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Der Welt-Detektiv Band 6

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Diane Teil 1 – Kapitel 10

Alexander von Ungern-Sternberg
Diane
Ein Kriminalgemälde der modernen Gesellschaft
Berlin, 1842, Buchhandlung des Berliner Lesekabinetts

Zehntes Kapitel

Eine aristokratische Dame, die nur Vergnügen an gelben Handschuhen und an englischem Salz findet

Nachdem die Reise noch einen Tag und eine Nacht gedauert hatte, Judith bestand darauf, von Ungeduld getrieben, kein Nachtquartier mehr halten zu wollen, kam man auf dem Landgut der Fürstin an, welches das Ansehen eines mittelalterlichen Schlosses hatte. Über verschüttete Gräben fuhr der Wagen durch einen düsteren Torweg und gelangte dann durch eine kleine Gartenanlage, die einige verkrüppelte Bäume und nicht viel lebhafter aussehende Blumen bildeten, dicht vor die Eingangstreppe. Es war sechs Uhr abends, und eine warme, fast schwüle Luft. Die Kühle, die im Schlosshof herrschte, verwandelte sich hier in eine drückende Hitze, denn die senkrechte Mauer hatte noch die volle Glut der Tagessonne bewahrt und ließ sie jetzt von sich strömen. Zwei Diener in Livree öffneten den Wagen und hoben Judith und ihre Gefährtin heraus. Oben auf den Stufen stand ein Herr, in Schwarz gekleidet, der mit einer leisen, flüsternden Stimme Befehle erteilte und Judith den Arm bot, als sie hinaufkam. Sie wusste nicht, wer er sei. Sie hatte gehört, dass die Fürstin einen Neffen habe, aber sie glaubte nicht, dass dieser dicke wohlbeleibte, zufrieden lächelnde Herr, der Neffe sei. Er war es auch nicht. Als er sie in einen kleinen Saal geführt hatte, in dessen helle Spiegelscheiben die Sonne freundlich schien, und die goldenen Rahmen der vielen Gemälde und die schönen Stoffe der kostbaren Draperien beleuchtete, machte er ihr eine tiefe Verbeugung und flüsterte mit leiser Stimme auf französisch: »Madame werden entschuldigen, wenn ich Sie verlasse und nach der Anordnung Ihrer Zimmer sehe.«

Er ging hinaus, und Judith befand sich allein im Saal. Es rührte sich kein Laut um sie her. Eine warme, verschlossen gehaltene Luft umgab sie. Unwillkürlich trat sie ans Fenster und öffnete es.

»Ihre Durchlaucht lieben keine offenen Fenster«, tönte eine wiederum leise, aber mit schärferem Akzent sprechende Stimme.

Judith wandte sich um und erblickte einige Schritte von sich entfernt eine Kammerfrau, die die Hände in die Tasche der Seidenschürze gesteckt hatte, sie ohne zu grüßen und mit sehr wenig Ehrfurcht im Blick anstarrte.

Judith schloss das Fenster wieder. »Darf ich hoffen, die Frau Fürstin zu begrüßen?«, fragte sie.

»Ihre Durchlaucht sind noch nicht aus dem Bett, aber sobald im Kabinett geklingelt wird, werde ich die Ankunft des Fräuleins melden.«

»Noch nicht aus dem Bett? Ist die Fürstin krank?«, fragte Judith.

»Nein. Sie legt sich um acht Uhr morgens zu Bett und steht um sechs Uhr abends auf. Um so zu leben, braucht man nicht gerade krank zu sein.«

Das ist eine besondere Lebensweise, dachte Judith bei sich, den Tag zur Nacht zu machen. »Ist der Herr Baron zu Hause?«, fragte sie nach einer Pause die unbewegliche und impertinente Kammerfrau.

»Der Herr Baron sind soeben von der Jagd zurückgekehrt und werden jetzt zu Mittag speisen«, war die Antwort.

»Tatsächlich, ich fühle Hunger und möchte auch gern speisen«, sagte Judith.

»Ich werde Befehle erteilen, dass ein Kuvert zu dem Kuvert des Herrn Barons zugelegt werde.«

»Ich soll allein mit dem Herrn speisen?«, fragte Judith rasch. Sie bereute, ihre Esslust verraten zu haben. In diesem Moment und in der Reisetoilette kam es ihr durchaus nicht gelegen, mit einem fremden jungen Mann in einem tête á tête zu speisen. Sie wollte die Kammerfrau zurückrufen, allein diese hatte sich schon entfernt. Ein paar peinvolle Minuten vergingen, während welcher sie wiederum allein im Saal blieb. Der Empfang war wenig zuvorkommend, und wäre Judith nach der Weise anderer junger Mädchen schüchtern gewesen, so hätte sie völlig den Mut verloren und mit ihm die Kraft, sich in einer schwierigen Stellung passend zu betragen. Aber sie rief schnell ihre Besonnenheit zu Hilfe, und diese sagte ihr, dass alles darauf ankäme, die ersten Eindrücke so zu ordnen, dass sie die Resultate der Zukunft festsetzte.

Die Tür öffnete sich und ein junger Mann trat ein, der, nachdem er an der Tür bleibend sie einen Moment fixiert hatte, auf sie zueilte, ihre Hand ergriff und sie an seine Lippen führte.

»Mein teures Fräulein, wie sehr erfreuen Sie uns durch Ihre endliche Ankunft. Wir haben Sie schon vor einigen Tagen erwartet.«

Judith sagte ihm, dass die Anstalten zu ihrer Reise diese etwas verzögert hätten. Nach einigen gegenseitig gewechselten Artigkeiten bot er ihr den Arm und führte sie zur Tafel. Diese war in der Mitte des Saals für zwei Personen gedeckt, und eine Anzahl Diener standen in ehrfurchtsvoller Entfernung aufgestellt.

»Ich muss bedauern«, hob der Baron an, »Ihnen ankündigen zu müssen, teure Diane – erlauben Sie, dass ich Sie so nenne, denn ich sehe nicht ein, weshalb wir uns hier mit förmlichen Titulaturen abquälen sollen – dass Sie hier ein einsames, und für Ihre Jahre freudloses Leben führen werden.«

»Ich habe mir vorgenommen, mich nirgends zu langweilen«, erwiderte Judith, indem sie den Teller ihres Nachbarn mit Suppe füllte.

»Ein vortrefflicher Entschluss! Ich meinesteils würde ihn auch fassen, wenn ich mir genug Macht zutraute, ihn auszuführen. Aber leider ist meine Konstitution danach, dass ich rettungslos der feuchten Luft und der Langenweile unterliege, deshalb bin ich das halbe Jahr hindurch erkältet und das andere halbe Jahr übler Laune.«

»Da Sie die Jagd lieben«, sagte Judith, »so hätte ich Sie, was den ersteren Übelstand betrifft, für abgehärteter gehalten.«

»Ich liebe die Jagd, wie ich im Leben mancherlei liebe und geliebt habe, aus Konvenienz. Ich habe meinen Großvater, meinen Vater, meine Freunde auf die Jagd gehen sehen und bin mit Ihnen gegangen. Nie habe ich daran gedacht, dass dies ein Vergnügen sei.«

»Meine Genüsse will ich mir nicht so von Großvater und Vater vorschreiben lassen«, rief Judith lächelnd.

»Und Sie haben vollkommen recht.«

»Ein Stück von dem Geflügel werde ich mir ausbitten.«

»Mit Vergnügen. O, ich glaube, wir werden sehr gut zusammenpassen«, rief der junge Mann plötzlich sehr lebhaft. »Denken Sie sich, dass wir so zehn, zwanzig Jahre täglich vis-à-vis speisen werden!«

»Das ist allerdings sehr originell«, rief Judith. »Ich wünsche mir nichts anderes. Wir werden über Tisch alt werden. Zuletzt wird ein altes Mütterchen einem ci-devant jeune homme ein Stück Pastete vorlegen.«

»Und der ci-devant jeune homme wird dem alten Mütterchen ein Glas Champagner zutrinken. Ha, ha, ha!« Er nahm den silbernen Teller mit den Gläsern dem Diener ab und reichte ihn seiner Nachbarin. »Was kümmert uns die Welt, was werden wir Notiz nehmen von dem, was anderswo vorfällt. Wir haben unsere eigenen kleinen Geschichten, die sich täglich begeben, und die uns täglich amüsieren. Ich werde witzig sein, und Sie werden lachen.«

»Und Sie werden dieses Lachen immer hübsch finden?«

»Gewiss; ich werde behaupten, dass die vierzig Jahre, die darüber hingegangen sind, seitdem wir zum ersten Mal so einander gegenübersaßen, diesem schönen Mund keinen seiner Reize geraubt haben.«

»Und ich hoffe, dass ich von Ihrem Witz dasselbe werde sagen können!«

»Sehr verbunden; ich werde mir wenigstens immer Mühe geben, ihn frisch zu erhalten, wenn ich auch selbst welk werde. Aber ich höre die Klingel meiner Tante. Sie ist sichtbar, und da man sie ohne Zweifel von Ihrer Ankunft benachrichtigt hat, wird sie begierig sein, Sie zusehen. Wir wollen von unserem Mittagtisch zum Frühstück meiner guten Tante übergehen.«

»Ich werde meine Toilette ändern«, bemerkte Judith.

»Durchaus nicht nötig«, rief der Baron. »Meine Tante würde es sehr übel nehmen, wenn Sie eines anderen Kleides wegen sie warten ließen. Kommen Sie. Übrigens«, setzte er flüsternd hinzu, indem sie beide durch den Saal schritten, »muss ich Sie darauf aufmerksam machen, dass die gute Frau schon da angelangt ist, wohin wir uns heute im Traum versetzt haben. Sie sieht nichts Neues und bewegt sich in einem sehr kleinen Kreis von Ideen und Anschauungen. Erzählen Sie ihr also nichts, denn sie will nichts wissen.«

Mit diesen Worten öffnete er leise eine Tapetentür und drängte seine Gefährtin in einen kleinen, schmalen, vollkommen dunklen Salon. Die eben Eintretende konnte hier nichts unterscheiden, und darum blieb Judith stehen, ungewiss, wohin sie sich wenden sollte. Ihr Führer wusste besser Bescheid, er fasste seine Dame am Arm und leitete sie sicher einige Schritte weiter. Nach und nach löste sich die Nacht in eine rote Dämmerung auf, und Judith erblickte jetzt, wie durch einen Nebel eine lange, weiß gekleidete Gestalt auf dem Sofa liegen. Im Zimmer befanden sich noch derselbe dicke blonde Herr, der Judith bei ihrem Eintritt ins Schloss empfangen hatte, und den sie jetzt den Haushofmeister nennen hörte, und die Kammerfrau, welche wiederum ihre Hände in den Taschen der Schürze hielt, und denselben starren, unhöflichen Blick auf die Ankommende richtete.

Das Gespräch bei Tisch war französisch geführt worden und eben die Sprache diente jetzt zur Anrede der Fürstin. »Ich bin außerordentlich erfreut, Sie zu sehen, meine Teure. Eh bien, wie heißen Sie?«

Diese Frage kam Judith sehr unerwartet, indessen nannte sie ihren Namen.

»Bon, c’est ça! Ich wusste, dass es so etwas war. Cher François, bitte die junge Dame, dass sie sich dort am Ende des Diwans niederlassen möge, und lüfte dann ein wenig den vorderen Vorhang.«

Es geschah, und ein bleicher Lichtschimmer drang, nachdem der rote Vorhang aufgerollt war, auf Judiths Gesicht und Gestalt.

»Elle n’est pas loide«, murmelte die Dame halblaut vor sich hin. »Schließen Sie den Vorhang wieder, mon cher. Kommen Sie, meine Teure, etwas näher zu mir. Sie müssen angestrengt lauschen auf meine Worte, denn ich spreche sehr leise; und dennoch glaubt der gute Herr Santin, dass ich mich bei jedem Gespräch übermäßig anstrenge.«

»Tatsächlich, das tun Ihre Durchlaucht«, entgegnete der Haushofmeister, indem er sich verbeugte und eine Prise nahm. Eine Pause trat ein, und während derselben betrachtete Judith die Dame genauer. Es war völlig unmöglich, ihr Alter anzugeben. Beim ersten Blick ahnte man wohl, dass man eine gekünstelte Erscheinung vor sich hatte. Allein man war weit entfernt, angeben zu können, wie weit diese Kunst sich erstreckte. So wie die Dame erschien, hätte man sie für ein kaum erwachsenes Kind halten können. Sie hatte ein kleines rundes Gesicht mit lebhaft gefärbten Lippen und Wangen und von blonden Locken beschattet, große blaue, aber völlig glanzlose Augen. Ihre Hände und Füße waren die eines Kindes, nur dass ihnen die Fülle fehlte, denn alles an dieser feinen Gestalt war mumienhaft und mager. Aber diese Entdeckung trat nicht gleich ins Auge, erst wenn die spähenden Blicke in der Umhüllung von Gaçe und Flor eine kleine Lücke zu finden wussten, trafen sie auf die ursprünglichen Formen, und man erschrak dann, dass man sich um ein halbes Jahrhundert verrechnet hatte. Judith mit ihrem scharfen Beobachtungstalent machte die Erfahrung früher, als jede andere Frau sie gemacht haben würde, und die Fürstin erhielt für sie von dem ersten Augenblick an etwas Unheimliches.

»Du hast mir nicht gesagt, cher François, wie Fräulein Blummers mit meinem Schloss zufrieden ist«, hob die Dame an.

»Meine teure Tante«, entgegnete der Baron, »unsere junge Freundin heißt Belmont.«

»C’est vrai! Wie kam ich nur auf den Namen Blummers? Erkläre mir, mon ami, wie ich auf diesen Namen kam. Es ist tatsächlich sehr wunderlich.«

»Ich hatte das Vergnügen, Madame, Ihnen vor einigen Tagen einen englischen Roman vorzulesen, in welchem die Heldin eine Miss Blummers war.«

»Nun, dann ist das Rätsel gelöst«, bemerkte die Fürstin sehr befriedigt. »Betty, ich sagte Ihnen schon neulich, dass ich dieses kleine Etui nicht mehr auf meinem Tisch sehen will. Warum legen Sie es mir immer noch vor Augen?«

»Madame«, entgegnete die Kammerfrau aus der Fensternische, wo sie sich leise mit Herrn Santin unterhalten hatte, vortretend, »ich habe das neue Salz hineingefüllt, das gestern unter der Adresse des Grafen St. Brute anlangte.«

»Aber es ist schlecht!«, rief die Fürstin und griff nach dem goldenen Döschen. »Ich habe noch nie englisches Salz gefunden, welches dem gleichkam, das der gute Lord Lilburne mir selbst aus London mitbrachte, als er von der Krönungsfeierlichkeit kam. Der gute Lord, er hatte viel Eigenheiten, aber er war ein noble chevalier en tout!«

»Der Kammerdiener des Grafen versichert«, bemerkte Mademoiselle Betty, »dass dieses Salz dasselbe sei, dessen Lady Elfinstone sich bediene.«

»Prüfen Sie es einmal, liebe Blummers«, rief die Fürstin und hielt das Döschen Judith hin.

»Ma foi, sie kommt von dem Namen Blummers nicht los«, murmelte der Baron und sah mit einem unwilligen Blick auf die zerstreute Dame.

Judith gab das Döschen zurück und bemerkte, dies Salz sei allerdings nicht sehr scharf.

»Eh! Was habe ich gesagt?«, rief die Fürstin und schleuderte die Dose unter den Tisch. »Man bedient mich niemals mit der gehörigen Aufmerksamkeit!«

Betty verließ das Zimmer, doch nicht, ohne einen wütenden Blick auf Judith geworfen zu haben. Die Fürstin, um ihre üble Laune zu zerstreuen, ließ sich ein Päckchen Handschuhe geben, und zog unermüdlich ein Paar nach dem anderen an. In diesem Geschäft wurde sie mit einem boshaften, spottenden Blick ihres Neffen beobachtet. »Meine teure Tante«, fragte er endlich, »wie gefällt es Ihnen, dass wir morgen Mittag zu dem Herrn von Traubenstein eingeladen worden sind?«

»Was dich betrifft, François, so wirst du hingehen«, erwiderte sie. »Ich sehe nicht ein, warum du den guten Mann durch eine abschlägige Antwort kränken solltest?«

»Aber die Einladung betraf auch Sie.«

»Das ist zum Lachen. Man muss Herrn Tauberstein, oder wie er heißt, diese Unkenntnis der Welt zugutehalten. Ich meines Teils nehme so etwas nie übel. Wie will man fordern, dass der ehrliche Mann wissen soll, ich gehöre nicht in seinen Saal, sondern er in meinen Vorsaal.«

»Man sieht hier die Anmaßungen der Geldaristokratie.«

»O nein, man sieht hier nichts als Unschicklichkeit. Ich erwarte indessen, cher François, dass du hingehst und dich so gut wie möglich amüsierst. Ich finde das Leder dieser Handschuhe lange nicht so geschmeidig, als das der Letzteren, die mir Lord Lilburne aus Paris mitbrachte, und von denen er behauptete, es seien die kleinsten, die er in ganz Paris hätte finden können.«

»Ich werde Monsieur Lamms, unserem Lieferanten, eine Bemerkung machen lassen.«

»Tue das, mon cher! Mademoiselle Blummers, ich werde die Ehre haben, Sie um elf Uhr wieder bei mir zu sehen. Sie müssen sich an meine Lebensart gewöhnen. François, führe unseren teuren Gast in die Zimmer, die Herr Santin heute früh hat bereiten lassen. Adieu, meine Liebe. Adieu …«

Judith war froh, als sie sich allein und von allem Zwang befreit sah. Sie warf sich aufs Sofa, und in wechselnden Bildern gingen die Ereignisse dieser Tage an ihrem Geist vorüber. Die furchtbare Nachtszene mit ihren grellen Lichtern und Schatten strebte umsonst, sich mit dem kalten, gekünstelten und leeren Gemälden ihrer jetzigen Stunden zu vereinen.