem Wasser zu gehen sammelte. Ich gewann ein paar jungen, reichen Witwen das Geld ab, die mir ihren Wunsch gestanden, gern gefahrlos ins Wasser zu gehen. Eine dieser Damen verliebte sich ernstlich in mich. Sie gab es auf, das Wasser zu beschreiten, und entschloss sich mit mir aufs Trockne zu begeben. Sie war hübsch und jung, nicht ganz so hübsch wie du, Judy, aber tausend Teufel! Für einen Burschen wie ich, wahrlich gut genug. Wir flüchteten, denn die gute Seele hatte auch ihre Gründe, nicht in Paris bleiben zu wollen. In Mailand ließen wir uns nieder und führten ein Götterleben. Ah, ils sont possé les jours de fèles! Ich spielte alle Abende, und meine Frau sah Gesellschaft. Unter den Fortschritten, die meine Erziehung gemacht hatte, gehörten auch einige Feinheiten des Spiels, die das Wunder bewirkten, dass ich niemals verlor. Aber ich war Neuling und fand bald meinen Meister in einem englischen Kapitän auf halbem Sold. Die Folge war, dass ich meine Frau im Stich ließ, eines Abends die Stadt verließ und meinen Zug über die Alpen zurück in das teure Land meiner Väter antrat. Ah, ma belle! Welch einen Reiz haben die väterlichen Fluren! Willst du es glauben, dass ich mein ostindisches Taschentuch an die Augen brachte, als ich zum ersten Mal nach acht Jahren wilden Umhertreibens die Gegend des alten Küstrins wiedersah? Des alten Küstrins, wo die unschuldigen kleinen Spiele unserer Jugend blühten!«

Simeon blickte entzückt gen Himmel, während Judith ihn mit Augen von der Seite betrachtete, in denen Mitleid und Hohn gemischt waren.

»Und jetzt kommst du aus Stockholm?«, fragte sie.

»Wo ich wieder um eine Hoffnung ärmer geworden bin!«, seufzte Simeon. »Ein alter schwedischer Haudegen, dessen Bekanntschaft ich in einem Bad machte, hatte nicht übel Lust, mich zu adoptieren. Allein dieses höllische Ungeziefer, das man Verwandte nennt, legte sich auch hier dazwischen. Ich habe mich gerächt, indem ich ein paar falsche Wechsel auf den alten Knaben ausgestellt habe.«

»Unglücklicher!«, rief Judith, »fürchtest du keine Entdeckung?«

»Ich habe Glück, ma belle! Aber nun erzähle mir etwas von deinen Plänen. Pläne – ein dummes Wort, ich mache nie welche. Die Welle trägt mich, das merke ich, also immer darauf zugeschwommen! Untersinken werde ich nicht. Aber ich weiß, anders ist es mit dir. Du gehst fein und sicher deinen Weg. O, du bist schlau, ma belle, ganz dazu gemacht, mit dieser dummen Welt Fangball zu spielen. Wo ich immer nur die Taschen ausleerte, wusstest du die Seelen um ihre Geheimnisse zu betrügen. He! Habe ich nicht recht? Pest und Tod! Ich habe recht! Aber lass mich jetzt etwas in deine Karten schauen …?«

Judith blickte ihren früheren Gefährten forschend an. »Du hast mich ängstlich gemacht durch deine Geschichte«, sagte sie nach einer Pause. »Werde ich dir trauen können?«

»Gegen dich die Ehrlichkeit selbst, Judy!«, versicherte der junge Gauner und legte die Hand auf die Brust.

»Du machtest die Bekanntschaft des Barons?«

»Ja doch! Hoffst du und erwartest du etwas von ihm? Er scheint mir nicht der Mann dazu, Judy.«

»Gleichviel! Hast du Zutritt in sein Zimmer?«

»Er hat mich zu seinen Jagdpartien eingeladen, und da kann es wohl sein …«

»Still, sprich vorsichtig! Sie näherte sich ihm und flüsterte ihm ins Ohr: »Merke dir auf seinem Schreibtisch eine Mappe, in der er seine Briefe hält …«

»Gut, und weiter …«

»Die schaffe mir bei.«

»Ich will mich hängen lassen, wenn du die Mappe morgen nicht in den Händen hast, ma belle!« Judith blickte sich rasch um und zeigte auf die Gesellschaft, die sich näherte. »Man kommt! Entferne dich!«

»Nein, ich bleibe …«

»Du gehst!«, rief Judith.

Simeon gehorchte, indem er vor sich hin murmelte: »Dieses Mädchen brächte den Teufel selbst zum Gehorsam.«