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Der Wolfmensch Zweiter Teil – Kapitel 3

Elie Berthet
Der Wolfmensch
oder: Die Bestie des Gévaudan
Aus dem Französischen von A. Kretzschmar
Hartleben’s Verlags-Exedition. Pest, Wien und Leipzig, 1858.

Zweiter Teil

Die Verfolgung im Wald

Fräulein von Barjac hatte nach dem Ereignis in der Eberschlucht, wie wir bereits erzählt haben, ihr Pferd wiedergeholt und war aufs Geratewohl in einen der Gänge des Waldes hineingaloppiert. Mit fliegendem Haar, stierem Blick trieb sie unaufhörlich ihr mit Windesschnelle dahinfliegendes Ross an.

Christine schien noch eine Beute jener fieberhaften Bewegung zu sein, welche sie am Morgen verzehrte, aber es waren nicht mehr der Stolz und die Freude, welche ihren Lauf beschleunigten.

Weit entfernt die Nähe der Jäger zu suchen, vertiefte sie sich immer mehr in den ödesten und stillsten Teil des Waldes.

Buchs schwarze Hufe streiften den Rasen, und er glitt wie ein stummer Schatten unter dem Blätterdach dahin. Christine war in der Tat trotz ihrer ungewöhnlichen Charakterfestigkeit durch den stattgehabten furchtbaren Auftritt in ihrem tiefsten Gemüt erschüttert worden. Bei dem Gedanken an den Mord, dessen sie sich anklagte, war sie wieder Frau geworden und empfand ihrerseits die Schwächen und kleinmütigen Befürchtungen des Weibes. Der durchbohrende Schrei, welchen der Baron ausgestoßen hatte, hallte noch in ihrem Ohr. Das bleiche, blutige Bild des Verwundeten erschien ihr am Ende aller Baumgänge und grinste im Dunkel aller Dickichte.

Zuweilen zuckte sie zusammen und drehte den Kopf herum. Nach einem Augenblick der Betäubung aber trieb sie ihr flinkes Ross von Neuem an, welches nicht eher stehen bleiben zu wollen schien, bis es vor Ermattung tot niederstürzte.

Schon seit langer Zeit irrte Fräulein von Barjac auf diese Weise im Wald herum, ohne sich zu kümmern, wo sie wäre und wohin sie endlich wollte. Kein menschliches Geräusch drang jetzt bis zu ihr in diesem unermesslichen Labyrinth von Baumstämmen und Laubwerk. Dennoch aber hörte sie, als sie durch eine Lichtung hindurchritt, sich mit bebender Stimme rufen. In der Meinung, abermals von ihrer aufgeregten Fantasie geäfft zu werden, wollte Christine weiterreiten, als die Stimme ihren Ruf mit mehr Kraft erneuerte.

Schaudernd hielt die junge Dame ihr Pferd an, welches dampfend und mit Schaum bedeckt stehen blieb.

Leonce erhob sich vom Fuß einer Eiche, wo er gesessen hatte, und kam eilig auf sie zu.

Wir erinnern uns, dass Leonce, durch die Eifersucht angestachelt, trotz seiner Schwäche das Schloss verlassen hatte, um sich zu der Jagd zu gesellen. Er hatte sich aber ebenfalls im Wald verirrt, und bald hatte die Erschöpfung ihn genötigt, an dieser Stelle auszuruhen. Der Zufall hatte nun gerade hierher auch die Person geführt, welcher er eben am meisten zu begegnen wünschte.

»Guter Gott, Fräulein, wie kommt Ihr denn allein hierher?«, rief er. »Wo wollt Ihr hin? Was ist denn aus denen geworden, welche die Pflicht hatten, Eure Sicherheit zu überwachen? Es ist ein Unglück geschehen?«

Anfangs schien Fräulein von Barjac nicht zu hören, was man ihr sagte. Sie blieb unbeweglich und stumm, ließ die Arme herabhängen und senkte das Haupt. Endlich jedoch erschien wieder eine leichte Röte auf ihren Wangen, und von ihrem Pferd herabspringend, lehnte sie ihre Stirn an die Schulter des jungen Mannes.

»Leonce, mein lieber Leonce«, murmelte sie, »Gott schickt dich mir zur Hilfe!«

Und strömende Tränen erleichterten ihre beklommene Brust. Leonce versuchte, obwohl er die Ursache dieses Schmerzes nicht mutmaßen konnte, die schöne junge Schlossherrin zu beruhigen. Da sie Mühe hatte, sich aufrechtzuhalten, so ließ er sie am Fuß eines Baumes niedersetzen, nahm dann ebenfalls neben ihr Platz und begann mit zärtlicher Anteilnahme sie auszufragen.

Sie fuhr fort zu weinen und antwortete nicht. Der junge Mann, der in diesem kritischen Augenblick seine gewöhnliche Schüchternheit überwand, wollte ihre Hand ergreifen, aber diese Hand war mit Blut besudelt.

»Was ist das, Fräulein?«, fragte er unruhig. »Seid Ihr verwundet?«

Christine stieß einen Schrei aus und wischte rasch ihre Finger an dem Moos, welches ihr als Sitz diente. »Dieses Blut ist nicht das meine!«, stammelte sie mit verstörtem Blick. »Mein Freund, stoßt mich nicht mit Abscheu zurück. Ich habe soeben ein Verbrechen begangen.«

»Ein Verbrechen? Ihr? Das ist unmöglich! Eure Unruhe …«

»Ich rede nicht im Fieberwahnsinn. Ich spreche bloß die Wahrheit. Ja, ein Verbrechen, einen abscheulichen Mord. Ein Mann wollte mich beschimpfen, und ich habe ihn verwundet; ohne Zweifel tötlich. O, Leonce, Leonce, wird Gott mir verzeihen können?«

Leonce glaubte immer noch, diese Geständnisse wären die Ausgeburt einer kranken Einbildungskraft, aber Fräulein von Barjac gab ihm kurz einige Erklärungen.

»Wohlan, Leonce«, fuhr sie fort, »Ihr, der Ihr immer so streng in Euren Urteilen, so unerbittlich gegen alle Schwächen seid, warum überhäuft Ihr mich nicht mit Vorwürfen? Das ist es, was jener Leichtsinn, jene beklagenswerte Unklugheit zuwege gebracht hat, deren Gefahr man mir vergebens begreiflich zu machen suchte. O, sprecht, sprecht doch, Euer Tadel, Euer Zorn ist mir lieber als dieses vernichtende Schweigen!«

Leonce lächelte sie wehmütig an. »Ich soll Euch tadeln, Fräulein?«, entgegnete er. »Ich soll Euch Vorwürfe machen, während Ihr leidet, während ich Euch so betrübt sehe? Ich kann Euch nur beklagen. Und übrigens«, setzte er wärmer werdend hinzu, »befandet Ihr Euch nicht in dem Fall gerechtfertigter Notwehr? Da ein erbärmlicher Mensch niederträchtig genug war, Euch zu beschimpfen, warum solltet Ihr dann nicht die Beschimpfung abwehren. Warum solltet Ihr sie nicht bestrafen?«

»Und Ihr sagt mir nicht, dass es besser gewesen wäre, wenn ich mich ihr nicht ausgesetzt hätte? Ihr sagt mir nicht, dass meine unüberlegte Handlungsweise diesen unwürdigen Mann in seiner bösen Absicht hat ermutigen können, und dass folglich das Entsetzliche meines Verbrechens und des seinen auf mich zurückfallen muss? Aber Ihr habt recht, Leonce, denn selbst die bittersten Vorwürfe konnten meine Ge»wissensbisse nicht noch schmerzlicher machen.«

»Ich bitte Euch, Christine, fasst wieder Mut – ich beschwöre Euch. Der Baron hat sein Schicksal verdient, und dann ist seine Wunde ja auch vielleicht nicht tötlich. Ohne Zweifel wird schnelle Hilfe …«

»Glaubt Ihr?«, rief Fräulein von Barjac ungestüm, indem sie sich aufrichtete. »Wäre es möglich, dass er nicht sterben könnte? Aber nein, nein!«, fuhr sie gleich darauf fort. »Ich habe seinen Schmerzensschrei gehört, ich habe ihn zu meinen Füßen niedersinken, ich habe das Blut in Strömen aus seiner Brust fließen sehen! Leonce, hört das feierliche Versprechen, welches ich Euch gebe: Von dem heutigen Tage an werde ich nicht mehr jenes eigenwillige, halsstarrige Kind sein, dessen fortwährendes Widerstreben alle seine Freunde zur Verzweiflung brachte. Ich werde in den gemeinsamen Stand der Frauen zurückkehren. Es hat mir zu viel gekostet, mich daraus entfernen zu wollen. Ich werde zurückhaltend und schüchtern sein wie die anderen. Ich werde mich nicht mehr aus Unwissenheit oder Leichtsinn furchtbaren Notwendigkeiten aussetzen. Ihr, Leonce, der Ihr schon gegen mich wie ein weiser, hingebender Bruder gewesen seid, Ihr werdet mir bei dieser Umwandlung behilflich sein, nicht wahr? Die Vorschriften, welche aus dem Mund anderer mich verletzen und meinen Stolz reizen, erscheinen mir sanft und freundlich, wenn sie von Euch kommen. Wenn ich Euch zuhöre, empfinde ich bloß ein Gefühl der Bewunderung für Eure Weisheit, der Dankbarkeit für Euren liebreichen Eifer. Ich denke ernstlich daran, besser zu werden.«

Es ist unmöglich, die anbetungswürdige Naivität und den Ausdruck von keuscher, vertrauensvoller Einfachheit wiederzugeben, welche diese Worte begleitete.

Christine, bis jetzt so stolz und übermütig, war durch den Schmerz gleichsam gezähmt.

»O Dank für diesen Entschluss, meine Freundin!«, rief Leonce entzückt. »Dank für diese gute Meinung, welche Ihr von mir habt! Also, Christine, teure Christine, Ihr liebt nicht den Baron von Laroche-Boisseau, und das Bewusstsein einer entweihten Zärtlichkeit hat mit Eurer gegenwärtigen Verzweiflung nichts zu schaffen?«

»Ich sollte diesen Wüstling lieben!«, entgegnete Fräulein von Barjac. »Was denkt Ihr denn, Leonce? Ich sah in ihm nur höchstens einen angenehmen Gesellschafter, desseneinfaches offenes Wesen mich – mögen Sie mir meinen Irrtum verzeihen – an das meines Vaters und meines Onkels erinnerte, die aber Männer von Ehre und Rechtschaffenheit waren.«

»Gott sei gepriesen, welcher nicht gestattet hat, dass dieser Irrtum für Euch von noch unheilvolleren Folgen begleitet wäre! Wohlan, Christine, da Ihr geneigt seid, meinen Nachschlägen zu folgen, so müssen wir uns beeilen, den möglichen Folgen dieses tragischen Ereignisses zuvorzukommen. Sobald Ihr Euch von Eurer Gemütsbewegung ein wenig erholt haben werdet, wollen wir nach Mercoire zurückkehren. Wir werden meinem Onkel treulich erzählen, was geschehen ist. Ganz gewiss wird er dieser Angelegenheit die am wenigsten ungünstige Wendung zu geben wissen.«

»Eurem Onkel, dem Prior von Frontenac?«, fragte Christine, deren Züge sich verdüsterten.

Leonce bemerkte diese Veränderung. »Ach, Fräulein«, hob er in heftigem Ton wieder an, »Ihr hegt, wie ich sehe, ungerechte Vorurteile gegen diesen vortrefflichen Mann, und das ist undankbar. Warum wollt Ihr bei dieser unerklärlichen Abneigung gegen alle die Personen beharren, welche Autorität über Euch haben können? Christine, ich schwöre es Euch, Ihr verkennt meinen Onkel. Er ist kein Rigorist; er ist edelmütig und erfüllt von christlicher Liebe. Sein hoher Verstand begreift und entschuldigt die Fehler, wenn sie durch die Reue gesühnt werden. Vertraut Euch ihm an. Wenn Ihr wüsstet, welche herrliche Worte er zu finden weiß, um das unruhige Gemüt wieder aufzuheitern! Ich habe selbst heute Morgen den Beweis davon erfahren. Ich kam traurig, unglücklich, verzweifelt zu ihm, und verließ ihn stark, mutig und von Hoffnung erfüllt!«

»Ich habe«, entgegnete Christine kalt, »an der Beretsamkeit des hochwürdigen Priors von Frontenac niemals gezweifelt. Aber«, setzte sie in verändertem Ton hinzu, »wie kam es, Leonce, dass Ihr seiner Tröstungen bedurftet?«

»Fräulein, fragt mich nicht – ich kann es Euch nicht sagen. Wisst bloß, dass ein einziges Wort von meinem Onkel hinreichend gewesen ist, um Wunder in mir zu bewirken. Trotz meines Verstandes hatte ich ein Glück geträumt, welches mir unmöglich zu sein schien, und die düsterste Niedergeschlagenheit hatte sich meiner bemächtigt. Der Prior hat mir soeben mitgeteilt, dass meine Hoffnung rechtmäßig, dass mein Ehrgeiz kein wahnsinniger war. Nun werde ich auch mit Feuer und Beständigkeit weiter schreiten. Ich fühle mich stark und von Mut erfüllt und werde alles tun, um den Preis zu verdienen, nach welchem ich zu streben wage.«

Leonce glaubte nicht, dass Fräulein von Barjac durch die Unbestimmtheit und das Dunkel dieser Worte hindurch vermuten könnte, worin dieser Preis bestehe, nach welchem er trachtete. Er vergaß, dass der Glanz seiner Augen, sein Ton, seine Gebärde die Wahrheit verrieten. Er wusste nicht, dass selbst das unschuldigste Weib mit einem wunderbaren Instinkt begabt ist, um die Liebe zu durchschauen, welche sie eingeflößt hat.

Christine rückte mit lebhafter, fast feindseliger Bewegung von ihm weg. Der Grund hiervon war, dass die verräterischen Einflüsterungen des Barons von Laroche-Boisseau wieder in ihrer Erinnerung auftauchten. Sie entsann sich, dass man sie auf eine Intrige aufmerksam gemacht hatte, welche angeblich von den Mönchen von Frontenac angesponnen worden, um ihre Hand dem Neffen des Priors zu geben. Ihr ganzer Stolz empörte sich bei dem Gedanken an diesen Missbrauch der Macht.

Deshalb und obwohl ein geheimes Gefühl sie zu Leonce hinzog, fühlte sie nur Entrüstung, als der junge Mann unter einem durchsichtigen Schleier seine redlichen Hoffnungen auseinandersetzte. Der Ausdruck dieser keuschen und rechtschaffenen Liebe, welche sie vielleicht einige Stunden früher ohne Zorn angehört hätte, hatte in ihrem eingenommenen Gemüt einen außerordentlichen Widerwillen erregt.

Sie war aufgestanden und sagte in trockenem Ton und ohne Leonce anzusehen: »Macht Euch gefasst, Monsieur, dass Hoffnungen, selbst wenn sie von Eurem Onkel, dem Prior, verbürgt wären, doch vielleicht nicht in Erfüllung gehen. Die Welt dreht sich nicht nach der Laune der Mönche von Frontenac, so hartnäckig und schlau sie auch sein mögen. Vielleicht werden sie dies bald gewahr werden. Doch gehen wir«, fuhr sie fort. »Ich muss zum Schloss zurückkehren, ich fühle mich besser. Was Euch betrifft, so könnt Ihr, da Ihr noch so schwach seid, nicht zu Fuß meinem Pferd folgen, welches seinerseits sich nicht gern dazu versteht, im Schritt zu gehen. Wir werden uns in Mercoire wiederfinden. Aber wo ist denn dieses verwünschte Tier? Morbleu! Sollte es mir davongelaufen sein?«

Sie knallte mit ihrer Peitsche und rief Buch, aber Buch kam nicht zum Vorschein. Das Pferd, welches eigensinnig und launenhaft war, wie seine Herrin selbst, hatte es, als es den Zügel auf seinem Hals fühlte, angemessen gefunden, auf eigene Faust eine Promenade im Wald zu machen. Es war daher während des vorstehend mitgeteilten Gesprächs davongelaufen und kam endlich, wie wir wissen, allein auf das Schloss zurück.

Christine runzelte die Stirn, stampfte mit dem Fuß und gab alle Zeichen eines Zornes, der vielleicht noch einen anderen Grund hatte als den mutwilligen Einfall ihres Pferdes.

Leonce, der diese plötzliche Umwandlung in der Sprache und den Manieren der jungen Schlosiherrin nicht begriff, hatte sich erhoben und bot schüchtern seine Dienste an. Christine wies sie zurück.

»Es hat nichts zu sagen«, entgegnete sie. »Ich werde zu Fuß gehen. Ich kenne die Wege. Bemüht Euch nicht, Monsieur. Ich bin, glaube ich, groß genug, um allein zu gehen und habe unterwegs einige Befehle zu erteilen. Ihr seid krank und verwundet. Ihr könnt Euch Zeit nehmen, um nach Mercoire zurückzukehren.«

Leonce versuchte immer noch, wiewohl vergebens, die Ursache dieser lebhaften Erbitterung zu ermitteln. Er fragte beinahe zitternd: »Ich bitte Euch, Fräulein, sagt mir, auf welche Weise ich das Unglück gehabt habe, Euch zu missfallen? Ich kann sie mir nicht erklären.«

»Mir zu missfallen, Monsieur Leonce? Und wie, wenn ich fragen darf, hättet Ihr mir denn missfallen können? Eure Angelegenheiten gehen mich nichts an. In diesem Augenblick besonders habe ich genug mit den meinen zu tun. Doch das Wetter sieht aus, als ob Regen drohte. Kehrt daher so rasch als möglich zum Schloss zurück, ich werde mich meinerseits eben dahin begeben.«

»Christine! Fräulein! Ich beschwöre Euch, erlaubt mir Euch zu begleiten. Dieser Wald ist nicht sicher. Ich will nicht mit Euch sprechen, wenn Ihr es so wollt … ich will bloß neben Euch hergehen und …«

»Na, hat denn wirklich alle Welt Lust, mich zu bevormunden? Ventrebleu! Ich habe doch heute bewiesen, dass ich imstande war, mich selbst zu schützen. Lasst mich, mein Herr. Folgt mir nicht! Ich verbiete Euch, mir zu folgen!«

Sie schlug entschlossen den ersten Fußsteig ein, der sich ihr darbot und entfernte sich.

Leonce wagte nicht sich zu rühren. Als sie aber an der Biegung des Weges verschwunden war, konnte er seiner Unruhe nicht widerstehen. Er begann so schnell er konnte zu laufen, um zu versuchen, sie einzuholen. Er sah sie auch bald wieder, während sie in einem von Stechpalmen und Haselstauden eingefassten Durchhau hineilte.

Fräulein von Barjac, die ihrerseits bemerkte, dass man ihr folgte, blieb plötzlich stehen, drehte sich um und machte eine so drohende Gebärde, dass der arme Knabe abermals wie angewurzelt stehen blieb.

Dennoch aber und sobald Christine nicht mehr sichtbar war, löste der Zauber, der ihn mitten auf dem Wege festbannte, sich wiederum. Er eilte schnell durch den Durchhau. Als er aber an das Ende desselben gelangte, fand er Fräulein von Barjac nicht wieder. Er ging nun auf den Fußsteigen weiter, welche diesen Teil des Waldes nach allen Richtungen hin durchschnitten; aber nirgends sah er die schlanke Gestalt des jungen Mädchens. Verzweiflungsvoll begann er nun zu rufen, aber nur das spottende Echo antwortete ihm.

Nun ward der Neffe des Priors von einer tiefen Entmutigung ergriffen. Sich an einen Baum lehnend, brach er in Tränen aus.

»Sie geht mir aus dem Weg«, murmelte er, »und sie will lieber den Gefahren, die sie vielleicht in dieser Einöde erwarten, Trotz bieten, als meinen Beistand annehmen. Mein Gott, wie habe ich sie nur so sehr beleidigen können? Ohne Zweifel habe ich Unkluger, der ich bin, meine geheimen Wünsche zu deutlich blicken lassen. Da sie mich nicht liebt, da sie niemanden lieben will – ach, der Prior hatte recht! Ich sollte mich nicht so sehr beeilen, mich der Freude hinzugeben und die Hindernisse, die uns trennen, als beseitigt zu betrachten. Das ist aber das Schrecklichste von allem – sie liebt mich nicht! Wehe mir! Wehe mir!«

Nach einem Augenblick des Schweigens hob er wieder an: »Und dennoch kann ich sie nicht auf diese Weise verlassen. Ich werde sie von Weitem überwachen, chne dass sie etwas davon weiß. Und wenn ich sie in Sicherheit sehe, wohlan, dann möge unser beider Schicksal sich erfüllen.«

Er lief abermals tiefer in den Wald hinein, ohne daran zu denken, dass er allein war, ohne Waffen, durch seine Wunde geschwächt und den Arm in der Binde tragend der Person, die er schützen wollte, von keinem großen Nutzen sein könnte.

Fräulein von Barjac war ihrerseits nicht weniger aufgeregt. Dieser neue Eindruck, welcher sich den schon so lebhaften Eindrücken dieses Morgens zugesellte, hatte die Spannung ihrer Nerven, die Gärung ihres Blutes und die Unordnung ihrer Ideen auf den höchsten Grad gesteigert. Obwohl sie mit leichtem Fuß das Gras der Waldgänge streifte, so schwindelte ihr doch der Kopf und ihre Ohren summten, während die sie umgebenden Bäume einen infernalischen Rundtanz aufzuführen schienen.

Die Hartnäckigkeit, mit welcher man ihr folgte, hielt sie jedoch ab, ihre Flucht langsamer auszuführen. Ihr langes seidenes Gewand mit der einen Hand zusammenraffend, mit fest zusammengebissenen Lippen lief sie die Waldpfade entlang, ohne zu überlegen, wohin sie ging.

Als sie aber Leonce nicht mehr sah, als sie sein Rufen nicht mehr hörte, als sie sich in der Unermesslichkeit des Waldes allein fühlte, entschwand diese vorübergehende Überreiztheit mit einem Mal. Sie fühlte das Bedürfnis, stehen zu bleiben, um Atem zu schöpfen.

Einige Schritte von ihr erhob sich ein einzelner Felsen mit Moos und Flechten überkleidet und mit einem Hagebuttengebüsch bewachsen auf dem Abhang des Hügels. Am Fuß dieses Felsens befand sich eine kleine Vertiefung, in welcher es leicht war, sich zu verbergen.

Christine lenkte ihre Schritte nach diesem Asyl und kroch wie ein zum Tode verwundetes Reh keuchend hinein.

Anfangs schloss sie die Augen und war wie ohnmächtig. Nach Verlauf einiger Minuten jedoch ermannte sie sich wieder, richtete sich auf dem Ellbogen empor und versuchte sich zu besinnen, wo sie wäre.

Unter ihr sah sie ein umfangreiches, beinahe kreisrundes Becken von hohen Bergen umgeben, welche vom majestätischen Gipfel der Monadière beherrscht wurden. Der Wald nahm noch einen großen Teil dieses Tales ein. Dennoch aber ließ der hier und da zerrissene Teppich von Bäumen den zartgrünen Hintergrund der Wiesen oder den dunklen Purpur der Heide sehen. Gegen die Mitte des Beckens in einem Rahmen von Röhricht und Binsen breitete ein Teich oder vielmehr eine große Lache ihre unbewegliche Wasserfläche aus.

Diese Lage war den Jägern von Mercoire wohlbekannt. Hier war es, wo die von den Hunden verfolgten Hirsche und Wildschweine gewöhnlich sich einfanden, um sich vor ihrem unvermeidlichen Ende noch einmal zu erfrischen.

Am Rand, ungefähr eine Viertelstunde von der Stelle, wo Christine von Barjac sich jetzt befand, stand ein einzelnes Häuschen halb in einem Dickicht von dicht belaubten Bäumen versteckt. So weit das Auge reichte, war keine andere Hütte zu sehen. Diese immer schauerliche und einsame Umgebung hatte besonders in diesem Augenblick ein düsteres, unheimliches Ansehen, welches seinen Grund in dem Zustand der Atmosphäre hatte.

Alles verkündete, dass das Gewitter, welches sich seit dem Morgen um den Gipfel der Monadìere herum auftürmte, sich bald mit unbezähmbarer Wut über die Umgegend entladen würde. Die Sonne war verschwunden. Der Dom von schwarzen unheimlichen Wolken, welche den Berg bedeckten, hatte einen riesigen Umfang gewonnen. Dann und wann kam ein dumpfes Grollen gleich dem fernen Rollen eines schweren Wagens auf dem Pflaster aus dieser Anhäufung von drohenden Dünsten. Die kahlen Felsen, welche die Monadière krönten, die Eberschlucht und der Abhang des Berges bis zum Saum des Waldes waren gegenwärtig unsichtbar.

Unter dem düstern Schleier jedoch, welcher die Landschaft wie ein Leichentuch einhüllte, zeigte sich noch ein fahles bleiches Tageslicht, dessen Mittelpunkt ein in unermesslicher Ferne auf der Linie des Horizonts stehender leuchtender Punkt war.

Christine konnte trotz der Unruhe ihres Gemütes diese Anzeichen nicht verkennen. Das Bewusstsein ihrer Lage kehrte mit Schnelligkeit in ihr zurück.

Es ist gewiss, dass die Leidenschaften sich im Angesicht großer Naturschauspiele leichter beruhigen, als ob sie in diesem Fall ihr Nichts und ihre Schwäche mehr fühlten.

Dieses großartige Gemälde wirkte mehr auf Fräulein von Barjac, wie es irgendein menschliches Wesen hätte tun können. Ihre fieberhaften Ideen begannen sich zu beruhigen und sie dachte ernstlich daran, ein Obdach vor dem drohenden Ungewitter zu suchen.

Sie wusste jetzt, wo sie war, und sie berechnete, dass sie eine Stunde brauchen würde, um zu Fuß das Schloss zu erreichen. Unglücklicherweise aber mussten, ehe eine Stunde verging, Regen, Blitz, Donner und Sturm ringsumher entfesselt sein.

Es blieb daher kein anderer Ausweg übrig, als ein Obdach in dem kleinen Haus zu suchen, von welchem wir gesprochen haben, und welches die Wohnung des Oberförsters Fageot war.

Christine hatte sich eben dazu entschlossen, als ein neuer Umstand all ihre Unruhe und Befürchtungen wiedererweckte.

In ihrem Versteck zusammengeduckt, hörte sie seit einigen Augenblicken ein seltsames Rascheln in dem benachbarten Dickicht. Man ging auf den trockenen Blättern und brach sich Bahn durch das Gebüsch. Das ringsum herrschende Schweigen war in diesem Augenblick so groß, dass Christine ganz deutlich das Geräusch hörte, welches das dürre Holz machte, indem es unter dem Tritt dieses unbekannten Wesens zerbrach.

Übrigens bewegte sich dieses Wesen bald vorwärts, bald rückwärts, als ob es eine Spur verfolgte. Das Knistern ließ sich bald rechts, bald links hören, kam aber dabei immer näher.

Immer noch von dem Grdanken erfüllt, dass Leonce sie verfolgte, glaubte Christine anfangs, der Zufall habe ihren hartnäckigen Beschützer in dieser Richtung geführt. Sie verkroch sich daher abermals in die Felsenhöhle.

Bald aber bemächtigte sich ein Zweifel ihres Gemütes. War es wirklich Leonce, der sich so in ihrer Nähe herumtrieb?

Vorsichtig den Kopf emporhebend, bog sie behutsam die Zweige auseinander und schaute hin.

Ihr Entsetzen war so groß, dass eben dieser Umstand sie verhinderte, einen Schrei auszustoßen.

Es war kein menschliches Wesen, welches sie verfolgte, sondern ein ungeheures Tier mit struppigem Haar, einer langen, über seine elfenbeinernen Hauzähne herabhängenden roten Zunge und funkelnden Augen.

Christine, die Tochter und Nichte der berühmtesten Jäger der Provinz, besaß in Dingen der Jagd zu viel Erfahrung, um nicht sofort einen ungeheuren Wolf zu erkennen. Ohne Zweifel sah sie hier das furchtbare, nach Menschenfleisch so lüsterne Tier vor sich, welches erst diesen Morgen den Nachstellungen von mehreren tausend Jägern entronnen war und welches man die Bestie des Gévaudan nannte.

Das arme Mädchen zitierte trotz des Mutes, welchen sie in gewöhnlichen Umständen an den Tag legte, an allen Gliedern. Dennoch hoffte sie noch, dass sie, wenn sie verborgen bliebe, von dem Untier nicht bemerkt werden würde. Unbeweglich den Atem anhaltend, beobachtete sie angstvoll jede Bewegung ihres furchtbaren Feindes.

Der Wolf ging mit kurzen Schritten, die Nase dicht auf den Boden haltend, wie ein gut dressicter Spürhund, welcher die Fährte des Wildes verfolgt, und ebenso wie ein Spürhund schnaubte er von Zeit zu Zeit gewaltig. Zuweilen blieb er auch stehen und schnüffelte den Wind. Es war, als ob die Luft ihm frischere und reichlichere Ausströmungen von der Beute zutrüge, welche er begehrte. Bald aber kehrte er mit dem wunderbaren Scharfsinn dieser Tiere zu dem langsameren, aber sichereren Mittel der Fährte zurück. Von Neuem die Nase auf den Boden senkend, setzte er sich hartnäckig wieder in Bewegung.

Nun machte er aber genau die Umwege, welche Christine wenige Minuten vorher selbst gemacht hatte, als sie einen Platz suchte, um sich Leonces Zudringlichkeit zu entziehen. Sie war es also, welche das Tier ausgewittert hatte. Sie war der Gegenstand dieser furchtbaren Jagd, wo die Rollen auf so seltsame Weise getauscht wurden.

Zum Glück war Fräulein von Barjac, indem sie einen ihrer Absicht günstigen Ort suchte, mehrmals wieder umgekehrt, sodass ihre Spur sich verwirrte. Dieser Umstand machte den Wolf verlegen, und er drehte sich trotz seiner Schlauheit mehrmals in einem und demselben Kreis herum.

Es konnte aber nicht lange dauern, so musste er seinen Irrtum einsehen und den Fehler wiedergutmachen. Dann hätten wenige Sprünge für ihn gereicht, um das arme Kind, den sicheren Lohn seiner blutgierigen Hartnäckigkeit, zu erreichen.

Christine sah mit steigender Angst das Tier zögern, nachdenken und vergleichen, als ob es im Begriff stünde, die verlorene Spur wiederzufinden, als ein neues Geräusch sich im Gebüsch erhob und den Wolf selbst zu beunruhigen schien.

Die sich auseinanderbiegenden Zweige ließen einen Menschen hindurch, in welchem Fräulein von Barjac an seiner zerlumpten Kleidung, an seiner bestialischen Physiognomie und ganz besonders an seinen gewandten Sprüngen auf den Händen sofort Jeannot mit den großen Zähnen erkannte.

Trotz ihres noch frischen Zwistes mit dem blödsinnigen Herumtreiber konnte sie nicht umhin, in dieser äußersten Gefahr die Hilfe eines Geschöpfes von ihrer eigenen Gattung anzurufen, wie tief dies Geschöpf auch stehen mochte. Sie wollte sich daher erheben, aber die Kraft fehlte ihr. Sie wollte schreien, aber die Stimme erstarb ihr in der Kehle. Dieses reißende Tier, welches mit offenem Rachen hin- und herlief, bestrickte sie, wie die Schlange den Vogel bestrickt, der noch sicher auf dem Baumast sitzt, sich aber durch eine unwiderstehliche Kraft angezogen fühlt.

Während die unglückliche Christine außerstande war, sich selbst zu helfen, erreichte Jeannot den kleinen freien Raum, wo der Wolf sich unaufhörlich und sehr unzufrieden, gestört zu werden, herumdrehte. Er gab seinen Zorn durch ein dumpfes Knurren kund, indem er zugleich mit seinen furchtbaren Zähnen knirschte. Jeannot schien aber dadurch nicht erschreckt zu werden.

»Nun, was suchst du hier?«, fragte er mit seiner rauen Stimme in dem Patois der Provinz. »Weißt du nicht, dass es heute hier überall herum Jäger gibt? Man riecht ihre Spuren in allen Dickichten. Also, Alter, recke deine Nase in die Höhe! Was denkst du denn, dass du so die Zeit verlierst?«

Christine war zu weit entfernt, um diese Worte deutlich zu hören, aber sie empfand ein unaussprechliches Erstaunen, als sie die anscheinende Vertraulichkeit wahrnahm, welchezwischen der Bestie des Gévaudan und dem Vagabunden herrschte. Welche Verwandtschaft konnte diese beiden wilden Wesen einander nähern? Der Wolf war nicht bloß bei Jeannots Ankunft nicht geflohen, er hatte sich nicht bloß nicht auf ihn gestürzt, sondern betrachtete ihn augenscheinlich sogar als einen Kameraden und Verbündeten.

Dennoch aber war es, als ob dieses Bündnis des Tieres und des Menschen Krisen unterworfen wäre, welche geeinet waren, es zu gefährden. Der Wolf, welcher über Jeannots Einmischung in seine Angelegenheiten immer unzufriedener zu werden schien, verdoppelte in diesem Augenblick sein dumpfes Knurren.

Jeannot nahm seinerseits ebenfalls eine zornige Miene an. »Ich sage dir, du bist ein Dummkopf und verlierst deine Zeit«, setzte er mit seiner heiseren Stimme hinzu. »Da du aber so hartnäckig bist, nun so gehe und suche. Ohne Zweifel wirst du am Ende der Fährte einen Jäger finden, der dir eine Kugel durch den Wanst jagt und das wäre dir schon recht.«

Der Wolf begann, als ob er diese Drohungen verschmähte, wieder zu schnüffeln, während Jeannot die Achseln zuckend ein wenig beiseitetrat.

Diesmal gab die drohende Nähe der Gefahr Christine die Kraft und die Stimme zugleich wieder. Sie richtete sich auf, und ohne noch zu wissen, ob die Einmischung, welche sie anrufen wollte, ihr eher verderblich als nützlich sein würde, schrie sie in gellendem Ton: »Jeannot, Jeannot, hilf mir!«

Der Blödsinnige stutzte und der Wolf blieb, eine seiner breiten Klauen in die Höhe hebend, stehen. Vergebens suchte Jeannot zu entdecken, woher der Ruf gekommen war. Dagegen aber richtete sich der durchbohrende Blick des Tieres ohne Zögern zu dem Felsen und heftete sich mit drohender Unbeweglichkeit auf Fräulein von Barjac.

Jeannot, der daran gewöhnt war, sich auf den sicheren Instinkt seines Kameraden zu verlassen, sah ihn fragend an und bemerkte endlich seinerseits das bleiche Gesicht der jungen Dame in dem sie umgebenden Laubwerk. Ungefähr eine halbe Minute verging mit wechselseitiger Beobachtung. Man kann sich Christines Angst während dieses Augenblickes der Ungewissheit denken. Erschrocken über das, was sie getan hatte, wagte sie weder zu sprechen noch sich zu bewegen.

Der Wolf und Jeannot ihrerseits blieben mit nachdenklicher Miene jeder auf seinem Platz, als ob sie den Fall sich reiflich überlegten. Der Wolf entschloss sich zuerst. Er stieß ein leises, vergnügtes Geheul aus, leckte sich die Schnauze und schickte sich an, tapfer zum Angriff zu schreiten.

Aber er hatte die Rechnung ohne Jeannot gemacht. Dieser machte bei dem Anblick dieses bedeutsamen Manövers den Gedanken, welche ohne Zweifel in seinem Gehirn sich nur mühsam aneinanderreihten, sofort ein Ende und warf sich mit wahnfinniger Freude vor das Tier.

»Die Dame! Die Dame!«, rief er. »Ah, wie gut hast du gewittert, Wolf, mein Kamerad! Aber sie ist mein; rühre sie nicht an. Ich weiß noch eine andere und werde sie dir geben. Diese da aber will ich. Sie ist böse sie hat mich misshandelt. Jetzt hat sie keine Flinte mehr. Ich will sie haben, siehst du, oder wir werden uneinig!«

Der durch Christines Gegenwart ermunterte Wolf kam hartnäckig bald nach rechts, bald nach links ausweichend, um vorbeizukommen, näher. Jeannot aber vereitelte seine List und versperrte ihm den Weg.

Das Tier dachte nicht daran, von seinen furchtbaren Kräften Gebrauch zu machen, dennoch aber konnte es unklug sein, seine Geduld zu ermüden, denn es begann immer stärker zu knurren und auf seinen Freund Blicke zu schießen, welche nichts Gutes verrieten.

Jeannot geriet ebenfalls allmählich in Zorn. »Ich sage dir, du kriegst sie nicht«, hob er mit gebieterischer Gebärde wieder an. »Ich lauere ihr schon lange auf, weil sie mich auf alle Weise gepeinigt und misshandelt hat. Ich werde dir eine andere geben, die du für dich ganz allein haben sollst. Was diese da aber betrifft, so nehme ich sie. Sollten wir uns um sie schlagen. Ha! Du knurrst, du empörst dich gegen deinen Vater, deinen Wohltäter? Glaubst du vielleicht mich zu schrecken? Wohlan, ich sage dir nochmals: Du kriegst sie nicht! Du kriegst sie nicht!«

Christine hörte nur unvollkommen diese Worte, aber es schien ihr gewiss zu sein, dass sie von Jeannot keine Hilfe zu erwarten hätte, ja sie fürchtete ihn jetzt schon ebenso wie das wilde Tier selbst. Deshalb sprang sie, den Zwist, welcher sich zwischen den beiden blutgierigen Kameraden erhoben hatte, benutzend, rasch aus ihrem Schlupfwinkel hervor und schlug mit unglaublicher Schnelligkeit die Flucht zur Ebene ein.

In demselben Augenblick schien ein wütendes Gebrüll und furchtbares Geschrei den Ausbruch eines Kampfes vermuten zu lassen.

Aber Christine blieb nicht stehen, um sich davon näher zu überzeugen. Überdies war auch der Kampf ein kurzer, denn es dauerte nicht lange, so trat wieder Ruhe ein.

Diese Ruhe verdoppelte Christines Angst. Ohne Zweifel standen ihre Verfolger, Mann und Tier, jetzt im Begriff, ihre Anstrengungen zu vereinigen, um Jagd auf sie zu machen. Schon glaubte sie dieselben hinter sich in den Dickichten zu hören. Sie rannte immer weiter, Schluchten, Gebüsche und Felsstücke mit schwindelnder Schnelligkeit überfliegend. Nach Verlauf von einigen Minuten dieses wahnsinnigen Rennens fühlte sie, dass der Atem ihr versagte. Ihr Herz pochte, als wollte es die Brust zersprengen, und der Boden schien unter ihren Füßen zu weichen. Gezwungenermaßen machte sie daher am Fuß einer Eiche halt.

Ihre Befürchtungen waren nur zu gegründet. Die vollkommenste Einigkeit herrschte jetzt zwischen Jeannot und dem Wolf. Beide verfolgten sie mit Begier. Jeannot kam springend den Hügel herunter. Er schwenkte seine langen Arme und ließ sein wild verworrenes Haar im Winde flattern, welcher zu wehen begann.

Der Wolf kam ein wenig hinter ihm, die Nase wieder auf dem Boden, als ob er die Fährte der armen Fliehenden wieder aufgenommen hätte. Er ging langsamer, aber mit der Gewissheit, seine Beute zu erreichen.

Jede Sekunde Ruhe, welche Christine sich gönnte, vermehrte in gewisser Beziehung ihre Aussicht auf Rettung. Übrigens musste sie sich auch schnell über einen weiteren Plan entscheiden. Trotz der beunruhigenden Demonstrationen ihrer Verfolger beeilte sie sich daher nicht, sich wieder auf den Weg zu machen. Auf ihre Schnellfüßigkeit vertrauend dachte sie nach, welches Mittel wohl das schnellste wäre, der Gefahr zu entrinnen.

Der Wald war immer noch öde. Das Ungewitter, welches im Anzug war, hatte die zahlreichen Jäger, welche am Morgen den Wald durchstreiften, genötigt, sich in die Häuser zu flüchten. Ohne Zweifel hatte auch Leonce entmutigt sich wieder zum Schloss zurückbegeben. Christine konnte daher nur auf sich selbst rechnen, dafern es ihr nicht gelang, das einsame Waldhäuschen des Forsthüters zu erreichen, welches man im Hintergrund des Tales gewahrte.

Bei diesem Entschluss blieb sie stehen. Obwohl sie Fargeot niemals mit besonders günstigem Auge betrachtet hatte, so zwang doch die Notwendigkeit sie jetzt, in der Wohnung ihres Forsthüters Zuflucht zu suchen.

Nachdem sie diesen Entschluss gefasst hatte, machte sie sich wieder auf. Ihre Verfolger hatten während dieser kurzen Pause sich ihr bedeutend genähert, aber es dauerte nicht lange, so war sie ihnen abermals weit vorausgeeilt. Sich in das Dickicht hineinwerfend versuchte sie, sie in Bezug auf die wirkliche Richtung, welcher sie folgte, irre zu führen.

Diese List gelang. Jeden Augenblick waren der Mann und das wilde Tier unentschlossen, als ob sie ihre Spur verloren hätten. Dennoch aber und da sie zuletzt allemal hinter die List kamen, sah Christine mit Entsetzen dem Augenblick entgegen, wo ihre Kräfte erschöpft wären und sie dann rettungslos der Gewalt ihrer Feinde anheimfallen würde.

So erreichte sie den Saum des Waldes und war nun bloß noch etwa hundert Schritte von der Wohnung des Forsthüters entfernt. Das Haus aber war, wie wir wissen, auf einem kahlen, freien Platze erbaut. Christine konnte, wenn sie denselben passierte, nicht verfehlen, bemerkt zu werden.

Dennoch durfte sie nicht zögern. Der Wolf und Jeannot kamen immer näher. Zuweilen glaubte sie schon, das Schnauben ihres Atems zu hören. Sie musste also auf die Ebene heraus und sich den Blicken ihrer beiden furchtbaren Feinde preisgeben, welche eine letzte und gewaltige Anstrengung versuchen konnten.

Eben als sie im Begriff stand, das letzte Gebüsch zu verlassen, kam der Himmel ihr zu Hilfe.

Ein Windstoß verfing sich in dem Wald, dass alle Äste sich krümmten und alle Stämme krachten. Ein dichter Staub, Moos und trockene Blätter wurden in die Luft emporgewirbelt. In demselben Augenblick durchfurchten blendende Blitze diese Wolke, ein furchtbarer Donnerschlag erschütterte die Erde und große Tropfen begannen das Laub der alten Kastanienbäume zu peitschen.

Dieser plötzliche Aufruhr der Natur musste jedes lebende Geschöpf schrecken und betäuben. Christine aber eilte, vom Instinkt der Selbsterhaltung getrieben, mutig immer weiter. Vom Sturm hin- und hergeschleudert und von Staub und Regen fast geblendet, erreichte sie das Haus des Forsthüters.

Rasch öffnete sie die Tür, welche nur zugeklinkt war, und drang in das Haus – zugleich mit einem Wirbelwind, welcher das alte Bauwerk über den Haufen zu werfen drohte.

Ein Schreckensruf hallte im Inneren, aber Christine kümmerte sich weiter nicht darum, sondern raffte alle Kräfte zusammen, um die Tür wieder zu schließen, welche der Sturm mit gewaltiger Kraft nach innen drängte.

Es gelang ihr. Sie konnte sich endlich in dem Haus und unter dem Schutz von Leuten, die in ihrem Lohn standen, in Sicherheit glauben.