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Oberhessisches Sagenbuch Teil 3

Oberhessisches Sagenbuch
Aus dem Volksmund gesammelt von Theodor Bindewald
Verlag von Heyder und Zimmer, Frankfurt a. M., 1873

Unterm Ruttershäuser Kirchenstumpf

Man weiß nicht mehr heutzutage, wann es gewesen ist, aber es ist so gewiss wahr, als ob es gestern erst geschehen wäre.

Ein Gonterskircher Pfarrer hatte an einem Winternachmittag, kurz vor Weihnachten, ein dringendes Geschäft in Schotten zu besorgen gehabt. Weil es ihm überdem Nacht wurde, ehe er es sich versah, beschloss er, der Dunkelheit wegen über das Jägerhaus heimzugehen. Als er in der Nähe des Kirchberges angekommen war, auf welchem zwischen dem Hochwald der Stumpf der ausgegangenen Kirche Ruttershausen zu erblicken war, erstaunte er sich nicht wenig, über seinem Haupt in der Luft eine ganz unbeschreiblich liebliche Musik zu hören, deren Ursprung er sich schlechterdings nicht zu deuten wusste. Indem er darüber noch »simulierte«, was das sein möchte, wurde es auf einmal ganz taghell rings um ihn her. Er sah sich unvermutet in der Mitte von zwölf alten, ehrwürdigen, sehr großen Männern mit herabwallenden langen Bärten und in ganz fremdartiger Kleidung. Man kann sich leicht denken, wie es ihm zumute wurde, und dass ihm jedes Wort vor Angst im Halse stecken blieb. Indem trat einer der Alten näher auf ihn zu und hielt ihm einen güldenen, sehr kostbaren Becher entgegen, der, wie es schien, bis zum Rand mit edlem Wein gefüllt war, und verlangte, doch ohne einen Laut von sich zu geben, mit den beweglichsten Gebärden, dass er davon kosten sollte.

Der Pfarrer aber, der sich bei der Sache nichts Gutes »bedermte« (vorstellte), wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen und suchte eilends zu entweichen. Doch nun vertraten ihm zürnend die Zwölf den Weg, indem sie zugleich ihre unheimliche Aufforderung allesamt mit den Worten wiederholten: »Du musst! Du musst!«

Da ergriff der Pfarrer in halber Verzweiflung, dieweil er keinen anderen Ausweg sah, den dargehaltenen Becher, machte jedoch flugs das Zeichen des Kreuzes darüber, dann sprach er beherzt:

Wenn dieser Kelch von mir zu trinken ist,
so segne mir ihn der Herr Jesus Christ!

Auf dieses tat es einen Donnerschlag, wie bei dem härtesten Gewitter im Sommer. Die Zwölf aber waren weg, dass man nicht wusste, wohin sie gekommen waren.

Er selbst aber stand wieder mutterseelenallein im Dunkeln. Kaum sah er sich frei, so lief er über Hals und Kopf, was er laufen konnte, nach Gonterskirchen. Den Becher aber hielt er, um ihn ja nicht zu verlieren, fest an sich gedrückt. Ganz atemlos kam er in seinem Haus an. Als er jedoch zum Beweis der Geschichte seinen Leuten den Becher zeigen wollte, riss er ganz enttäuscht die Augen weit auf. Denn statt des vermeintlichen Kleinods hatte er nichts als ein großes, schimmeliges, altes Kuhhorn in der Hand, das mit stinkender Pfütze bis obenhin gefüllt war. Wen wollte das aber wundern? Es wäre das erste Mal, dass der Teufel mit etwas anderem als mit Dreck ausbezahlt hätte!