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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Wolfmensch Zweiter Teil – Kapitel 2 – Teil 2

Elie Berthet
Der Wolfmensch
oder: Die Bestie des Gévaudan
Aus dem Französischen von A. Kretzschmar
Hartleben’s Verlags-Exedition. Pest, Wien und Leipzig, 1858.

Zweiter Teil
Kapitel 2 Teil 2

Der Pater Bonaventura seinerseits hatte seine Schritte zum Gemach gerichtet, wo man ihn erwartete. Dieses mit einem alten Möbel von gelbem unechten Samt – woher es seinen Namen hatte – versehene Zimmer diente als Rechnungsbüro. Es war mit Brettgestellen und auf diesen stehenden Registern mit kupfernen Schließhaken angefüllt, welche den mit Bezahlung ihrer Zinsen in Rückstand befindlichen Pächtern sehr wohl bekannt waren. Hier hielten sich gewöhnlich der Chevalier von Magnac und Schwester Magloire auf, welche sich die Verwaltung des Schlosses teilten, wenn ihr Dienst sie nicht in Fräulein von Barjacs Nähe rief.

Die Aufmerksamkeit des Priors richtete sich zunächst auf die Person, deren Besuch man ihm gemeldet hatte.

Fargeot, der Oberforsthüter, war ziemlich sechzig Jahre alt. Er war dick, untersetzt und seine Korpulenz schien die schöne, grüne Uniform mit vergoldetem Bandelier sprengen zu wollen, welche er heute angelegt hatte. Sein aufgedunsenes, rotfleckiges Gesicht verriet, dass er dem Trunk frönte. Dennoch aber verkündete sein graues Auge noch nicht den Stumpfsinn, welchen diese Leidenschaft endlich herbeiführt, sondern funkelte zuweilen vom Ausdruck der List und Schlauheit.

Ohne Rücksicht auf die Nonne, welche in der Hierarchie des Hauses einen weit höheren Rang einnahm als er, hatte Fargeot sich in einen Sessel geworfen, welcher unter seiner Last zusammenzubrechen drohte, und spielte nachlässig mit seinem Stock mit elfenbeinernem Knopf. Trotz der Ungezwungenheit seiner Manieren versuchte der Forsthüter beim Anblick des Priors sich auf seine Elefantenbeine zu erheben, sank aber schwerfällig wieder nieder. Ein zweiter Versuch derselben Art war ebenfalls nicht glücklicher.

Bonaventura lächelte und gab ihm durch einen Wink zu verstehen, dass er sich nicht weiter bemühen solle.

»Guten Tag, Fargeot, guten Tag!«, sagte er in freundschaftlichem Ton. »Ihr befindet Euch wohl, wenn ich mich nicht irre. Gott verzeihe mir, Ihr seid seit dem letzten Mal, wo ich Euch sah, noch dicker geworden, obwohl ich es nicht für möglich hielt.«

Er setzte sich dem Oberforsthüter gegenüber. Dieser verzichtete endlich auf seine verzweifelten Versuche, sich aufzurichten.

»Na, mein hochwürdiger Vater«, antwortete er mit heiserer Stimme, »da Ihr es erlaubt – in der Tat, ich bin nicht mehr recht flink auf den Beinen. Man hat gar so viel zu tun! Tag und Nacht muss man hinter den Wild- und Holzdieben herlaufen und die fortwährende Bewegung und Anstrengung macht den Körper oft stärker, als man selbst wünscht.«

»Ich hätte geglaubt«, sagte Schwester Magloire in etwas bitterem Ton, »dass der Müßiggang, aber nicht die Anstrengung ein solches Ergebnis herbeiführen könnte. Was Ihr auch sagen möget, Meister Fargeot, die Wild- und Holzdiebe halten Euch nicht vom Schlaf ab. Ihr sitzt fortwäh­rend in dem Wirtshaus zu Cransac und Eure arme Tochter Marion bleibt allein daheim. Selbst in diesem Augenblick scheint Ihr nicht mehr nüchtern zu sein. Der hochwürdige Pater muss dies ebenso gut bemerkt haben, wie ich. Ich überlasse es ihm, zu beurteilen, ob dies ein angemessenes Betragen für einen Oberforsthüter von Mercoire ist.«

Fargeot war in der Tat in das Wirtshaus eingekehrt, ehe er in das Schloss kam. Die Trunkenheit verhinderte ihn augenscheinlich ebenso sehr wie seine Korpulenz, sich auf den Beinen zu halten. Bonaventura aber hatte vielleicht seine Gründe, um den Fehler des Forsthüters nicht allzu lebhaft zu rügen und begnügte sich, nachsichtig mit dem Kopf zu schütteln.

Fargeot dagegen zeigte sich durch die Vorwürfe der Schwester sehr gereizt. Die rote Farbe seines Gesichtes war in dunklen Purpur übergegangen. Er atmete gewaltig, auf die Gefahr hin, durch die Erweiterung seiner umfangreichen Brust seine Staatsuniform zu zersprengen.

»Und was geht das Euch an, Nonne?«, fragte er mit seiner heiseren Stimme. »Was habt Ihr Euch um das Benehmen der Forsthüter zu kümmern? Ich habe von niemandem Befehle zu empfangen als von dem Fräulein, unserer Herrin, oder von dem hier gegenwärtigen hochwürdigen Pater. Was die anderen betrifft, mögen es Chevaliers oder Nonnen sein, so …«

»Ruhe!«, unterbrach ihn der Prior. »Wie, Fargeot, wollt Ihr denn den Respekt gegen die gute Schwester Magloire aus den Augen setzen? Und Ihr, meine Schwester, vergesst Ihr, dass man einem alten Diener wie Fargeot vieles zugutehalten muss?«

»Ach mein Gott!«, entgegnete Schwester Magloire in sanftem Ton. »Ich verzeihe alles, was Ihr wollt. Euer Hochwürden weiß recht wohl, wie man handeln muss. Und da Ihr mir unrecht gebt, so habe ich nichts weiter zu sagen. Indessen, wenn man die Herrschaft von einem Müßiggänger und Trunkenbold befreit hätte, welcher hier nur ein Gegenstand des öffentlichen Ärgernisses ist …«

»Na, na, Schwester Magloire! Zeigt doch ein wenig mehr Liebe und Nachsicht gegen Euren Nächsten.«

»Man will sich meiner entledigen!«, rief der dicke Fargeot, indem er sich in seinem Sessel wie ein Besessener gebärdete. »Habt Ihr das gehört, hochwürdiger Vater? Sagt ihr doch, dass man mich nicht auf diese Weise verabschiedet; dass ich noch lange auf dem Gebiet von Mercoire sein werde, nachdem sie selbst davon verjagt worden sein wird. Ja, ja, sagt ihr das, Pater Prior. Ich will, dass Ihr es ihr sagt!«

»Wie!«, rief der Prior, indem er ihm einen imposanten Blick zuwarf.

Der eingeschüchterte Forsthüter stammelte einige Entschuldigungen.

»Es ist gut«, hob Bonaventura wieder an. »Liebe Schwester, lasst mich einen Augenblick mit Meister Fargeot allein. Wie Ihr bemerkt haben werdet, ist er nicht in seiner gewöhnlichen Verfassung und dies muss bis zu einem gewissen Grad seine allerdings nicht ganz ziemlichen Worte entschuldigen. Ich werde aber mit ihm sprechen und ihm ohne Zweifel eine tiefe Reue über seinen Fehler einflößen.«

»Das gebe Gott, mein hochwürdiger Vater!«, entgegnete die Nonne in schmollendem Ton.

Sie verließ das Zimmer. Sobald sie hinaus war, erhob sich Pater Bonaventura, um die Tür von innen zu verriegeln. Dann begab er sich auf seinen Platz zurück und sagte in strengem Ton: »Was soll dieses Benehmen bedeuten, Meister Fargeot? Wie könnt Ihr wagen, auf diese Weise die Stimme zu erheben? Seid Ihr denn unverbesserlich? Kann das Alter nicht jene unedlen Laster überwinden, welche schon Euer Unglück und das Eurer Familie herbeigeführt haben? Das ist unrecht, Fargeot, sehr unrecht, und wenn Ihr Euch nicht bessert, so werde ich Euch meine Güte entziehen.«

Anfangs hatte der Forsthüter, als er diese verdienten Vorwürfe hörte, den Kopf gesenkt, die Drohungen aber äußerten einen ganz entgegengesetzten Eindruck auf ihn.

»Ihr wollt mir Eure Güte entziehen, hochwürdiger Herr?«, antwortete er, indem er spöttisch den Mund verzog. »Ohne Zweifel werdet Ihr es Euch zweimal überlegen, ehe Ihr gegen einen alten Bekannten mit Strenge verfahrt.«

»Darauf verlasst Euch nicht, Fargeot. Schon seit langer Zeit erheben sich zahlreiche Klagen gegen Euch, und wenn dies so fortdauert, so werde ich trotz der Erinnerung an Eure arme Frau, trotz meines Interesses für Eure arme Tochter, welche Ihr, wie ich weiß, sehr betrübt, Euch von dieser Herrschaft fortschicken und dann werdet Ihr wohl sehen, was aus Euch wird.«

»O, steht die Sache so, mein hochwürdiger Herr?«, entgegnete der Forsthüter. »Ihr müsst nicht so hart gegen einen Mann sein, welcher weiß, was ich weiß. Auch ich habe schon lange gewünscht, unter vier Augen mit Euch zu sprechen. Jedes Mal aber, wenn Ihr nach Mercoire kommt, sollte man darauf schwören, dass Ihr Euch vornehmt, Euch vor mir zu verbergen. Heute wenigstens aber wird dies nicht der Fall sein, und da ich Euch einmal habe, so sollt Ihr mir auch nicht entschlüpfen.«

»Ich sollte mich vor Euch verbergen? Ich sollte Euch entschlüpfen wollen? Guter Mann, haben denn die Dämpfe des Weines Euren Verstand so sehr umdunkelt, dass Ihr vergesst, wen Ihr vor Euch habt? Aber«, setzte der Mönch in ruhigerem Ton hinzu, »ich darf Euch nicht glauben lassen, dass der Prior von Frontenac Euch aus Furcht oder aus irgendeinem seiner unwürdigen Gefühle vermeide. Was habt Ihr mir zu sagen, Fargeot? Sprecht dreist – ich höre.«

Und er richtete sich majestätisch in die Höhe.

Der Forsthüter verriet trotz seiner bisherigen Dreistigkeit einige Befangenheit.

»Na, mein hochwürdiger Herr, erzürnen wir uns nicht«, sagte er endlich mit vertraulichem Lächeln. »Was verlange ich denn? Weiter nichts, als dass wir uns in Zukunft auch so verstehen wie in der Vergangenheit. Und wenn ich Euch nur ein wenig fügsam finde, so sollt Ihr niemals Euch über mich zu beklagen haben. Mit einem Wort, Ihr habt mir und den meinen stets Euren Schutz gewährt. Fahrt fort, gut gegen uns zu sein und ich werde nicht undankbar sein – das versichere ich Euch.«

»Aber, Fargeot, wie habt Ihr für Eure Person diesen Schutz verdient? Eure Pflichtwidrigkeiten sind mit den Jahren nur immer größer geworden, und wenn ich meiner gerechten Entrüstung gefolgt wäre, so hätte ich Euch den unvermeidlichen Folgen Eurer Laster überlassen. Aber Ihr standet seit langer Zeit in dem Dienst der Grafen von Varinas. Eure Frau Margarethe war die Amme des jungen Vicomte gewesen, welcher in frühem Alter auf so unglückliche Weise seinen Tod fand. Eure Tochter Marion war die Milchschwester dieses armen Knaben gewesen – aus allen diesen Gründen musste ein Freund der Familie der alten Herren versuchen, Euch der Not, dem Mangel zu entreißen. Deshalb machte ich es nach dem Tod Eurer Frau Euch möglich, Varinas, wo Euer schlechter Lebenswandel Euch die allgemeine Verachtung zugezogen hatte, zu verlassen und ich berief Euch in diese Gegend, um Euch zum Oderforsthüter von Mercoire zu machen. Ich hoffte, dass Ihr zurückgezogen in einem Häuschen mitten im Wald, fern von Euren Zechgenossen, unter der Herrschaft neuer Gebieter, die keine Rücksicht gegen Euch zu nehmen hatten, Euch eine andere Lebensweise angewöhnen und jede Gelegenheit fliehen würdet, wieder in Eure schlimmen Gewohnheiten zu verfallen. Stattdessen aber beharrt Ihr bei denselben. Trotz dieser ungeheuren Korpulenz, welche Ihr Eurer unheilbaren Faulheit verdankt, findet Ihr die Kraft, jeden Tag eine starke Meile zurückzulegen, um nach Cransac zu gehen und in dem dortigen Wirtshaus das ganze Geld zu vertun, welches Ihr einnehmt. Eure arme Tochter ist fortwährend allein in dem Waldhaus und oft fehlt es ihr, wie man mir gesagt hat, an dem Notwendigsten. Ich frage Euch aufs Gewissen, Fargeot, glaubt Ihr, dass irgendeine Rücksicht mich bestimmen könne, noch länger dergleichen Dinge zu dulden? Es gibt eine Grenze, über welche hinaus die Nachsicht zum Verbrechen wird.«

»Gut! Gut! Ihr werdet also auch ferner nachsichtig sein. Seid es, mein hochwürdiger Vater, ich rate es Euch in Eurem eigenen Interesse. Ich räume meine Fehler ein. Ich bin ein flotter Kumpan, welcher gern lacht und trinkt. Ich tauge nicht zu dem Handwerk eines Forsthüters und ich sterbe vor langer Weile in meinem Waldhaus, wo man niemanden sieht als Wölfe und wilde Schweine. Das kann nicht so fortgehen. Ihr werdet mir daher nicht eine anständige Aussteuer für meine Tochter Marion verweigern, welche sich allerdings nicht sehr glücklich bei mir fühlt. Ihr werdet mir eine Pension aussetzen, die ich verzehren kann, wo ich will, oder vielmehr, Ihr werdet mir ein für alle Mal eine Summe Geldes auszahlen, über die ich nach meinem Belieben verfügen kann. Dann sollt Ihr Euch gar nicht mehr um mein Schicksal zu bekümmern brauchen – das versichere ich Euch.«

»Sehr gut, Fargeot. Und mit welchem Recht, wenn ich fragen darf, verlangt Ihr dergleichen Begünstigungen?«

»Was ist natürlicher als dies! Ich bin, wie Ihr eben selbst sagtet, ein alter Diener von Varinas. Ist es nicht gerecht, dass die Erben dieser schönen Besitzung mich und die meinen jetzt, wo Alter und Kränklichkeit mich zum Arbeiten unfähig machen, gegen den Mangel schützen?«

Fargeot sagte dies in einem unverschämt ironischen Ton, welcher geradezu beleidigend war.

»Es steht mir nicht zu, Euer Verlangen zu gewähren oder zurückzuweisen. In meiner Eigenschaft als Mönch besitze ich kein Eigentum und es ist mir unmöglich, in einer Angelegenheit dieser Art ohne die Meinung des Kapitels von Frontenac, dessen unwürdiges Mitglied ich bin, einen Entschluss zu fassen.«

»Ach geht doch, hochwürdiger Herr!«, entgegnete der Forsthüter ungeduldig. »Weiß man vielleicht nicht, dass Ihr das Kapitel nach Eurem Belieben leitet? Trotzdem, dass Ihr gar nicht so tut, seid Ihr doch infolge Eurer Vormundschaften und Erbschaften jetzt in dieser Provinz beinahe ebenso mächtig wie der König. Ich sehe aber schon, wo Ihr hinaus wollt. Ihr gedenkt Zeit zu gewinnen, und dann werdet Ihr mir sagen, das Kapitel habe mein Gesuch verworfen. Auf diese Weise aber lasse ich mich nicht hinters Licht führen, das sage ich Euch im Voraus.«

»Ich habe nicht die Absicht, Zeit zu gewinnen, Fargeot, und um es Euch zu beweisen, will ich Euch sofort sagen, welche Meinung das Kapitel aussprechen wird, und welche Meinung ich selbst aussprechen werde. Es ist Folgende: Wenn Ihr Euch immer tadellos verhalten hättet, so würden die dermaligen Administratoren der Herrschaft Varinas vielleicht auf Eure bedrängte Lage Rücksicht genommen haben. Aber Geld, welches zu Almosen verwendet werden kann, an einen Faulenzer, einen Trunkenbold zu verschwenden, welcher ein schlechter Ehemann gewesen war, der noch ein schlechter Vater ist …«

Der Forsthüter sprang wütend in die Höhe. »Tausend Teufel!«, rief er, »treibt mich nicht aufs Äußerste! Ich kann alles sein, was Ihr da sagt, wenigstens aber habe ich keine Verbrechen begangen, wie gewisse fromme Personen, welche ich bald entlarven werde, wenn sie sich nicht nobler gegen mich zeigen. «

Der Pater Bonaventura konnte seine Unruhe nicht verbergen.

»Verbrechen«, wiederholte er erbleichend. »Habt Ihr denn ganz den Verstand verloren, Meister Fargeot?«

»Nicht im Geringsten, hochwürdiger Herr, und zum Beweis will ich Euch an eine gewisse kleine Geschichte erinnern, welche Ihr vergessen zu haben scheint. Nur«, setzte er hinzu, indem er sich mit unverschämtem Blick umsah, »nur bin ich ein sehr schlechter Erzähler, wenn ich nicht etwas halbe, um mir die Kehle anzufeuchten und mir das Aussprechen der Worte zu erleichtern. Gibt es denn hier nichts zu trinken?«

Der Prior rührte sich nicht.

»Na, es macht weiter nichts aus«, hob Fargeot, nachdem er einen Augenblick gewartet hatte, wieder an. »Wenn man mir keine Erfrischung gibt, solange ich sprechen werde, so bin ich überzeugt, dass mir nichts fehlen wird, wenn ich fertig sein werde. Hört mich also an.

»Ihr erinnert Euch, hochwürdiger Herr, der Umstände, von welchen der beklagenswerte Tod des unglücklichen kleinen Vicomte von Varinas vor sechzehn oder siebzehn Jahren begleitet war. Schon zu jener Zeit war sein Vater, der Graf von Varinas, unser Herr, von der Abzehrungskrankheit ergriffen, welcher er ein wenig später unterlag. Er war düster, schweigsam und mürrisch geworden. Er wollte seine Freunde und seine Verwandten nicht mehr zu nahe kommen lassen und zog sich endlich in Euer Haus nach Frontenac zurück, wo er, wenn man dem allgemeinen Gerücht glauben kann, sorgfältig gepflegt wurde. Der Graf hatte niemals einen sehr festen Charakter gehabt, und jetzt, wo er erschöpft und fast dem Tode nahe, und Tag und Nacht Euren Überredungen preisgegeben war, kostete es Euch nicht viel Mühe, Euch seines Gemütes vollständig zu bemächtigen. Auch versichert man, dass er schon bei Lebzeiten seines Sohnes über einen Teil seiner Güter zugunsten Eurer schon so reichen und mächtigen Abtei verfügt hatte. Dieser Teil schien Euch aber noch nicht genug zu sein, wie man später bemerkte …«

Hier stand der entrüstete Prior rasch auf und streckte den Arm aus, um gegen so plump und unverschämt ausgesprochene Behauptungen zu protestieren. Ohne Zweifel aber hielt ein Gedanke ihn zurück, denn er setzte sich sofort wieder und ließ, indem er mit verächtlicher Miene vor sich hinlächelte, den Arm wieder sinken.

Fargeot fuhr, ohne sich dadurch weiter beirren zu lassen, fort:

»Während der Graf in Frontenac wohnte und man von Tag zu Tag den tödlichen Ausgang seiner für unheilbar erklärten Krankheit erwartete, war sein einziger Sohn, der kleine Vicomte von Varinas, unter der Obhut seiner Amme, meiner Frau Margarethe, auf dem Schloss geblieben. Der Knabe besaß eine schwächliche und kränkliche Leibesbeschaffenheit wie sein Vater. Obwohl er damals schon über drei Jahre zählte, so schien er doch seinem Aussehen nach kaum halb so alt zu sein. Meine Frau, welcher die selige Gräfin dieses unschuldige Geschöpf anvertraut hatte, verließ es weder Tag noch Nacht. Sie war ganz vernarrt in ihren Pflegling, welcher schon ihren Namen zu stammeln und ihr in den Gängen des Gartens taumelnd nachzulaufen begann. Dennoch aber wurde einmal ihre Wachsamkeit getäuscht, und diese Nachlässigkeit, über welche sie sich beinahe die Augen ausgeweint, hatte sehr traurige Folgen. Margarethe hat dieses Unglück in meiner Gegenwart so oft erzählt, dass ich es, obwohl ich damals nicht auf dem Schloss war, wo man mich übrigens auch nicht gern sah, meinerseits mit den ausführlichsten Nebenumständen wieder erzählen kann.

Es war an einem Sommerabend bei drückender Hitze gegen das Ende des Tages. Meine Frau hatte Babett, der Kinderwärterin, erlaubt, in das Dorf hinunterzugehen, um ihre Familie zu besuchen. Sie war daher allein mit dem jungen Vicomte in dem Gärtchen, welches sich hinter der großen Terrasse des Gemüsegartens befindet. Ihr kennt, hochwürdiger Herr, die Lage und Örtlichkeit des Schlosses Varinas ebenso gut wie ich. Es ist auf einem ziemlich ebenen Plateau erbaut, welches auf der einen Seite schroff durch eine Kluft abgeschnitten wird, in welche ein Strom hinabstürzt. Diese Kluft, von furchtbarer Tiefe, von Basaltspitzen starrend, begrenzt den Garten, und einer der früheren Gutsherren hat an dem Rand eine Brustwehr erbauen lassen, über welche man sich neigt, um das Sieden und Wallen des Wassers zu sehen. Es ist dies ein Anblick, dem man sich nicht hingeben darf, wenn man zufällig ein Glas zu viel getrunken hat oder wenn man leicht schwindlig wird, denn das Getöse des Wasserfalles, die Schaumstrudel, die Felsennadeln, welche aussehen, als bewegten sie sich und tanzten in dem feuchten Dunst, machen endlich den Kopf ganz drehend. Deshalb habe ich auch, nüchtern oder nicht, diesen Ort immer gemieden wie die Pest. An dem Tag also, von welchem wir sprechen, hatte Margarethe dieses Gärtchen zur Erholung für den Knaben gewählt, denn sie hoffte, dass an diesem glühend heißen Abend der benachbarte Wasserfall ihm ein wenig Frische und Abkühlung gewähren würde. Übrigens schien kein Unfall zu fürchten zu sein. Der Boden war überall sorgfältig mit Sand bestreut oder mit Rasen und Blumen bedeckt. Die Brustwehr, welche sich längs des Abgrundes hinzog, war in gutem Zustand und zu hoch, als dass ein zartes und kaum gehen könnendes Kind hätte hinaufklettern können. Übrigens ließ auch Margarethe, die auf einer steinernen Bank saß, ihren jungen Herrn nicht aus den Augen, während dieser mit einem weißen Röckchen bekleidet, zu seinem Vergnügen in dem Gras nach Johanniswürmchen umhersprang.

Plötzlich befand sich ein Mann, nach Art der Leute des Landes gekleidet, der aber nicht zu dem Dienstpersonal des Schlosses gehörte, und den Margarethe noch niemals gesehen hatte, in dem Garten neben ihr und sagte zu ihr in eigentümlichem Ton: ›Amme, Eure kleine Marion ist unten im Hof gefallen. Ich hörte im Vorübergehen ihr Geschrei. Geht und seht, was ihr zugestoßen ist.‹

Darauf entfernte sich dieser Mann mit raschem Schritt und verschwand in dem Abendnebel.

Margarethe war in großer Verlegenheit. Sie wollte den Knaben auf den Arm nehmen und mit forttragen. Der kleine Vicomte aber erhob, als er sich seinem Lieblingsspiel entrissen sah, ein durchbohrendes Geschrei. Die Amme setzte ihn aufs Gras und er schwieg sofort. Was sollte sie tun? Man ist vor allem Mutter. Margarethe bedachte, dass sie nur einige Minuten abwesend sein, dass ihr mit den Johanniswürmchen beschäftigter junger Herr sich nicht von der Stelle rühren würde. Und übrigens, welche Gefahr stand auf dieser wohl verschlossenen Terrasse zu fürchten? Sie widerstand daher ihrer mütterlichen Unruhe nicht länger und lenkte ihre Schritte zu dem Teil des Schlosses, wo, wie man ihr gesagt hatte, ihre eigene Tochter zu Schaden gekommen war.

Als sie ganz außer Atem im Hof ankam, sah sie, dass Marion ruhig mit den Kindern der Wärterin am Graben spielte. Marion hatte durchaus keinen Schaden genommen. Die Amme nahm sich kaum Zeit, ihre Tochter zu umarmen. Was bedeutete daher die geheimnisvolle Mitteilung, die sie empfangen hatte, und was war der Zweck derselben? Ernsthaft erschreckt, ohne noch zu wissen, warum, kehrte sie in aller Eile zu dem kleinen Vicomte zurück.

Es war jetzt beinahe Nacht. Als Margarethe in den Garten trat, glaubte sie einen schwachen Schrei zu vernehmen, welcher vom anderen Ende herkam. Sie verdoppelte ihre Schritte und rief aus allen Kräften, aber erhielt keine Antwort. Sie lief zum Rasenplatz, wo der Knabe sein sollte, und wo die weiße Farbe seines Kleides ihn von Weitem verraten musste. Der Knabe war nicht mehr da. Beinahe wahnsinnig vor Schrecken durcheilte Margarethe die Terrasse unter fortwährendem Rufen, aber sie entdeckte keine Spur von dem geliebten Kleinen. Dicht am Fuß der Brustwehr aber, welche die Kluft einfasste, hob sie den Hut auf, welchen der Sohn ihres Herrn noch einen Augenblick vorher getragen hatte.

Nun nicht mehr zweifelnd, dass ein Unglück geschehen war, stieß die arme Frau einen durchbohrenden Schrei aus und sank nieder. So blieb sie ohnmächtig auf dem Sand liegen, bis die durch ihre Abwesenheit beunruhigten Diener ihr zu Hilfe eilten.

Ihr wisst ebenso gut wie ich, hochwürdiger Herr, was darauf folgte. Die Gerichtsbehörde begab sich in das Schloss. Man befragte jedermann, man stellte Nachforschungen an. Endlich, drei Tage nach dem Ereignis, fand man in dem Wasserfall einen kleinen verstümmelten und entstellten Körper, so sehr war er an den Felsen zerschellt. An seinen weißen Kleidern erkannte man den jungen Vicomte von Varinas. Es wurde ermittelt, dass der unglückliche Knabe sich törichterweise während der kurzen Abwesenheit der Amme in den Abgrund hinabgestürzt hatte.

Zwei Monate darauf starb der Graf, indem er den Abt von Frontenac zum Erben aller seiner Güter einsetzte.«

Während des Anhörens dieser Erzählung hatte der Prior keine Spur von Gemütsbewegung verraten. Es dauerte nicht lange, so hob er mit vollkommener Ruhe an: »Aber, mein Freund, wo wollt Ihr denn mit dieser alten Geschichte hinaus, welche der ganzen Umgegend bekannt ist und die ich besser kennen muss als irgendjemand? Dennoch hat man Eure Frau wegen ihrer strafbaren Nachlässigkeit nicht allzu streng zur Rechenschaft gezogen. Weit entfernt hiervon hatten wir Mitleid mit ihrem Schmerz, mit ihrer Reue. Sie, Ihr und Eure Tochter Marion, Ihr alle seid mit unseren Wohltaten überhäuft worden.«

»Na, vielleicht brauchen wir Euch für dieselben nicht allzu viel Dank zu wissen, hochwürdiger Herr, denn es ist leicht möglich, dass Ihr Eure sehr guten Gründe dazu hattet. In der ersten Zeit wagte niemand zu sagen, was er von diesem außerordentlichen Ereignis dachte. Margarethe selbst – sei es nun, dass der Kummer ihr Gemüt beunruhigte, sei es, dass sie mächtige Feindschaften fürchtete – schwieg wie die anderen. Sie vertraute ihre Zweifel in Bezug auf den Tod ihres jungen Herrn niemanden an oder wenigstens erhielt ich zu jener Zeit keine Kenntnis davon. Erst später und infolge von Aufschlüssen, welche der Gerichtsbehörde unbekannt waren, wagte sie sich zu erklären, und ehe sie starb, konnte sie nicht dem Antrieb ihres Gewissens widerstehen, welches ihr befahl, die Wahrheit zu offenbaren.«

»Was sagt Ihr, Fargeot?«, fragte der Priester zusammenzuckend. »Was sprecht Ihr von Mitteilungen, welche Eure Frau in den letzten Augenblicken gemacht haben soll? Hättet Ihr mir einen so wichtigen Umstand bis auf den heutigen Tag verschwiegen?«

»Ihr würdet ihn schon wissen, hochwürdiger Herr, wenn ich, seitdem ich mich in Mercoire niedergelassen habe, mich Euch ungehindert hätte nähern können wie heute. Ihr hieltet mich aber stets entfernt, und ich konnte nur in Gegenwart von fremden Personen mit Euch sprechen. Dennoch aber werdet Ihr Euch erinnern, dass ich oft gewisse Anspielungen in Eurer Gegenwart gemacht habe und dass, wenn ich mich nicht irre, diese Anspielungen Euch nicht gleichgültig ließen. Wenn ich werde zu Ende gesprochen haben, guter Vater Prior, werdet Ihr auch sehen, dass Ihr bei dieser schlimmen Geschichte ganz speziell beteiligt seid.«

»Ich, Meister Fargeot?«, sagte der Prior, indem er zu lächeln versuchte.

»Geduld! Ihr werdet sogleich nicht mehr lachen, mein hochwürdiger Herr. Erlaubt mir auszureden. Als Margarethe wieder ruhig genug geworden war, um über das unheilvolle Ereignis reiflich nachzudenken, ward sie für ihre Person überzeugt, dass es das Ergebnis eines Verbrechens sei. Hundertmal habe ich sie behaupten hören, dass während ihrer kurzen Abwesenheit der Kleine nicht Zeit genug gehabt habe, um die Brustwehr der Schlucht zu erreichen und dass diese Brustwehr übrigens auch viel zu hoch war, als dass ein so kleiner Knabe imstande gewesen wäre, sie zu erklettern. Sie hegte daher keinen Zweifel, dass ein abscheulicher Mord von jenem Unbekannten begangen worden war, welcher ihr eine erlogene Nachricht offenbar in der Absicht gebracht hatte, sie zu entfernen. Was diesen Mann betraf, so konnte sie über ihn keinen Aufschluss geben. Die Dunkelheit und der breitkrempige Hut, welchen er trug, hatten ihr nicht gestattet, sein Gesicht zu sehen, und beim Reden hatte es geschienen, als verstellte er seine Stimme.

Alles dies war ziemlich unbestimmt, und Margarethes Überzeugung stützte sich bloß auf Mutmaßungen, als dieselbe durch eine unerwartete Entdeckung bestätigt ward.

In jener Zeit bewirtschaftete ich eine zu der Herrschaft Varinas gehörende Meierei und mein Knecht war ein Gebirgs­bewohner von Mézenc, den wir später wegen seiner Rohheit wieder fortschicken mussten. Er hieß Jeannot. Er war eine Art ungeleckter Bär, der mir selbst Furcht einflößte und den nur Margarethe durch ihre Sanftmut und Geduld in gewissen Augenblicken zu zähmen verstand.

Eines Tages, lange nach jenem Unglücksfall, gestand Jeannot, als er die arme Margarethe immer noch den Verlust des ihrer Obhut anvertrauten unglücklichen Knaben beweinen sah, ihr gar seltsame Dinge. An demselben Abend, wo der junge Vicomte ums Leben gekommen war, hatte er, Jeannot, sich auf dem Rückweg vom Feld in dem Hohlweg befunden, welcher zu der kleinen Tür des Schlosses führte. Ermüdet von den Arbeiten des Tages hatte er sich hinter ein Gebüsch gelegt, um ein wenig zu verschnaufen, als er zwei Personen hörte, welche mit raschen Schritten auf dem Hohlweg unter ihm daher kamen und mit gedämpfter Stimme miteinander sprachen. Der eine von ihnen trug einen großen Bauernhut, wie der Mann, welchen Margarethe im Garten gesehen hatte, und war auch überdies vollständig in einen Mantel gehüllt.

Sein Begleiter trug so ziemlich dieselbe Tracht, aber dennoch erkannte ihn mein Knecht. Es war ein Mönch von Frontenac, der damals häufig nach Varinas kam, und den ich Euch nicht erst zu nennen brauche, hochwürdiger Herr.«

Der Prior wurde bleich. »Wollt Ihr damit sagen«, hob er an, »dass man mich, den Prior von Frontenac, erkannt habe?«

»Ihr ward damals noch Mönch, hochwürdiger Herr, mein Knecht aber hatte Euch mehrmals auf dem Schloss gesehen und er irrte sich nicht. Als Ihr an dem Gebüsch vorüberkamt, hinter welchem er lag, hörte er deutlich den anderen, welcher zu Euch sagte: ›Ja, ja, das Kind muss verschwinden, das ist das Sicherste!‹ Jeannot, dessen Gedanken sehr schwerfällig waren, verstand anfangs nicht die schwere Bedeutung dieser Worte. Er rührte sich nicht von seinem Platz und ich vermute, dass er auf demselben einschlief. Bald aber wurde seine Aufmerksamkeit durch ein neues Geräusch von Tritten im Hohlweg erweckt. Ihr ward es, der mit dem Mann in dem großen Hut zurückkam. Ihr seid beide sehr rasch gegangen und habt nicht mehr gesprochen. Er versuchte abermals, Euch genau anzusehen, aber die Nacht war mittlerweile eingebrochen und jede Beobachtung ward unmöglich. Dennoch aber erhob sich Jeannot, von der gewöhnlichen Neugier der Landleute getrieben, und tat einige Schritte, um zu sehen, wo Ihr hinginget. Ihr und Euer Begleiter hattet Euch eben am Fuß des Hügels zu einer dritten Person gesellt, welche Euch mit Pferden erwartete. Ihr beeiltet Euch beide, in den Sattel zu kommen, und nach Verlauf einiger Minuten verlor man Euch in der Finsternis aus den Augen. Das ist es, was mein Knecht Jeannot erzählt hat, Vater Prior, und ganz gewiss liegt hierin nichts, was von Eurer Frömmigkeit einen großen Begriff geben könnte.«

Bonaventura schien von Bestürzung und Schrecken betroffen zu sein. Nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte, um die Größe der Gefahr zu ermessen, hob er, indem er das Zittern seiner Stimme zu verhehlen versuchte, wieder an: »Und dieser Knecht, dieser Jeannot, welcher so wunderbare, so unglaubliche Dinge erzählt, existiert er noch? Ihr sagtet, glaube ich, soeben, Ihr hättet ihn von Eurer Meierei wieder fortschicken müssen.«

»Ja, wir schickten ihn endlich fort und mehrere Jahre lang hörten wir nichts wieder von ihm. Ich habe ihn aber in hiesiger Gegend wieder getroffen und sehe ihn sehr häufig in meinem Waldhaus. Unglücklicherweise, wenn ich es gestehen muss, hat dieser arme Jeannot gänzlich den Verstand verloren.«

»Er ist also wahnsinnig?«, rief der Prior. »Und auf das Zeugnis eines Wahnsinnigen hin wagt Ihr die Ehre einer angesehenen und hoch geachteten Bruderschaft anzugreifen?«

»Aber Jeannot hatte noch seinen Verstand, als er von seiner Begegnung mit Euch sprach, und Margarethe, welche eine sehr unterrichtete Frau und im Schreiben und in der Orthografie sehr bewandert war, kam auf den Gedanken, die ganze Geschichte auf einen Bogen Papier niederzuschreiben, den sie selbst unterzeichnet hat. Während der Krankheit, an welcher sie starb, wollte sie dieses Papier zerreißen. Ich aber, der ich wohl wusste, um was es sich handelte, bemächtigte mich desselben und werde es nur mit gutem Vorbedacht herausgeben.«

Gleichzeitig zeigte Fargeot eine schmierige Brieftasche vor, welche er sofort wieder in die Tasche seiner Uniform hineinschob.

»Jetzt«, fuhr fort, »werdet Ihr anfangen zu begreifen, hochwürdiger Herr, um was es sich handelt. Die Erklärung meiner Frau, meine Aussage und ganz besonders die meines ehemaligen Knechtes Jeannot, obwohl man in diesem Augenblick nicht viel von dem armen Teufel wird erfahren können, werden der Gerichtsbehörde ganz gewiss einen Floh ins Ohr setzen. Man versichert schon, dass die gegenwärtige Zeit den Mönchen nicht günstig sei und meiner Treu, wenn wir nicht gute Freunde bleiben, so wird man vielleicht in Frontenac sonderbare Dinge erleben!«

Und der Forsthüter begann ein boshaftes Gelächter aufzuschlagen.

»Und ist dies alles, Meister Fargeot?«, fragte der Prior. »Habt Ihr noch eine andere Anklage gegen mich und das heilige Haus zu erheben, dessen Profess ich bin?«

»Aber, hochwürdiger Herr, scheint Euch denn nicht schon diese hinreichend zu sein?«

»Wie, und glaubt Ihr, dass Ihr auf die Mutmaßungen einer Frau, welche ohne Zweifel ihre Unklugheit zu entschuldigen wünschte, auf die Aussage eines wahnsinnigen Knechtes hin, glaubt Ihr, sage ich, dass Ihr, der Müßiggänger, der Trunkenbold, der Schwelger, von welchem man so viel spricht, Euren abscheulichen Anklagen gegen so viele wegen ihrer Tugenden und ihrer Frömmigkeit berühmte Männer Geltung verschaffen könntet?«

»Ja, daran habe ich auch gedacht, hochwürdiger Herr. Ihr besitzt Ansehen und Reichtum und Ihr könntet mir leicht einen schlimmen Streich spielen, um mir Stillschweigen aufzuerlegen. Deshalb gedenke ich auch in dem Fall, dass wir uns doch noch veruneinigen sollten, mich an einen Mann zu wenden, welcher, wie ich gewiss weiß, Euch wacker die Spitze bieten wird.«

»Und an wen denn, Meister Fargeot?«

»Nun, pardieu, an Herrn von Laroche-Boisseau, der sich gerade in diesem Augenblick in Mercoire befindet. Er ist der nächste Verwandte des Grafen von Varinas, dessen große Besitzungen er geerbt haben würde, wenn Ihr ihm nicht in die Quere gekommen wäret. Sein Vater hat schon einen Prozess gegen Eure Abtei geführt und er selbst ist nicht von den besten Gesinnungen gegen Euch beseelt. Er gehört der protestantischen Religion an, wie die früheren Herren von Varinas, und wird durchaus keinen Grund haben, schonend gegen Mönche zu verfahren. Ich brauche ihm bloß ein Wort von Margarethes Bekenntnis und von Jeannots Aussage mitzuteilen, und er wird einige Hundert Pistolen nicht ansehen, um einen armen Mann zu belohnen, der ihm solche Beweise bringt. Ihn aber zum Schweigen zu bringen, dürfte nicht so leicht sein, denn er ist einer der Barone des Großen Rates, und er fürchtet weder Gott noch Teufel. Er wird Euch ein Lied singen, wie Ihr auf dem Chor Eurer Kirche noch niemals eines gehört habt. Ha! Ha! Mein hochwürdiger Herr, ich glaube, die Sache beginnt Euch doch ein wenig ärgerlich zu werden.«

In der Tat schien der Name Laroche-Boisseau die Unruhe des Priesters aufs Höchste zu steigern. Nichtsdestoweniger aber hob er, nachdem er sich ein wenig gesammelt hatte, mit einem Gemisch von Wehmut und Würde wieder an: »Nun weiß ich endlich, worauf Ihr abzielt, Fargeot, Ihr wollet auf den Skandal spekulieren, und in der Tat kann Euch in dieser bösen Absicht niemand besser beistehen als der Baron von Laroche-Boisseau. Indessen glaubt Ihr auch vielleicht aufrichtig, dass Ihr, indem Ihr uns angreift, einer Forderung der Gerechtigkeit genügt. Deshalb versichere ich Euch mit dem heiligsten und teuersten Schwur, dass weder ich noch einer der Väter von Frontenac an der Ermordung jenes armen Kleinen teilgenommen hat. Man ist durch den falschen Schein, durch ein Zusammentreffen von verhängnisvollen Umständen getäuscht worden, und ganz gewiss wird ein Tag kommen, wo unsere Unschuld heller leuchten wird als die Sonne.

Ihr habt dann keine Entschuldigung, wenn Ihr auf Euren boshaften Behauptungen besteht, und Ihr ladet die Strafe auf Euch, welche in dem Evangelium angedroht ist, welches da sagt: Wehe dem Menschen, durch welchen Ärgernis kommt!«

Fargeot blinzelte mit den Augen. »Mein Gott, hochwürdiger Herr«, hob er wieder an, »ich bin durchaus nicht so unfügsam, wie Ihr zu glauben scheint. Ich bin vollkommen bereit, Euch und die anderen Mönche für unschuldig zu halten. Ich verlange nichts Besseres, als Euch Margarethes Papier auszuhändigen, damit Ihr es verbrennen könnt, wenn Ihr Lust habt. Ich verspreche, Jeannot den Mund zu verschließen, und auch für meine Person über diese schlimme Angelegenheit stumm zu werden wie ein Fisch. Aber Ihr versteht mich doch, Pater Prior? Ihr müsst mir dafür was geben. Was den Teufel! Die Mönche von Frontenac, die so reich sind, die so viele Wälder, Wiesen, Teiche, Meiereien und Schlösser besitzen, können schon einige Tausend Livres herausrücken, um meine Tochter auszusteuern und mir selbst auf meine alten Tage ein ruhiges, sorgenfreies Leben zu sichern. Man muss auch gewissenhaft sein, und in der Tat, wenn ich den Schaden bedenke, den meine Enthüllungen Euch verursachen würden, finde ich meine Bedingungen nicht so hart.«

Der Prior schien in große Versuchung zu geraten. Er besaß genug Weltklugheit, um zu begreifen, dass das beste Mittel, den Skandal zu vermeiden, womit man ihn bedrohte, darin bestünde, Fargeots Forderung zu erfüllen und durch eine elende Summe Geldes die verleumderischen Beschuldigungen zu ersticken, welche gegen ihn und seine Bruderschaft sich zu erheben drohte. Ganz besonders zitterte er, wenn er an den Nutzen dachte, den der Baron von Laroche-Boisseau, dieser Todfeind der Abtei, daraus ziehen könnte.

Dennoch aber gewannen andere Rücksichten in seinem Gemüt die Oberhand. Nachdem er einige Mal im Zimmer hin- und hergegangen war, nahm er wieder seinen Platz dem Forsthüter gegenüber ein, der, als er ihn zögern sah, schon ein triumphierendes Lächeln blicken ließ.

»Was auch geschehen möge«, sagte der Prior tapfer, »so werde ich weder für mich noch für das heilige Haus, welches ich repräsentiere, diesen abscheulichen Handel eingehen. Ich will nicht der Verleumdung, der Habgier, der Lüge eine Belohnung gewähren. Fargeot, die Wohltaten, womit Ihr und die Eurigen seit dem Tod des Grafen von Varinas überhäuft worden seid, hatten, wie ich Euch nochmals sage, keinen anderen Grund als eure Eigenschaft als alter Diener der Familie. Zum Beweis weigere ich mich unbedingt, Euch zu gewähren, was Ihr auf so insolente Weise verlangt. Macht von der in Euren Händen befindlichen Schrift und von den Aussagen, die Ihr gesammelt habt, Gebrauch, der Euch gutdünkt. Weder der Prior noch die Väter von Frontenac werden sich jemals so weit erniedrigen, euer Schweigen zu erkaufen.«

Der Forsthüter war weit entfernt, auf diese Weigerung gefasst zu sein. Ein lebhafter Ärger verriet sich auf seinem Gesicht.

»Na, Vater Prior«, hob er wieder an, »das kann doch nicht Euer letztes Wort sein. Es handelt sich für Euch hier noch um etwas anderes als um den Besitz der Güter von Varinas. Allerdings habe ich noch nicht gehört, dass man jemals Mönche gehängt hätte, ausgenommen vielleicht zur Zeit der Kamisarden. Indessen glaube ich, Ihr werdet Euch die Sache nochmals überlegen.«

»Ich habe mir nichts zu überlegen. Ich mache mir Vorwürfe, dass ich Euch so lange angehört, dass ich Beleidigungen erduldet habe, welche der geheiligte Charakter, mit welchem ich bekleidet bin, mir befahl, sofort zurückzuweisen. Entfernt Euch daher. Entfernt Euch augenblicklich aus meiner Gegenwart und kommt mir nie wieder unter die Augen.«

Der Prior erteilte diesen Befehl mit solcher Energie, dass Fargeot trotz seiner Korpulenz sich diesmal ohne Anstrengung erhob.

»Es ist gut, hochwürdiger Herr«, stammelte er, »ich gehe – aber Ihr werdet es bereuen, mich auf diese Weise misshandelt zu haben. Ich gehe, Herrn von Laroche-Boisseau aufzusuchen.«

Bonaventura kehrte ihm den Rücken. Der Forsthüter machte Miene, das Zimmer zu verlassen. Als er aber in der Nähe der Tür angelangt war, drehte er sich rasch wieder zu dem Prior herum und hob in beinahe bittendem Ton wieder an: »Na, hochwürdiger Herr, ich habe vielleicht Unrecht daran getan, so ohne Schonung mit Euch zu sprechen. Aber was wollt Ihr sagen? Man hat mich niemals in feinen Manieren unterrichtet und ich sage alles gerade heraus, wie es mir einfällt. Dennoch aber sollte es mir leidtun, mich mit Euch zu veruneinigen. Sollte es wirklich kein Mittel geben, sich zu verständigen? Ich weiß wohl, dass Ihr mich nicht liebt und ich muss auch zugeben, dass ich nicht viel wert bin. Wenn Ihr aber nichts für mich gewähren wollt, so verweigert mir wenigstens nicht, was ich für meine Tochter Marion verlange. Seht, ich will Euch ganz reinen Wein einschenken. Meine arme Tochter fühlt sich, wie man schon gesagt hat, bei mir nicht glücklich. Sie langweilt sich fürchterlich in dem einsamen Waldhaus, wo man niemals einen Menschen sieht und wo ich sie vielleicht öfter allein lasse als recht ist. Um das Unglück vollzumachen, hat sie sich in den Sohn Jean Godarts verliebt – einen hübschen, wackeren jungen Burschen, der ein sehr guter Arbeiter ist und ein sehr guter Ehemann sein würde. Jean Godart aber hat sich einiges gespart und wird seinen Sohn niemals eine Frau heiraten lassen, die nichts hat. Marion weiß dies recht wohl und weint im Stillen unaufhörlich. Das kränkt mich. Ich bin zuweilen schlimm und roh, aber dennoch liebe ich diese arme Kleine und möchte sie gern glücklich machen. Deshalb bin ich auf den Einfall gekommen, dieses alte Papier zu benutzen, um Marion zu einer weniger traurigen Lage zu verhelfen. Im Grunde genommen daher, hochwürdiger Herr, denkt weiter nicht an mich. Ich verdiene vielleicht auch Eure Wohltat nicht, aber versprecht mir, dass Ihr Marion eine Aussteuer von fünfhundert Talern geben wollt, damit sie Jean Godarts Sohn heiraten kann, und ich zerreiße Margarethes Papier sofort vor Euren Augen.«

Diese neue Sprache schien geeignet, den Entschluss des Priors zu ändern. Es war nicht mehr der unedle Spekulant, sondern der Vater, welcher sprach, und man konnte ohne Gefahr für die Würde und Moral etwas gewähren.

Dennoch aber war Bonaventura dieser Meinung nicht.

»Das Schicksal dieses unschuldigen Mädchens rührt mich«, sagte er in strengem Ton, »aber ich kann mich nicht zu einem Abkommen verstehen, welches abermals das Ansehen eines Handels haben würde. Über meine wohlwollenden Gesinnungen in Bezug auf Eure Tochter will ich mich nicht weiter aussprechen. Nur merkt wohl, dass ich kein bindendes Versprechen gebe und dass ich mir keine Bedingungen vorschreiben lasse.«

Fargeot verstand nicht, welches geheime Versprechen hinter dieser anscheinenden Unbeugsamkeit stecken konnte, und hob daher in zornigem Ton wieder an: »Gut! Gut! Bei allen Teufeln, ich werde mich rächen! Herr von Laroche-Boisseau wird Euch schon zur Raison bringen. Ich wollte Euch schonen. Ich bat bloß für meine so gute unglückliche Tochter. Ihr aber habt kein Erbarmen. Wohlan. Ihr sollt mich kennen lernen!«

»Ich mag nichts weiter hören! Entfernt Euch!«

»Wir werden ja sehen, ob Ihr nicht andere Saiten aufzieht, wenn alle Welt erfährt, dass …«

»Schweigt – und entfernt Euch, sage ich. Soll ich vielleicht rufen? Es fehlt hier nicht an Leuten, die Euch verabscheuen und die mich von Euren Zudringlichkeiten gern befreien werden.«

Fargeot entfernte sich murrend und mit Wut im Herzen.

Als Bonaventura allein war, bewahrte er nicht die Ruhe und Festigkeit, die er soeben gezeigt hatte. Das Haupt auf die Brust senkend, versank er in düsteres Hinbrüten.

»Ich habe getan, was ich tun musste«, murmelte er endlich mit einem Seufzer, indem er sich wieder aufrichtete. »Aber welches Unglück und welche Schmach sehe ich voraus, wenn dieser Mensch seine Drohungen bald verwirklicht!«