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Nach Amerika! – Erster Band – 02

Friedrich Gerstäcker
Nach Amerika!
Erster Band
Leipzig, Berlin, 1855

Der rote Drachen

Der rote Drachen, ein Wirtshaus, das wegen seines vortrefflichen Bieres, wie sonst mancher schätzenswerten Eigenschaften einen sehr guten Namen hatte, lag etwa eine halbe Stunde von Heilingen, an der großen Landstraße, die gen Norden führte. Ein freundlicher Talgrund umschloss Haus und Garten. Die dunklen, den Gipfel des nächsten Hanges krönenden Nadelhölzer hoben nur noch mehr das freundliche Grün der jungen Birken und Weißeichen hervor, die sich über die niedere Abdachung erstreckten und bis scharf hinauf an den hoch eingefriedigten und sorgfältig in Ordnung gehaltenen Frucht-, Gemüse- und Blumengarten des Hauses selber lehnten.

Es war ein warmer, sonniger Frühlingsnachmittag. Der Bach, der am Haus dicht vorbeirieselte, plätscherte und schäumte in frischem jugendlichen Übermut, des Eises Hülle, die ihn so lange gefangen gehalten oder doch fest und ängstlich eingeklemmt hatte, nun endlich einmal enthoben zu sein. Die Vögel zwitscherten so froh und munter in den Zweigen der alten knorrigen Linde, die unweit der Tür stand, und flatterten und suchten herüber und hinüber, aus den blühenden Obstbäumen fort über den Hof und von dem Hof wieder fort in dicht versteckten Ast und Zweig hinein, mit einem gefundenen Strohhalm oder einer erbeuteten Feder im Schnabel, dass einem das Herz über das rege glückliche Leben ordentlich aufging. Und wie blau spannte sich der Himmel über die blühende, knospende Welt, wie leicht und licht zogen weiße duftige Wolken, Schwänen gleich, durch die Luft hin, farbige, flüchtige Schatten werfend über Wiesen und Feld und die weite Talesflucht, die sich dem Auge in die Ferne öffnete und dem leuchtenden Blick neue Schätze bot, wohin er fiel.

Ein Frühling in Deutschland — ein Frühling im Vaterland. Oh wie sich das Herz da mit der wirbelnden, schmetternden Lerche hebt und jubelnd, jauchzend gen Himmel steigt. Zwinge die Träne da nicht zurück, die sich dir, dem Glücklichen, ins Auge drängt – in ihrem Blitzen preisest du den Vater droben, wie es die jubelnde Lerche dort tut, die mit zitterndem Flügelschlag über den grünen Matten schwebt; wie das raschelnde flüsternde Blatt im Wald, wie der schwankende, mit Tau geschmückte Halm und die knospende, duftende Blüte im Tal. Ein Frühling im Vaterland, oh wie schön, wie jung und frisch die Welt da um uns in ihrem bräutlichen Glanz liegt, voll neuer Hoffnungen in jedem jungen Keim, wie sich das Herz der schönen Blume gleich zusammenzog, als der Herbststurm über die Heide fuhr, mit rauer Hand den Blattschmuck von den Bäumen riss und zu Boden warf, Schnee und Eis über die erstarrende Flur vor sich hinjagte, so öffnet es sich jetzt mit vollem Atemzug wider den balsamischen Frühlingsgruß. Vorbei, vergessen liegt vergangenes Leid, wie der verwehte Sturm selber keine Spur mehr hinterließ und die schönsten Blumen jetzt gerade an den Stellen blühen, wo er am tollsten, rasendsten getobt hat.

Ein warmer erquickender Regen war die letzten Tage gefallen, und so gut er dem Land getan, hatte er doch die Bewohner des nahen Städtchens in ihre Häuser und Straßen gebannt gehalten, von wo aus sie sehnsüchtig die nahen grünenden Berge, teils die dunklen Wolken betrachteten, die nicht nachlassen wollten, Segen auf die Fluren niederzuträufeln. Heute aber hatte sich das geändert. Voll und warm glühte die Sonne am Himmelszelt und hinaus strömten sie in jubelnden Scharen, hinaus ins Freie. Der rote Drachen vor allen anderen Plätzen, der so reizend an der Öffnung des Tales lag und die Aussicht in das darunter liegende freie Land bot, hatte dabei sein reichlichen Teil an der fröhlichen Schar erhalten, dass die Wirtin mit ihren Kellnern und Mägden nicht Hände genug hatte, zu schaffen und herzurichten. Die Tische und Bänke im Garten draußen waren fast alle rund herum von Schmausenden besetzt.

Der rote Drachen sollte übrigens, wie die Sage ging, seinen Namen von einem wirklichen Drachen bekommen haben, der einmal vor vielen hundert Jahren in der Schlucht weiter oben, die auch noch ebenfalls nach ihm die Drachenschlucht hieß, gehaust und viele Menschen und Rinder verschlungen hatte. Der Wirt des roten Drachen nun, Thuegut Lobsich, dessen Voreltern schon diesen Platz gehalten hatten, behauptete dabei, einer seiner »Ahnen« habe den Drachen im Einzelkampf erlegt – die Gäste meinten, mit schlechtem Bier vergiftet –  und dafür von dem damals regierenden Fürsten Platz und Wirtschaft als Gerechtsame, mit dem Schild als Wahrzeichen, erhalten haben.

Wie dem auch sei, Thuegut Lobsich tat wirklich gut auf dem Platz, der ihm vortreffliche Nahrung bot, und befand sich so wohl, wie sich nur ein Wirt in einer gut gelegenen Wirtschaft befinden kann. Seine Frau war aber dabei der Nerv des Ganzen, in Küche und Stall, in Keller und Haus. Während sich Vater Lobsich, wie er sich gern nennen ließ, obwohl er noch jung und rüstig war, am Liebsten zu seinen Gästen irgendwo an einen Tisch drückte und »das Bier kontrollierte«, wie er sagte, dass ihm die Burschen kein Saures brachten und die Gäste verjagten, arbeitete die Frau im Schweiße ihres Angesichts vor dem Herd, die bestellten Portionen herzurichten und zu gleicher Zeit auch den Verkauf von Kaffee, Tee, Milch und Kuchen zu überwachen. Dabei führte sie die Kasse und rechnete mit Kellnern und Mädchen ab, und wehe denen, die eine halbe Portion Kaffee oder Kuchen vergessen, ein nicht bezahltes Glas nicht aufnotiert oder einem schlechten Kunden noch einmal gegen den direkt gegebenen Befehl geborgt hatten.

Böse Zungen meinten dabei nicht selten, Frau Lobsich sei der »einzige Mann im Haus« und Thuegut dürfe nur tanzen, wenn sie nicht daheim wäre. Böse Zungen erwähnten dann aber nicht dabei, dass sie wirklich allein das Hauswesen in Zucht und Ordnung hielt. So scharf und heftig sie draußen in Küche und Wirtschaft, wo sie fremde Leute doch auch eigentlich nur zu sehen bekamen, sein konnte, und so großen Grund sie dabei oft hatte, ärgerlich zu sein, und die Ursache dann auch für vollkommen genügend hielt, es wirklich zu werden, so still und freundlich konnte sie sich betragen, wenn sie allein mit ihrem Mann war. So gern gab sie ihm in allem nach, was nicht eben zu Ruin und Schaden trieb. Salome Lobsich war das Muster einer Hausfrau, und was ebenso viel sagen will, eine gute Gattin dabei. Ob ihr Mann dasselbe auch von sich sagen konnte, stand auf einem anderen Blatt.

Heute hatte sich übrigens eine ziemlich zahlreiche Gesellschaft in dem gar so freundlich gelegenen Garten des Roten Drachen eingefunden. Dicht vor der Tür desselben, unter der alten breitschattigen Linde, die ihre Arme so weit nach rechts und links hinüberstreckte, dass man sie schon hatte stützen müssen, nur den Weg zu ihr und den Platz darunter frei zu behalten, saß Lobsich selber mit einem kleinen Kreis guter Bekannten, d. h. alter Kunden und quasi Stammgäste von ihm, denn er selber kam selten irgendwo anders hin. Wer also sein Bekannter bleiben wollte, musste ihn eben besuchen.

Zu diesen gehörte besonders Jacob Kellmann, ein Kürschner und Pelzhändler aus Heilingen, dann der Aktuar Ledermann von dort, eine lange hagere, etwas ungeschickte Gestalt, mit aber nicht unangenehmen, gutmütigen Gesichtszügen, und der Apotheker aus Heilingen, Schollfeld mit Namen, die es gewöhnlich so einzurichten wussten, das sie an einen Tisch miteinander zu sitzen kamen. Lobsich nahm ebenfalls am liebsten zwischen dieser kleinen Gesellschaft Platz. Nur dann und wann, besonders wenn er die Stimme seiner Frau irgendwo hörte, stand er auf und ging einmal durch den Garten und die Reihen seiner Gäste, um zu sehen, ob alle ordentlich bedient würden und keine Klagen gegen unaufmerksame Kellner einliefen, die er in dem Fall auch wohl gleich an Ort und Stelle mit einem Knuff oder einer Ohrfeige als warnendes Beispiel abstrafte. Er musste an irgendjemand seinen Ärger auslassen, dass er nicht bei seinem Bier sitzen bleiben konnte.

»Ist doch ein prachtvolles Wetter heute«, sagte Kellmann, der eben einen tüchtigen Zug aus seinem Glas getan hatte und nun mit vollem zufriedenen Blick über das freundliche Bild hinaus schaute, das sich, von der warmen Nachmittagssonne beschienen, in all seinem blitzenden Glanz und Farbenschimmer vor ihnen auftat. »Es wächst und gedeiht alles draußen so schön und steht so prächtig – merkwürdig dabei, dass alles so teuer bleibt, und die Preise, statt herunterzugehen, immer nur steigen und steigen.«

»Ja, das weiß Gott«, seufzte der Aktuar, dem der Gedanke selbst den Geschmack am Bier wieder zu verderben schien, denn er setzte das schon zum Mund gehobene Glas unberührt vor sich nieder. »Wenn das noch eine Weile so fort geht, können wir alle miteinander verhungern oder davonlaufen.«

»Nun, Ihr habt gut reden«, sagte Kellmann, »Ihr bekommt vom Staat Euer Gewisses und könnt Euch genau danach einrichten. Euer Geld muss Euch werden, wenn der Erste jedes Monats kommt. Unsereins hängt aber allein von den Zeiten ab, und wenn die Lebensmittel knapp werden, kauft niemand einen Pelz. Holz will auch sein, und daran kann sich nachher die ganze Familie wärmen.«

»Ihr redet wie Ihr es versteht«, brummte der Aktuar, »unser Gewisses bekommen wir, das ist wahr, aber nur deshalb, damit wir gewisses Elend vor den Augen haben. Ich habe fünfhundert Taler Gehalt und Frau, Kind und Dienstmädchen zu ernähren, und soll anständig dabei gekleidet gehen, denn vor zehn bis zwanzig Jahren hatte ein Aktuar in meiner Stellung auch nicht mehr und machte das alles möglich, ja befand sich wohl dabei. Jetzt aber wird Brod, Butter, Fleisch, Holz, Wohnung, kurz, alles, was wir nun einmal zum Leben brauchen, gesteigert von Tag zu Tag, aber meine fünfhundert Taler bleiben. Vor zehn Jahren kaufte ich zwanzig Pfund Brod für dasselbe Geld, für das ich jetzt nicht zehn bekomme, aber meine fünfhundert Taler bleiben. Auch mein Hausherr verlangt höheren Zins. Schon voriges Jahr bin ich höher gegangen, um nicht gesteigert zu werden, d. h. für denselben Preis aus der zweiten in die dritte Etage gezogen, aber dieses Jahr muss ich ganz hinaus, denn er will wieder zehn Taler mehr haben und ich kann es ihm nicht geben. Ihr Leute habt Euch gut in die Zeiten schicken, denn wenn das Brot teuer wird, schlagt Ihr desto mehr auf Eure Ware, der kleine Beamte aber, der Staatsdiener um geringen Lohn, das ist das geplagte, gefährdete Geschöpf, und jede neue Taxe macht ihm keine neue Berechnung, sondern schnallt ihm nur den Leibriemen um ein Loch enger, dass er weniger isst, bis er ins letzte Loch geworfen wird, zum ersten Mal von seinen irdischen Strapazen, ohne Furcht vor rasch abgelaufenen Ferien, wirklich ungestört auszuruhen.«

»Ach, geht mit Euren erbärmlichen Lamentationen an solch freundlichem Tag«, fiel ihm der Wirt hier in die Rede, der sich erst vor ein paar Augenblicken wieder mit zum Tisch gesetzt und schon eine ganze Weile ungeduldig mit dem Kopf geschüttelt hatte. »Das Reden macht es nicht besser und Stöhnen und Seufzen hilft auch nichts. Kopf oben, das ist die Hauptsache; das andere macht sich von selber. Aber hallo«, unterbrach er sich plötzlich, von seinem Sitz aufstehend und die Straße hinunterzeigend, die in das weite Tal führte. »Was kommt dort für ein Trupp den Weg entlang?«

In der Tat wurde dort oben ein ganzer Zug Männer, Frauen und Kinder mit kleinen Handkarren und ein paar einspännigen Wägelchen sichtbar.

»Das sind Auswanderer!«, rief Jacob Kellmann, von seinem Stuhl aufspringend und dem Zug entgegenschauend. »Seht nur ein Mensch an, wieder ein ganzer Schwarm aus dem Hessischen. Heiland der Welt, da muss doch endlich einmal Platz werden.«

»Na, nun ist wieder der Frieden beim Henker«, rief aber der Apotheker mürrisch. »Hier, Lobsich, setzt Euch auf Euren Stuhl und trinkt Euer Bier aus, und Ihr Kellmann, lasst das Volk da draußen laufen, wohin sie wollen. Unzufriedene Bande, die es ist und die es nirgends gut genug kriegen kann, wo ihr nicht das Konfekt auf goldenen Tellern präsentiert wird. Na, kommt nur hinüber, wenn Euch hier der Hafer zu sehr sticht. Euch werden sie schon noch das Fell über die Ohren ziehen, dass Ihr am hellerlichten Tag die Sterne zu sehen bekommt.«

»Nein, was für ein Zug!«, rief aber Kellmann, die langsam näher kommende Schar mit unverkennbarem Interesse betrachtend, »die armen Teufel.«

»Hört Kellmann«, rief aber Schollfeld ärgerlich, »tretet mir da ein wenig aus dem Weg, dass ich auch was sehen kann, und setzt Euch wieder. Ich dächte doch wahrhaftig, Auswanderer hier an der Straße wären nichts so besonders Neues, dass Ihr Maul und Nase aufsperrt und tut, als ob Euch so etwas noch nicht im ganzen Leben vorgekommen wäre.«

Schollfeld war übrigens nicht umsonst so mürrisch. Er hatte einen Zorn auf Auswanderer, denn er betrachtete Auswanderung als eine indirekte Beleidigung gegen den Staat, gewissermaßen als eine Grobheit, die man ihm geradezu unter die Nase sage: Ich mag nicht mehr in dir leben und weiß einen Platz, wo es besser ist. Das dachten sich nämlich die »Tölpel«, wie er sie nannte, aber sie wussten es nicht. Gar nichts wussten sie und liefen blind und toll in die Welt hinein. Der Staat hätte auch eigentlich den Skandal gar nicht dulden sollen. Hunderte von Menschen, reine Deserteure aus ihrem Vaterland, liefen da frank und frei vorbei, anderen noch obendrein ein böses Beispiel gebend. Und er begriff die Regierung nicht, wie sie dem Volk nur noch einen Pass gestatten konnte.

Der Zug war indessen näher gekommen und Lobsich rasch in das Haus gegangen, Bier herbeizuschaffen, da sich bei solchen Trupps gewöhnlich eine Menge junge Burschen befanden, die noch Geld im Beutel und immer frischen Durst hatten; um so mehr, da das Bergesteigen heute wirklich warm und den Hals trocken machte.

Die ersten Wagen rollten leise vorüber. Die Führer warfen einen langen, vielleicht sehnsüchtigen Blick zu den behaglich hinter ihren Tischen sitzenden Gästen und dem kühlen funkelnden Bier hinüber, aber hielten nicht an, sich längere Rast dafür auf den Abend versprechend. Nur von den Fußgängern blieben mehrere Trupps unfern der Linde, unter der unsere kleine Gesellschaft saß, und nicht weit von der Gartentür stehen. Während ein paar der Männer dem Kellner winkten, ihnen Bier herauszubringen, als ob sie sich scheuten, in ihrer bestaubten schmutzigen Kleidung, mit der schweißbedeckten Stirn, zwischen die geputzten und jetzt nach ihnen herübersehenden Gruppen hineinzugehn, hielt ein Trupp Frauen ebenfalls dort. Angezogen von der plötzlichen weiten und freien Aussicht, die ihnen hier nach unten zu das Tal öffnete, durch das sie gekommen waren, blieben sie erfreut und überrascht stehen und schauten dabei auf das reizende Bild hin, das wie mit einem Schlag so vor ihnen ins Leben sprang.

»Heiland der Welt, Lisbeth«, rief ein junges, sechzehnjähriges Mädchen der, vielleicht zwei Jahre älteren Schwester zu, »dort drüben liegt Holstetten, und von da ist es nur noch neun Stunden nach Hause. Dahinter kann ich den weißen Weg durchs schwarze Nadelholz sehen, der nach Krisheim hinüberführt.«

»Ja, Marie«, antwortete das Mädchen. Während sie sprach, liefen ihr die großen hellen Tränen an den bleichen Wangen nieder. »Gleich hinter dem Berg dort muss die Windmühle liegen, und dann kommt Bachstetten und nachher …« Sie konnte nicht mehr sprechen, das Herz war ihr zu voll und sie mochte doch nicht das der Schwester, wenn diese ihren Schmerz sah, noch schwerer machen. Aber zurückdrängen ließ sich das auch nicht, die Wunde war noch zu frisch und blutete zu stark. Beide Mädchen standen wenige Minuten still und weinend da, die schönen tränenüberströmten Züge den ihr nächsten Menschen ab- und der verlassenen Heimat, die sie wohl nie im Leben wiedersehen sollten, zugekehrt.

»Ob auch wohl Martha der Mutter Grab ordentlich hält und pflegt, wie sie es versprochen hat«, brach die Jüngste endlich wieder mit leiser kaum hörbarer Stimme das Schweigen.

»Sie hat es ja versprochen«, flüsterte fast ebenso leise die Schwester zurück, »aber … so gut wird sie es doch nicht haben wie wir.«

»Komm Lisbeth«, sagte die Jüngere wieder und ergriff, ohne sie aber dabei anzusehen, der Schwester Hand. »Wir wollen gehen, die Wagen sind schon ein Stück voraus.«

Beide Mädchen nickten leise und kaum bemerkbar der verlassenen Heimat zu und schritten dann schweigend Hand in Hand den Weg entlang, der nach und durch Heilingen führte, ihre weite, unbekannte Bahn.

»He, Marie, Lisbeth!«, rief sie der Vater an, der eben an der Tür des Gartens ein Glas Bier von einem der Kellner erhalten hatte, »wollt Ihr einmal trinken, Kinder?«

»Ich danke, Vater«, sagte Marie zurück, ohne sich umzusehen oder stehen zu bleiben. »Wir sind nicht durstig.«

»Woher des Wegs, Ihr Leute?«, wandte sich jetzt Kellmann, der trotz Schollfelds ärgerlichen Worten zu dem Alten getreten war, an diesen.

»Aus Hessen«, sagte der Mann ruhig und tat einen langen durstigen Zug aus dem, mit dem trefflichen Bier gefüllten, schäumenden Glas.

»Und wohin?«

»Nach Amerika.«

»Hm … ist ein weiter Weg … ist Euch wohl schlecht gegangen hier im Land?«, sagte Kellmann, die kräftige und doch gramgebeugte Gestalt des alten Landmanns teilnehmend betrachtend.

Der Bauer, dessen Blick auch an dem fernen Punkt indes gehangen hatte, wo seine frühere Heimat lag, ließ das Auge einen Moment wie misstrauisch über den Frager gleiten und erwiderte dann leise und kopfschüttelnd: »Schlecht? Lieber Gott, wie man’s nimmt; man soll g’rad nicht klagen; der liebe Gott hat geholfen und wird weiter helfen.«

»Ihr wollt Euch wohl ein paar von den gebratenen Tauben holen, die in Amerika herumfliegen?«, mischte sich hier der Apotheker ins Gespräch, der nicht umhin konnte, dem Auswanderer, wie er sich ausdrückte, einen Hieb zu versetzen. »Habt Ihr auch Messer und Gabeln mit?«

Der Bauer sah den kleinen, spöttisch lächelnden Mann einen Augenblick ruhig von der Seite an, zahlte dann dem neben ihm stehenden Kellner, dem er das Glas zurückgab, sein Bier. Ohne irgendetwas auf die Frage zu erwidern oder ärgerlich darüber zu scheinen, ja, als ob er sie nicht gehört hätte, wandte er sich um und folgte mit einem Grüß Euch Gott, Ihr Herren seinen vorangegangenen Töchtern.

»Holzkopf«, brummte der Apotheker, nur noch mehr gereizt über diese anscheinende Missachtung, hinter ihm drein. »Dem Volk ist zu wohl hier«, setzte er dann, mit einem kräftigen Zug aus seinem Glas hinzu. »Der Art Leute fühlen sich nicht behaglich, wenn sie nicht baumfest unter dem Daumen gehalten werden.«

»Guten Abend miteinander«, sagte in diesem Augenblick ein anderer der Auswanderer, der, mit einem kurzen Pfeifenstummel in der Hand zu dem Tisch trat, auf dem in einem schützenden Kelchglas ein Licht mit darum gesteckten Fidibus zum Anzünden der Zigarren. »Wenn es erlaubt ist, möchte ich mir wohl einmal eine Pfeife bei Euch anbrennen.«

»Mit Vergnügen«, sagte Ledermann, ihm einen Fidibus anzündend und hinreichend.

»Danke schön«, nickte der Mann, das Feuer benutzend und den blauen Qualm in schnellen kurzen Zügen ausblasend.

»Und wo geht die Reise hin?«, fragte Ledermann dem Rauchenden.

»Da hinüber«, sagte dieser. Immer noch scharf ziehend, indes er mit dem linken, zurückgebogenen Daumen über die linke Achsel wies. »Übers große Wasser.«

»Habt Ihr dort schon einen Platz?«, fragte der Aktuar.

»Ja«, sagte der Mann freundlich, »mein Bruder hat mir geschrieben aus dem Wiskonsin heraus. Da soll’s gut sein.«

»Und geht Ihr alle dorthin?«, fragte ihn Kellmann.

»Die meisten von uns, ja; eine Partie will aber auch hinüber nach Missouri; da ist’s wärmer.«

»Es sind wohl lauter Landleute hier miteinander?«

»Ja meistens — ein Schneider ist dabei, und der Schmied aus dem Dorf und der Herr Pastor ist schon voraus.«

»Der Pastor geht auch mit?«, fragte Kellmann schnell.

»Ahem«, sprach der Mann, »der ist aber mit der Post gefahren, aber er hat gesagt, er wollte sehen, dass wir alle auf ein Schiff kämen. Danke schön, Ihr Herren, adieu.«

»Glückliche Reise«, rief ihm Kellmann nach.

»Danke«, sagte der Mann noch einmal zurück, »können es brauchen.« Er schloss sich den Übrigen wieder an, von denen die letzten gerade die Tür des Wirtshauses passierten.

Es waren ärmliche, viele von ihnen kränklich oder wenigstens bleich aussehende Gestalten, in die Bauerntracht ihrer Gegend gekleidet. Die meisten Frauen mit Kindern auf dem Arm, manche sogar deren an der Brust, und ein Bündel dazu auf dem Rücken, die im Schweiß ihres Angesichts, wie sie bis jetzt gelebt hatten, mühsam der fernen ersehnten Heimat entgegenstrebten. Hier und da waren auch ein paar kräftige junge Burschen von zwölf bis vierzehn Jahren vor ein kleines leichtes Handwägelchen gespannt, darauf gepackte Betten, Kleidungsstücke und Lebensmittel die weite Straße entlangzuziehen. Die Leute hatten kein Geld übrig, denn das wenige, was sie zur Reise aufgespart hatten, mussten sie für das Schiff aufheben, und ein paar Taler sollten doch auch noch wenigstens, wenn das irgend anging, übrig bleiben, damit sie nur die ersten Tage in Amerika, ehe sie Arbeit bekämen, vor Sorge geschützt wären. Den glänzenden Schilderungen, die ihnen von dem neuen Lande ihrer Hoffnungen gemacht waren, trauten die armen Frauen am wenigsten in ihrem vollen Umfang. Von Jugend auf, wie ihnen nur eben die Kräfte reichten, ihre jüngeren Geschwister in der Welt herumzuschleppen, hatten sie arbeiten, hart arbeiten müssen, und viel anders würde es auch wohl nicht da drüben sein. Der Sorgen waren hier nur gar so viele angewachsen, mit jedem Jahr mehr, wie sie sich auch plagten und quälten, und schlechter konnte es dort drüben nicht sein. Das war für jetzt der einzige Trost, den sie mit sich trugen, die lange, heiße Straße entlang mit einer kleinen Hoffnung möglicher Besserung vielleicht. Sie drückten dann die Kinder nur fester an ihr Herz, küssten sie und flüsterten ihnen leise und heimlich zu, dass sie nicht mehr schreien sollten, denn sie gingen nach Amerika. Da würde schon alles gut werden, wie ihnen der Vater gesagt hatte.

Die Männer und Burschen zogen der fernen Welt aber schon mit mehr Vertrauen entgegen. Das Bewusstsein der eigenen Fähigkeit und Kraft hob sie dabei auch über manches hinweg, das die abhängigen Frauen schwerer zu Boden drückte. Wer bei einer langen Wanderung vorangeht und für den Weg zu denken hat, wird nie so müde wie der, der ihm folgt, nur für sich denken lässt, und hinterdrein zieht. Viele von den Männern trugen auch Jagdtaschen und Gewehre auf dem Rücken, Büchsen und Schrotflinten – was sollte es da drüben nicht alles zu schießen geben. Manche hatten auch nachgemachte bunte Blumensträuße auf dem Hut. Einzelne, aus Bayern und Thüringen, die sich ihnen anschlossen, hatten sogar ein paar kleine gefärbte Maraboufedern mit ihren Landesfarben, blau und weiß, und grün und weiß in ihrem Hutband stecken. Die meisten aber schienen keine solche Erinnerung an die Heimat in das neue Vaterland mitnehmen zu wollen.

Die Leute gingen vorüber, und die Gäste hatten ihnen schweigend nachgeschaut, so lange fast, bis sie die nächste Biegung der Straße ihren Blicken entzog. Auch Lobsich war wieder vor die Tür seines Gartens getreten. Sich jetzt kopfschüttelnd zurück zu seinem Tisch wendend, brummte er vor sich hin.

»S’ist mir doch was Unbedeutendes.« Es war dies eine seiner stehenden Redensarten, die in der Tat unbegrenztes Erstaunen ausdrücken sollte. »Was die Leute dies Frühjahr wieder anzuziehen fangen. Tag für Tag geht das so fort. Trupp nach Trupp kommt über die Berge herüber, mit Sack und Pack, mit Weib und Kind – und alles fort, alles fort, und man merkt nicht einmal, von wo sie fort sind.«

»Doch, doch«, sagte Kellmann, die Augenbrauen in die Höhe ziehend und mit dem Kopf nickend, »doch, doch Lobsich. Ob man es wohl merkt? Geht einmal da über die Berge hinüber und seht Euch in den Dörfern um. Da steht manches alte halb zerfallene leere Haus, an das irgendeine Familie da drüben noch mit Schmerzen zurückdenkt, und in das niemand anderes mehr Lust hat, einzuziehen, weil er noch eine Menge bessere, ebenfalls leer, in demselben Dorf findet. Es ist immer ein trauriger Anblick, solch ein leeres Haus, und ich seh’s nicht gern.«

»Und was für Geld tragen sie außer Land«, fiel der Apotheker hier ein, der indes, sich zu zerstreuen, im Heilinger Tageblatt gelesen hatte, jetzt aber nicht umhinkonnte, auch noch ein Wort mit einzuwerfen. »Was sie nicht mit hinübernehmen können, lassen sie wenigstens in den Seestädten, und zu uns kommt nichts mehr davon zurück. Wenn ich nur das erst einmal erlebe, dass die Leute zu ihrem Glück förmlich gezwungen und nicht mehr aus dem Land hinausgelassen werden. Geht das aber so fort, so werden sie so lange auswandern, bis uns hier weiter gar nichts übrig bleibt, als mitzugehen, wenn wir nicht eben allein sitzen wollen in dem verödeten Land, unseren Acker selber zu bauen. Hol sie der Teufel, wofür hat sie denn eigentlich der liebe Gott in die Welt gesetzt und ihnen den Holzkopf gegeben, der sie zu allem anderen untauglich macht. Ackern und Düngen müssen sie drüben doch auch, und weshalb können sie das nicht ebenso gut hier? Nein, Gott bewahre, die paar Taler, die sie sich hier erspart haben, müssen erst wieder verschleppt und hinausgeworfen werden an Experimente und reinen Übermut, und nachher sitzen sie erst recht da. Dort drüben können sie nichts mehr sparen und müssen schon drüben bleiben, wenn sie auch wieder herüber möchten. Die paar, die sich doch noch ein paar Taler zusammenscharren, die kommen nachher schnell genug wieder zurück. Aber es sind nur wenige, und die anderen armen Teufel haben die Brücke mutwillig hinter sich abgebrochen und sitzen nun auf der wohlriechenden Heide ohne Unterfutter. Jesus Maria und Joseph, es muss ein ordentlicher Jammer drüben sein.«

»Na, so arg nun denn doch wohl noch nicht, Schollfeld«, sagte Kellmann kopfschüttelnd. »Man hört doch nun auch so manches von da drüben, was nicht gar so schlecht klingt, und wo es sich schon aushalten ließe, wenn man … wenn man eben einmal einen solchen verzweifelten Schritt absolut tun müsste oder wollte.«

»Nicht so arg?«, rief aber Schollfeld, der hier sein Steckenpferd ritt und sich selten eine Gelegenheit entgehen ließ, auf Amerika zu schimpfen. »Nicht so arg? Da, hier lesen Sie einmal das Tageblatt, was der wackere Dr. Hayde darüber schreibt. Das ist ein Mann, der hat Haare auf den Zähnen und muss die Sache verstehen, denn er ist einer von den wenigen, die drüben gewesen und glücklich wiedergekommen sind. Er bringt kaum eine Nummer, in der er nicht ein oder den anderen Hieb auf die Verhältnisse Ihres glücklichen Amerikas hat. Das muss ja ein wahres Raubnest sein, lesen Sie nur einmal.«

»Hören Sie lieber, Schollfeld, ich will Ihnen einmal etwas sagen«, erwiderte ihm Kellmann ruhig. »Dieser Dr. Hayde, der Ihnen die schönen Artikel schreibt, ist der Meinung aller ordentlichen Kerle in Heilingen nach, das wenigste zu sagen, eine kleine geschwollene Giftkröte, ein weggelaufener Advokat, den die Verhältnisse aus Deutschland vertrieben und den in Amerika niemand mit seinen Talenten haben mochte. Zu faul zum Arbeiten und nicht imstande, etwas anderes zu tun, wurde er dort wahrscheinlich vom Schicksal hin- und hergestoßen. Und wie ein aus einer Tür geworfener Mops stellt er sich jetzt draußen hin, wo sich niemand die Mühe gibt, ihn zu stören, und schimpft und kläfft. Ich will Amerika eben nicht in allem verteidigen, aber was der gerade darüber sagt, würde mich auch nicht bestimmen. Wie ein Dreckkäfer schleppt er sich nur mit größter Mühe kleine Stückchen Kot herbei und rollt sie zusammen, eine Kugel zu machen, in die er sein Ei legt – pfui über den Burschen.«

»Na, jetzt freut mich aber mein Leben«, rief Herr Schollfeld erstaunt aus. »Erst schimpfen Sie selber auf Amerika, und nun auf einmal soll der arme Doktor die ganze Schuld tragen.«

»Ich schimpfe nicht auf Amerika«, sagte Kellmann ruhig, »ich kann nur nicht leiden, wenn man es auf Kosten unseres eigenen Vaterlandes herausstreicht und gegen alle seine Nachteile blind ist. Es wäre allerdings noch viel gefährlicher, sich die Lichtseiten alle zu bunt auszumalen. Die armen Leute, die nachher hinübergehen und es anders finden, sind dann zu sehr enttäuscht und fallen gewöhnlich, wie mir gesagt ist, aus einem Extrem ins andere – aber so taugt es auch nichts.«

»Guten Abend, selbander«, sagte in dem Augenblick eine andere Stimme dicht hinter ihnen.

Als sie sich danach umschauten, stand ein alter Bekannter von ihnen, Mathes Vogel, ein reicher junger Bauer aus dem nächsten Dorf, an ihrem Tisch und streckte ihnen freundlich die Hand entgegen.

»Hallo Mathes, wie geht’s?«, rief Kellmann, die gebotene herzlich schüttelnd. »Wetter noch einmal, Mann, wo habt Ihr jetzt gerade in der Saatzeit gesteckt, dass Ihr in der Welt herumreist wie ein Baron, der seine Güter verpachtet hat? Ihr seid verreist gewesen.«

»Ja, Herr Kellmann, in Bremen.«

»Wo seid Ihr gewesen?«, fragte Schollfeld erstaunt.

»In Bremen, Herr Schollfeld!«, rief der junge Bauer, gegen diesen gewandt, »oben in der Hafenstadt.«

»Guten Abend, Mathes«, kam hier der Wirt dazwischen, der den alten Kunden ebenfalls begrüßte. »Lange nicht gesehen, recht groß geworden, mein Junge. Hast du Durst?«

»Merkwürdigen«, sagte der Bauer lächelnd.

»Na warte, den wollen wir begießen«, schmunzelte aber Lobsich, rasch in den Garten zurückgehend, »der soll mir nicht umsonst in den Roten Drachen gefallen sein.«

»Aber was hat Euch nach Bremen geführt?«, wiederholte Kellmann, fast etwas misstrauisch gemacht durch das wunderliche halb verlegene Benehmen des jungen Burschen.

»Ja, Herr Kellmann«, sagte der reiche Bauernsohn, wirklich jetzt verlegen seinen Hut um den Zeigefinger der linken Hand drehend, »das hat … das hat so seine eigene Bewandtnis … Ich bin … ich bin zu einem Entschluss gekommen … ich will … ich will auswandern.«

»Was will er?«, schrie Schollfeld, der die Worte nicht ganz verstanden, den ungefähren Sinn aber etwa erraten hatte. Jedenfalls schöpfte er Verdacht und ehe Kellmann nur imstande war, ein Wort darauf zu erwidern, rief er nochmals laut: »Wo will er hin?«

»Nach Amerika«, sagte aber der junge Mann entschlossen und wollte noch etwas hinzusetzen, aber der Apotheker schlug dermaßen auf den Tisch, und fing so an zu schimpfen und zu fluchen. Niemand wusste eigentlich, auf was und gegen wen, dass Mathes gar nicht gleich wieder zu Worte kommen konnte und vielleicht auch eben nicht böse darüber war.

»Hallo, wer ist tot?«, rief aber in dem Augenblick Lobsich, der mit dem bestellten Bier für einen seiner besten Kunden selber ankam. »Dass dich die Milz sticht, was ist denn dem Apotheker eigentlich in die Krone gefahren?«

»Dem Apotheker nichts«, nahm aber Kellmann kopfschüttelnd das Wort, »doch hier dem Dings da, dem Mathes – was meint Ihr, Lobsich was er vor hat?«

»Heiraten?«, sagte dieser, und ein breites vergnügtes Schmunzeln über den so richtig und schnell geratenen Vorsatz zog sich über sein dickes gutmütiges Gesicht.

»Heiraten!«, schrie aber der Apotheker dazwischen, indem er sich seinen Hut in die Stirn drückte und seinen Rock anfing, zuzuknöpfen. »Heiraten? Ja prost die Mahlzeit, auswandern will der Kerl, wie ein blindes Pferd, das durch die Stallwand bricht, in einen Teich zu fallen.«

»Auswandern?«, schrie aber auch jetzt Lobsich in unbegrenztestem Erstaunen. »Na, das ist mir aber doch wahrhaftig was Unbedeutendes.«

»Oh, hol Euch der Teufel mit Eurer albernen Redensart!«, rief aber der nun einmal ärgerliche Apotheker und nahm seinen Stock unter den Arm – sein stetes Zeichen, dass er fertig zum Gehen sei. »Was Unbedeutendes; jawohl, wenn der Raptus erst einmal in solche Köpfe und Geldbeutel fährt. Nachher werden wir sehen, was wir hier anrichten. Ich will mir aber mein Abendbrot nicht verderben. Gute Nacht, Ihr Herren.«

»Halt Schollfeld!«, rief aber Kellmann, ihn am Arm fassend und zurückhaltend. »Brennt mir nicht durch, ich gehe auch gleich mit und wollte nur erst hören, was Mathes den Gedanken in den Kopf gesetzt hat. Hol’s der Henker, er macht sich entweder einen Spaß mit uns oder es ist nur so eine Idee von ihm, die wir ihm wieder ausreden können.«

»Wenn ich das wüsste, blieb ich die ganze Nacht hier«, sagte Schollfeld, seinen Stock wieder auf den Tisch legend und zu dem verlassenen Stuhl zurückgehend. »Mensch, Mathes, seid Ihr denn rein vom Teufel besessen oder habt Ihr nur heute, in irgendeiner Kneipe, ein wenig des Guten zu viel getan, dass Ihr so tolles Zeug zusammenfaselt.«

Mathes blieb aber bei all diesen Ausbrüchen des Erstaunens, die erste Erklärung nur einmal überstanden, vollkommen ruhig, und zog nur, statt jeder weiteren Antwort, einen Brief aus seiner Brusttasche, den er langsam auffaltete und vor sich legte, als ob er ihn vorlesen wollte.

»Nun, was soll’s mit dem Wisch?«, rief aber der Apotheker ärgerlich, »Ihr habt Eure Seele doch noch nicht dem Gott sei bei uns verkauft?«

»So schlimm noch nicht«, gab der junge Bursche lachend von sich, »das hier ist nur ein Brief von Caspar Lauber, den Sie ja alle kennen und der vor etwa sieben Jahren nach Wisconsin auswanderte.«

»Der was tat?«, rief der Apotheker, die Augen zusammenkneifend und das linke Ohr zu ihm hindrehend. »Nuschelt nicht so in den Bart, dass Euch ein Christenmensch noch verstehen kann, ehe Ihr unter die Heiden geht.«

»Der nach Wisconsin auswanderte«, sagte der junge Bauer lächelnd, »er hatte mir damals versprochen, zu schreiben, wie es ihm ginge, schlecht oder gut; wenn schlecht, wollte ich ihm helfen, wenn gut, vielleicht nachkommen. Aber er schrieb nicht Jahr nach Jahr, und da er überhaupt nichts von sich hören ließ, glaubte ich schon, er sei da drüben gestorben oder untergegangen in dem weiten Reich, bis ich vor vier Wochen etwa einen Brief von ihm erhielt. Seit der Zeit habe ich keine Ruhe gehabt bis zu dem heutigen Tag.«

»Nun ja, natürlich«, brummte der Apotheker.

»Aber so lasst ihn doch nur reden«, rief jetzt auch ärgerlich der Aktuar dazwischen, »Ihr raisonniert nur in einem fort und glaubt nachher, wenn Ihr recht geschrien habt, Ihr hättet recht.«

»So lest den Brief einmal!«, sagte Kellmann, die Arme auf den Tisch stützend, »nachher wissen wir ja gleich, woran wir sind.«

»Aber erst muss ich noch Bier haben«, rief Schollfeld dazwischen, »ich mag die Lügen wenigstens nicht trocken mit anhören.«

Lobsich winkte einem der nächsten Kellner, die indes leer gewordenen Gläser wieder zu füllen, denn der Brief interessierte ihn selber zu sehr, den Tisch jetzt zu verlassen. Mathes sagte wie entschuldigend: »Der Brief ist sehr kurz, aber es steht alles darin, was ich zu wissen verlangte, und er lautet:

Lieber Mathes, ich habe bis jetzt mein Versprechen nicht gehalten, dir zu schreiben, weil es mir sehr schlecht gegangen ist.

»Na ja«, fiel ihm hier der Apotheker in das Wort,»und nun müsst Ihr Hals über Kopf machen, dass Ihr auch hinüberkommt.«

Kellmann wollte dem ewigen Einredner etwas erwidern, aber Mathes fuhr, lächelnd die Hand gegen ihn aufhebend, wieder laut fort:

Ich wollte aber nicht gern, dass mich jemand anders unterstützen sollte, weil das hier im Land eine Schande ist. Ich wollte mir selber helfen und habe mir kümmerlich, aber ehrlich und fleißig durchgeholfen. Jetzt habe ich eine kleine Farm von achtzig Acker, vierundzwanzig Stück Rindvieh, dreißig Schweine und zwei Pferde. Es geht mir gut. Ich habe hart arbeiten müssen, aber ich komme durch. Wenn du mit Geld hier herüberkommst und willst mich aufsuchen, dass ich dir mit Rat und Tat an die Hand gehen kann, dann brauchst du keine Angst zu haben, dass du nicht durchkommst. Wenn du eine Frau hast, bringe sie mit. Kinder sind ein Segen hier, kein Fluch, wie für manchen armen Mann in Deutschland. Wer arbeiten will, kommt fort, wer faul ist geht zugrunde. Es grüßt dich zehntausend Mal dein Caspar Lauber – Lauber’s Farm bei Milwaukie, Wisconsin.

»Und auf den Brief hinwollt Ihr auswandern?«, rief aber auch Kellmann jetzt erstaunt. »Mathes, ist Euch denn das Auswanderungsfieber so plötzlich in die Glieder geschlagen, dass Ihr die Seekrankheit für das einzige Mittel haltet, die es kurieren könnte?«

Mathes schüttelte aber ernsthaft mit dem Kopf, faltete den Brief zusammen, den er zurück in seine Tasche schob, und sagte mit fester und entschlossener Stimme:

»Lange im Sinn habe ich es schon gehabt, aber der Brief hat es zuletzt zum Ausbruch gebracht.«

»Aber Mathes, Ihr vor allen anderen habt doch Euer Auskommen hier im Land«, rief jetzt auch Lobsich, während der Apotheker das ihm eben gebrachte Glas auf einen Zug hinuntergoss, wie um seinen Ingrimm damit herunterzuspülen. »Wenn Ihr nach Amerika auswandern wollt, wer soll denn noch dableiben?«

»Ich bliebe auch«, sagte Mathes rasch und mit vor innerer Bewegung fast erstickter Stimme. »Ich bliebe auch, wenn mich mein Vater ließe, aber — der will nicht in die Heirat einwilligen mit Roßners Käthchen, des Häuslers Tochter aus Rodnach. Hier hält er mich dabei unter dem Daumen mit seinem Gut und Geld, und das Mädchen stirbt mir indessen in Arbeit und Gram. Dort drüben aber ist ein Platz, wo fleißige Menschen auch durchkommen können mit Gottes Hilfe ohne Geld, ohne Ansehen. Der Lauber hatte gar nichts, wie er hinüberging; nicht das Hemd auf seinem Rücken war sein. Und ich weiß, dass er nicht einen roten Pfennig mit in das fremde Land gebracht hat. Aus dem ist jetzt ein rechtschaffener Farmer geworden, mit eigenem Land, Haus und Vieh, und was der kann. Schwere Not noch einmal – das kann ich auch. Ich gehe hinüber, nehme das Käthchen mit. Geld zur Überfahrt kriege ich schon, und wenn ich meine beiden Schimmel um den halben Wert verkaufen sollte. Dort hilft der liebe Gott schon weiter. Verhungern werden wir nicht, und ich brauche mir hier nicht mehr unter die Nase reiben zu lassen, ›das sollst du tun und das nicht, und die sollst du heiraten, die du nicht magst und willst, und die dich lieb hat und dich glücklich machen kann, der sollst du das Herz brechen‹, weil ihr eben nur der volle Geldsack fehlt.«

»Unsinn!«, sagte der Apotheker, jetzt wieder und zwar im Ernst aufstehend. »Wenn jemand einmal rein verrückt geworden ist, lässt sich auch nicht mehr mit ihm streiten. Gehen Sie mit, Kellmann?«

»Ja, gleich«, erwiderte der Gefragte, »weiß denn aber schon Euer Vater um den Plan, Mathes?«

»Heute habe ich es ihm gesagt«, erwiderte der Gefragte leise, »aber er glaubt es noch nicht.«

»Und ist es denn schon wirklich so fest bestimmt?«, sagte Kellmann teilnehmend.

»Meine Passage in Bremen für mich und meine Frau ist schon bezahlt«, rief der junge Bursch da entschlossen. »Den fünfzehnten geht das Schiff ab, und ich habe nur noch eben Zeit, das Notwendigste in Ordnung zu bringen.«

»Ja, da kommt freilich jeder gute Rat zu spät«, sagte Kellmann, jetzt ebenfalls aufstehend und seinen Hut ergreifend. »Wenn der Sprung erst einmal geschehen ist, braucht man nicht mehr über das Springen zu streiten. Ich wünsche Euch das Beste in Eurer neuen Heimat.«

»Ich weiß es, ich weiß es«, sagte Mathes gerührt,»aber vielleicht sehe ich Sie selber noch einmal auf freiem Boden drüben, mit Axt oder Pflug in der Hand, wie ein wackerer, richtiger Farmer.«

»Wen – mich?«, rief aber Kellmann ordentlich erschreckt aus. »Ich nach dem vermaledeiten Land, daß alle unsere besten Bürger frisst? Nein Mathes, für dies Leben nicht; aber wann geht Ihr fort? Vielleicht lässt Euer Vater doch noch mit sich reden und lenkt ein, wenn er sieht, dass es Euch wirklich ernst ist.«

Mathes schüttelte mit dem Kopf.

Der Aktuar rief: »Ein Bauer und einlenken, Kellmann? Da kennt Ihr unseren deutschen Bauern nicht. Worauf der einmal seinen Dickkopf gesetzt hat, da muss er durch, und wenn es nicht geht, so zerhaut er sich eben den Schädel, aber er lässt nicht nach. Der alte Vogel und nachgeben; du lieber Gott, wenn er den eigenen Sohn mit einem einzigen Wort vom Verderben retten könnte – er spräche es nicht.«

»Na, da kann ich wohl auch meine Bude hier bald zuschließen und mitgehen«, sagte Lobsich, sich den Kopf kratzend. »Schwerebrett das ist mir … hm … hm … ist mir doch was Unbedeutendes, das … das Amerika.«

»Und was sagt denn das Käthchen dazu?«, fragte Kellmann jetzt den Mathes, während die Übrigen schon aufgestanden waren und sich zum Fortgehen gerüstet hatten.

»Die weint und will nicht mit«, sagte Mathes leise, »aber sie wird schon gehen.«

»Sie will nicht mit?«

»Sie meint, es bräche meinem Vater das Herz.«

»Das Herz brechen? Dem alten Vogel?«, lachte aber dieser verächtlich. »Na, Gott sei Dank, die hat einen guten Begriff von ihm, als ob dem etwas das Herz brechen könnte.«

»Nun, es fragt sich nur jetzt, wem sie es lieber bricht«, meinte der Aktuar, »dem Alten, wenn sie geht, oder dem Jungen, wenn sie bleibt – die Wahl wird ihr nicht schwer werden. Aber Schollfeld, Ihr seid ja auf einmal so still geworden?«

»Ach, lasst mich zufrieden«, brummte dieser ärgerlich. »Weiß es Gott, man möchte am Ende selber mit hinüberlaufen, nur nichts mehr von dem verwünschten Auswandern reden zu hören.«

»Hahahaha!«, rief da Kellmann, »Schollfeld bekommt auch überseeische Ideen.«

»Überseeische – hätte bald was gesagt«, knurrte dieser aber, auf der Straße hingehend, ohne weder Mathes noch Lobsich gute Nacht zu sagen.

Die Übrigen wechselten noch einen kurzen Gruß mit ihren Bekannten dort, zündeten sich frische Zigarren an und schlenderten langsam, den freundlichen Abend so viel wie möglich zu genießen, die Straße hinab, der eigenen Heimat zu.