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Diane Teil 1 – Kapitel 9

Alexander von Ungern-Sternberg
Diane
Ein Kriminalgemälde der modernen Gesellschaft
Berlin, 1842, Buchhandlung des Berliner Lesekabinetts

Neuntes Kapitel

Ein Nachtstück

Ermüdet ließ sich endlich die nächtliche Wandlerin auf einen bemoosten Stein am Ufer des Sees nieder. In Träumereien versinkend, entschwand ihr die gegenwärtige Welt, und eine phantastische stieg empor, als plötzlich der Hufschlag nahender Pferde die Schwärmende aufschreckte. In ihrem weißen Gewand wäre sie unfehlbar bemerkt worden, wenn sie sich nicht tiefer ins Dickicht zurückgezogen und den nächtlichen Reitern, die dicht an ihr vorüberzogen, gleichsam Platz gemacht hätte. Die Erscheinung dieser zwei Gestalten mitten in der Nacht und an diesem unbewohnten Ort hatte für die Neugier etwas zu Erregendes, als dass Judiths Verlangen nicht aufs Höchste hätte gespannt werden müssen, zu erraten, wer sie seien und was sie wollten. Sie ritten, wie die alten Gestalten der Sage, in ihre Mäntel vermummt, stillschweigend hinauf und verloren sich hinter dem altertümlichen Erkervorsprung des Hauses. Eine kleine Weile verging, und es blieb alles still. Bald darauf bemerkte Judith ein schwaches Licht in einem der oberen Gemächer. Sie verließ ihr Versteck und begab sich in ihre Wohnung. Hier angelangt, hörte sie unruhige Tritte eines Mannes über sich, der in schweren Stiefeln auf und ab schritt. Das Abenteuer reizte sie immer mehr. Wer waren diese nächtlichen Besucher? Was wollten sie hier? Die Tür zum Gang war verschlossen, konnte aber von innen geöffnet werden. Judith schlüpfte durch dieselbe und betrat, anfangs scheu, doch immer mutiger die enge, gewundene Treppe, die in das obere Stockwerk führte. Es war hier völlig dunkel, und die vorspringenden Ecken eines besonders gebauten kleinen Vorsaals erschwerten das Vordringen, aber unsere Entdeckerin war frühzeitig geübt worden, sich in finsteren Räumen zurechtzufinden. Stillstehend, lauschend, dann leise vorwärts tastend, gelangte sie an die Tür des Saals, in dem sich die beiden Fremden befanden. Eine ziemlich breite Spalte ließ einen Lichtstrahl in das dunkle Gemach dringen. Judith glaubte, sich in demselben allein zu befinden, aber eine plötzlich ertönende raue Stimme belehrte sie eines anderen.

Dicht neben ihr ertönte die Frage: »Wer da?«

Der Schreck des armen Mädchens war grenzenlos. Leicht und gewandt, mit unhörbarer Bewegung schlüpfte sie hinter die vorspringende Wand des Kamins und drückte sich nieder. Der Rufende erhob sich von einem Stuhl, ging in den Saal. Es war vorauszusehen, dass er mit einem Licht wieder herauskommen würde. Sein Eintreten durfte nicht abgewartet werden, und die Fliehende erreichte in dem Moment die Treppe, als der Lichtstrahl das obere Zimmer erhellte, die unteren Räume aber in tiefem Schatten ließ. Hier lauschend konnte sie die Stimmen der oben Sprechenden vernehmen.

»Was gibt’s da, Werner?«, fragte der Mann im Saal.

»Euer Gnaden müssen verzeihen«, ertönte die Antwort, »allein ich könnte schwören, dass ich das Gespenst gesehen habe, das hier umgehen soll.«

»Du alte Memme!«, ließ sich die Stimme im Saal vernehmen, »bringe das Licht nur wieder zurück! Es ist sicherlich nichts gewesen.«

Der helle Schein verschwand, und Nacht deckte wieder den Vorplatz. Judiths scharfes Auge war jedoch nicht müßig gewesen. Sie hatte, während der Raum erhellt war, eine kleine Galerie erspäht, die über dem Gesimse hinführte, und auf der sich ein sicherer Platz finden musste, um alles zu hören und zu sehen, was sich im Saal zutrug, im Fall die Tür halb geöffnet blieb. Den Eingang zur Galerie zu entdecken, war jedoch nicht leicht. Er musste notwendig außen angebracht sein und eine Verbindung mit der Treppe haben. Nach einigen verfehlten Versuchen gelang es der Tochter Florentins den Eingang zu öffnen. Sie stellte sich hinter einige alte morsche Pulte, die vor Zeiten gedient zu haben schienen, die Notenblätter der Musiker zu halten, die hier einen lustigen Tanz oder eine zeremoniöse Tafelmusik erschallen ließen, in Tagen, wo das einsame Jagdschloss noch in Glanz und Leben blühte. Das Heraustreten des Dieners bewirkte, wie Judith gehofft hatte, das Offenbleiben der Tür. Sie überblickte einen Teil des Saal, und entdeckte am Fenster, in einem Polsterstuhl liegend, eine Gestalt von auffallendem Äußeren. Es war dies ein alter Herr, scheinbar schon in den Achtzigern, wenn man sein silberweißes Haar, das in langen Locken auf die Schultern fiel, ins Auge fasste. Allein die scharfen und starken Züge des Gesichts widersprachen dem Charakter des hinfälligen Alters. Nie hatte Judith einen Männerkopf von solcher Würde und Kraft gesehen. Man hätte ihn den Kopf eines Apostels nennen mögen, wenn nicht ein Charakter darin gelegen hätte, der einem Apostel wenig zustand. Dies war der Charakter eines eisernen, unbezwinglichen Trotzes und Hohns. Selbst in der Ruhe war dieses Gesicht schrecklich. Wie ein wilder Atem der Leidenschaft, der an unsere Wange mit glühendem Hauch schlägt, so wehte von dieser Gestalt aus ein unheimlicher, aufregender, magnetischer Zauber und hielt den Beschauer gefangen. Es war unmöglich, wegzusehen, wenn man einmal hingeblickt hatte. Der Seele drang sich durchs Auge, jede auch die kleinste Besonderheit dieses ungewöhnlichen Bildes ein. So betrachtete denn Judith mit eben der aufmerksamen Scheu die Kleidung des Mannes, den langen, militärischen Überrock, der in weiten Falten um den dürren Körper saß, die schmale, schwarze Binde, die den muskulösen Hals zur Hälfte freiließ, die hohen Reiterstiefel aus russischem Leder und den Hirschfänger, der um die Hüften geschnallt war. Die wilde Laune des Mannes schien durch die Stille und Einsamkeit um ihn her nicht beschwichtigt.

Er befahl dem Diener, das Fenster zu öffnen, und stieß die Worte aus: »Siehst du ihn?«

»Nein Herr, die Nacht ist zu dunkel, aber nach dem Klang der Hufe zu urteilen, die ich auf der Niederung herauftönen höre, scheint sich jemand zu nähern.«

Die Züge des Herrn wurden bei diesen Worten wie von einer fieberischen Bewegung geschüttelt. Seine buschigen Augenbrauen schossen zusammen, und die magere, knöcherne Rechte klammerte sich an den ledernen Knauf der Armlehne. Er lauschte hinausgebeugt und rief dann: »Mach das Fenster zu und entferne dich!«

Der Diener gehorchte zögernd und schloss das Fenster. Indem er sich anschickte zu gehen, heftete er seine Blicke auf den Gebieter und blieb unschlüssig in der Mitte des Zimmers stehen. Der Mann im Lehnstuhl warf sich hin und her. Sein Gesicht war leichenblass, sein Anblick erschütterte und schien die ängstlichsten Besorgnisse beim alten Diener hervorzurufen. Er blieb, trotz des wiederholten Befehls zu gehen, unbeweglich auf seinem Posten und richtete den Blick mit einer ängstlichen, aber mutlosen Bitte auf die Gegend am Fenster.

»Nun, wirst du gehen?« rief die Stimme.

»Euer Gnaden«, sagte der Zitternde, indem er auf das abgelegte Gewehr wies, das auf dem Spiegeltisch lag, »soll ich nicht das da mitnehmen?«

Die Blicke des Herrn sahen mit einem besondern Ausdruck von Scheu und Wildheit aus, dann schüttelte er das Haupt und sagte: »Nein, es wird nichts geschehen, sei ruhig. Geh!«

Der Alte blieb noch eine Weile, allein ein heftiges Fußstampfen seines Herrn, das die Fenster des Saals erzittern machte, zwang ihn, zu gehen. Bald darauf hörte Judith Tritte die Stiege heraufkommen. Das unheimliche Drama, das hier gespielt werden sollte, gewann an Entwicklung. Ein junger Mann im Jagdanzug, elegant, aber nachlässig gekleidet, vom raschen Ritt, wie es schien, übermäßig erhitzt, trat ein und ging, nachdem er einige Worte mit dem alten Diener im Vorsaal gewechselt hatte, die Judith nicht verstand, rasch dem Saal zu, dessen Tür er öffnete und auf der Schwelle stehen blieb. Die Szene, die sich jetzt bildete, war trotz dem, dass kein Wort dabei gesprochen wurde, von grauenerregender Wirkung. Man sah, dass hier ein furchtbares Stelldichein stattfand. In der Mitte des Saals stand die kolossale greise Gestalt hoch aufgerichtet. Das herabgebrannte Licht auf dem Spiegeltisch warf einen dunklen, bleiernen Schatten, wie einen drohenden Abgrund, zwischen dem jungen und den alten Kämpfer auf diesem nächtlichen Schauplatz. Das weiße Haar schimmerte wie ein Meteor und umgab wie mit versteinerten Schlangen ein Gorgonenhaupt, in dessen wildem Muskelspiel man jede dämonische Kraft, die je einen Menschenbusen erfüllte, spielen sah. Unerschüttert hielt der junge Mann diesem Schreckbild stand. Er bebte nicht, seine schlanke, fast noch knabenhafte Gestalt blieb unbeweglich in dem Türrahmen stehen, und dieses gegenseitige Anstarren dauerte fast eine Minute.

In einer Situation wie diese, wo Worte tödlich wirken, werden sie, gleich den Waffen, erst nach genauer Prüfung und in dem schlagenden Moment gebraucht. Nichts kündigte bei dem Jüngeren an, dass er der zuerst Nachgebende sein werde. Er schien Trotz mit Trotz zu erwidern, und, weit entfernt, sich seinem Gegner zu beugen, dessen ganze Wut herausfordern zu wollen.

Endlich sagte er mit dumpfer Stimme: »Vater, ich habe Sie um diese Zusammenkunft gebeten, es wird von Ihnen abhängen, ob es die Letzte sein soll, die zwischen uns stattfindet.«

Keine Antwort erfolgte, stattdessen ein gebieterischer Wink zu dem Stuhl hin, der an der Wand, zunächst dem Fenster stand. Die Tür wurde geschlossen, und hiermit fiel der Vorhang vor die Szene. Das leidenschaftliche Interesse der Zuschauerin war indes aufs Höchste gespannt. Leise, wie sie hinaufgeschlichen war, verließ sie die Galerie, und nicht denkend, welcher Gefahr sie sich aussetzte, näherte sie sich der Tür des Saals und neigte ihr Ohr an das Schloss. Eine tiefe Stille herrschte drinnen, und nur die schweren Tritte des Alten, der auf und ab schritt, waren hörbar. Endlich schien sich ein heftiger Wortwechsel zu entspinnen, die beiden Stimmen sprachen ineinander. Es war unmöglich, sie zu verstehen, ihre Heftigkeit wuchs mit jeder Sekunde und erreichte eine Höhe, die an Schreien grenzte. Plötzlich machte sich die Stimme des Alten Platz. »Rasender!«, tönten die donnernden Worte, »reize mich nicht zum Äußersten! Es handelt sich hier um die Entehrung unserer Familie, und du – du bist der Schänder unseres Namens!«

»Zwingen Sie mich nicht, dass ich es werde, noch bin ich es nicht!«, war die Antwort, die dicht an der Tür ertönte.

Darauf aus der Tiefe des Zimmers: »Fort, aus meinen Augen, feiger Schurke!«

»Jesus, Maria!«, seufzte eine Stimme dicht unter der Galerie.

Judith erkannte den alten Diener, der sich herbeigeschlichen, aber nicht den Mut hatte, die Tür des Saals zu öffnen. In der Dunkelheit sahen beide einander nicht.

»Feiger Schurke!«, wiederholte die Stimme des Jüngeren in einem Ton, der so eisig und hohl klang, wie nur je eine menschliche Stimme erklungen sein mag. »Wenn ich es bin, wer gab mir darin Unterricht?«

»Wer?«, brüllte es ihm entgegen, »sprich, Bube, wer?«

»Am Totenbett meiner Mutter hörte ich den, der sie betrogen hatte, durch eine feige Lüge ihre letzten Momente noch verbittern! Ja – das hörte ich!«

Kaum waren diese Worte ausgesprochen, als eine kurze Stille eintrat, eine Stille, grauenhafter als der tobendste Wutanfall.

Judith, wie von der Hölle gescheucht, wich einige Schritte zurück. In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen und der junge Mann stürzte heraus. Da ertönte im Saal ein wilder Schrei. Mit einem Sprung, ähnlich dem eines Raubtieres, das sich auf seine Beute stürzt, hatte der Zurückgebliebene die Flinte erfasst. Ehe der Diener, der sich ihm in den Weg warf, es verhindern konnte, war der Schuss gefallen, und der junge Mann stürzte lautlos auf den Steinboden des Vorsaals nieder. Er war mit dem Antlitz auf den Boden gefallen. Im grässlichen Todeskampf wandte er sich jedoch, klammerte sich an den Türpfosten, um sich aufzurichten, sank dann wieder zurück, erhob sich nochmals, und wälzte sich mit einem langen wimmernden Schrei einige Male auf dem Boden hin. Währenddessen stand sein Mörder unerschüttert mit der Flinte in der Hand. Seine Blicke waren starr auf das gefallene Opfer gerichtet. Die Augen weit vorgedrängt, schien er jeder Bewegung der im Todeskampf zitternden Muskel zu verfolgen. Keine Spur von Mitgefühl lag in diesen eisernen Zügen. Die magere Knochenhand strich nur langsam die silberweißen Locken aus der Stirn und blieb an den Locken haften, als vergäße er sie zurückzuziehen. Es war schwer zu entscheiden, welche von diesen beiden Gestalten mehr Leben zeigte, die auf dem Boden liegende, die ihre letzten Atemzüge aushauchte, oder die stehende, in deren steinernen Brust kein Atem zu wohnen schien.

Endlich durchzuckte diese Bildsäule des Schreckens eine heftige Nervenbebung. Er stieß mit der Flinte auf den Boden und murmelte vor sich hin: »Er ist tot! Ich habe meinen Sohn gemordet; doch mögen alle Söhne so sterben, die es wagen, ihre Väter anzuklagen. Der Nichtswürdige hat seinen Lohn empfangen! Gott wird mich richten!«

Judith, obwohl sehr wenig weichlich in ihren Gefühlen, war dennoch bis ins Innerste erschüttert durch diese Szene. Ein Mord war vor ihren Augen ausgeführt worden, und der Mörder stand vor seinem Opfer mit kaltem Herzen. Dieser Mörder war ein Vater, und diese Leiche war sein Sohn. Mitten in der Zivilisation, unter dem Schutz der Gesetze war diese Tat verübt worden, und die Tochter des Verbrechers erzitterte vor ihr, sie, die in den düsteren Höhlen des Lasters aufgewachsen war, die den rohen Kampf niedriger Leidenschaft furchtlos angeschaut hatte. Sie erbebte hier zum ersten Mal, als sie mitten unter Gesetz und Sicherheit einen Vater den Sohn morden sah. Unbekümmert um ihre eigene Sicherheit, einzig nur erfüllt von dem blutigen Blick vor ihren Augen, kauerte sie in der Ecke, unbeachtet von den Spielenden dieses düsteren Dramas.

Der Alte verließ das Zimmer und ging in den Saal zurück, während der Diener sich über die Leiche hinwarf und laut schluchzte. Endlich erschien jener wieder auf der Türschwelle und sagte in kurzen, scharfbetonten Sätzen: »Es ist geschehen, Werner! Lass ihn! Er ist dahin! Steh auf – Lass uns das Weitere bedenken!«

»O, Herr!«, entgegnete der Diener, sich matt aufrichtend: »Soll ich einen Arzt rufen?«

Der Gefragte schüttelte den Kopf. Eine Weile verging, dann tönten wieder die kurz ausgestoßenen Worte: »Sieh im Haus nach, ob niemand den Schuss gehört hat.«

Der Diener ging, und die Arme auf der Brust gekreuzt, blieb der Vater vor der Leiche stehen. Die offen gebliebene Tür ließ ein langes Streiflicht über die Gruppe fallen. An der einen ausgestreckten Hand des Toten schimmerte ein Ring.

Der Alte bückte sich nieder und zog ihn ab, indem er vor sich hin sprach: »Er hat mich betrogen! Dieser Ring, mit meinem Fluch belastet, steckte schon an seinem Finger. Über kurz oder lang wäre er die Schmach meines Alters geworden. Besser so! Ja besser so!« Der Diener kam zurück und versicherte, er hätte keine lebende Seele im ganzen Haus entdeckt. Der Sturm, der jetzt wütete, ließ vermuten, dass im Nebengebäude ebenfalls kein Laut gehört worden sei.

»So lass uns eilen!«, rief der Herr mit fester Stimme. »Ich reite voraus. Niemand muss wissen, dass ich hier gewesen bin. Du gehst bei Tagesanbruch in das Städtchen und suchst Hilfe. Du gibst an, dass ein Unglück mit der Flinte …«

»Ach, Herr! Verlassen Sie mich nicht in dieser schrecklichen Stunde!«, flehte der Diener und umfasste die Knie des Gebieters, der ihn von sich stieß, indem er ihn wild anschnauzte.

»Bist du Soldat? Hast du Mut? Nimm deine Kräfte zusammen. Rasend wäre es ja, einen Verdacht auf dich oder auf mich zu werfen! Geh! Zeige mir Licht!«

»Ich werde ihn mit mir fortnehmen!«, schluchzte der treue Diener. »Hab ich ihn doch auf meinen Knien geschaukelt, als er klein war, werde ihn fallen lassen, jetzt, da er wehrloser ist als damals? Nein, meine Arme sollen ihn halten, und so will ich mit meinem armen Jungen durch die stille Nacht ziehen. Möge ein Grab uns beide aufnehmen!«

Diese von der innigsten Zärtlichkeit ausgepressten Worte hörte der erschüttert Enteilende nicht mehr. Er stieg die Treppe hinab, und bald darauf hörte man über das Hofpflaster die Pferdehufe.

Judith, zur Besinnung in ihrer Lage gekommen, wartete nicht ab, bis der Diener mit dem Licht zurückkehrte. Sie entschlüpfte atemlos und langte, mit fast hörbar pochendem Herzen und einer Ohnmacht nahe, an der Tür ihres Zimmers an. Hinter diese verbarg sie sich, als sie einen schweren Tritt auf der Treppe hörte. Es war die letzte erschütternde Szene. Der treue Diener trug den Toten hinab, um ihn mit sich aufs Pferd zu nehmen, wahrscheinlich, weil er diesen Ort nicht für sicher genug hielt. Der Tote lag in seinen Armen, und das bleiche Antlitz mit den vollen, dunklen Locken hing über den Arm des Trägers.

»Ja, komme nur«, murmelte dieser, »komme nur! In der Einsamkeit des Waldes will ich mich an deiner kalten Brust sattweinen! Ach, ich wusste wohl, es würde so kommen! Die Ziegelbrennerei ist nicht weit, dahin bringe ich dich. Doch vorher muss hier, in diesem verfluchten Haus, alles abgeschlossen werden!«

Er legte den Toten auf den unteren Treppenabsatz, und Judith hörte ihn oben aufräumen und abschließen. Dann kam er wieder und verschwand mit seiner Last in das Dunkel der Nacht. Bald darauf trabte auch sein Pferd über den Hofplatz dahin, und darauf herrschte wieder die Stille der Nacht ungestört über dem einsamen Waldhaus. Der Sturm trieb in immer wilderen Stößen über den Forst hin, und sausend wogten und schwankten die Föhrenwipfel. Sternlos und finster war der Himmel. Der See schlug an die Ufer, und das Gekrächze der Waldvögel glich einem lang gezogenen Hilferuf irgendeines Verunglückten. Judith stand vor der offenen Haustür, und der Wind wühlte in ihren aufgelösten Locken. Ihr Nachtkleid flatterte, und ihre weißen Arme hoben sich mit einer Gebärde des Entsetzens und der Angst zum Himmel! Nach und nach legte sich der Sturm in ihrer Brust, und sie kehrte in die ruhige Zelle zurück. Das Licht war herabgebrannt und warf düstere Schatten. In der Einsamkeit glaubte sie noch immer die grässlichen Schmerzenstöne von oben her zu hören. Sie floh von einem Zimmer ins andere und warf sich endlich erschöpft auf das Sofa des Vorgemachs. Ein unruhiger Schlummer senkte sich auf ihre Augen. Die Tritte der heimkehrenden Bedienung schreckten sie wieder auf. Der Tag dämmerte bereits. Noch eine peinvolle Stunde verging. Dann brachte der Jäger die Nachricht, dass die Pferde unten bereitständen. Judith folgte ihm, und rasch enteilend warf sie noch einen Blick zurück auf die Fensterreihe, hinter welcher sich die Erinnerung dieser Nacht verbarg. Der junge Morgen glänzte auf den erblindeten Scheiben, und die bewegten Wellen des Sees warfen vervielfacht das Bild des Gebäudes zurück.