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Der Welt-Detektiv Band 6

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Die Skalpjäger – Der Gräber-Indianer

Thomas Mayne Reid
Die Skalpjäger

Zweiter Teil
Elftes Kapitel

Der Gräber-Indianer

Es war unser erster Impuls, die Schlucht hinabzueilen, unseren Durst an der Quelle zu löschen und unseren Hunger an den halb abgenagten Knochen, die über die Prärie verstreut waren, zu stillen. Die Vorsicht hielt uns jedoch zurück.

»Wartet, bis sie ganz fort sind«, sagte Garey, »sie werden in drei Ziegensprüngen aus unseren Augen sein.«

»Ja, wir wollen noch ein wenig bleiben, wo wir sind«, fügte ein anderer hinzu. »Es reiten doch vielleicht einige zurück – es kann etwas vergessen worden sein.«

Dies war nicht unwahrscheinlich und wir beschlossen, trotz der Neigungen unseres Appetits, noch eine Zeit lang in der Schlucht zu bleiben.

Wir stiegen in das Dickicht herab, um Vorbereitungen zur Entfernung zu treffen – unsere Pferde zu satteln und die Decken, welche sie beinahe blind gemacht hatten, abzunehmen. Die armen Tiere schienen zu wissen, dass die Erlösung nahe war.

Während wir uns damit beschäftigten, blieben unsere Posten auf der Spitze des Hügels, um beide Trupps zu beobachten und uns mitzuteilen, wenn ihre Köpfe bis auf das Niveau der Prärie gesunken sein würden.

»Ich möchte wissen, weshalb die Navajo über das Ojo di Vaca gegangen sind«, bemerkte unser Anführer mit einiger Besorgnis. »Es ist gut, dass unsere Kameraden nicht dort geblieben sind.«

»Sie werden müde sein, dort, wo sie sind, auf uns zu warten, wenn nicht die Hirsche unter dem Mesquito häufiger sind, als ich denke«, meinte Garey.

»Vaya!«, rief Sanchez, »sie können der Santissima danken, dass sie nicht in unserer Gesellschaft waren. Ich bin zu einem Gerippe abgemagert – Mira – Carrai!«

Unsere Pferde waren endlich gesattelt und gezäumt, und unsere Lassos zusammengerollt. Die Vedette hatte uns jedoch noch immer kein Zeichen gegeben. Wir wurden nun mit jedem Augenblick ungeduldiger.

»Kommt!«, rief einer, »zum Henker, sie sind jetzt weit genug, sie werden nicht auf dem ganzen Weg zurückgaffen. Ich bin überzeugt, dass sie vorwärts schauen. Sie haben ja eine schöne Aussicht vor sich.«

Wir konnten unserem Appetit nicht länger widerstehen. Wir riefen den Späher an. Er sah noch die Köpfe der Hintersten.

»Das ist genug«, rief Seguin, »kommt mit euren Pferden.«

Die Leute gehorchten schnell und wir bewegten uns, die Tiere am Zaum führend, die Schlucht hinab. Wir waren dem Eingang nahe. Ein junger Mann, der Pueblo-Diener Seguins, an der Spitze der Schar. Er sehnte sich mit Ungeduld nach Wasser. Er hatte bereits die Mündung der Schlucht erreicht, als wir ihn mit erschreckten Mienen zurückeilen, sein Pferd hinter sich herziehen sahen und ihn rufen hörten: »Mi amo, toda via son. (Meiner Seele, sie sind noch da!)«

»Wer?«, fragte Seguin, der eilig herbeikam. »Die Indianer, Herr! Die Indianer.«

»Du bist toll! Wo hast du sie gesehen?«

»Im Lager! Herr – seht dorthin!«

Ich begab mich mit Seguin schnell zu den Felsen, welche am Eingang der Schlucht lagen. Wie blickten vorsichtig hinüber, unseren Augen bot sich ein merkwürdiges Schauspiel. Die Lagerstätte war noch in dem Zustand, wie sie die Indianer verlassen hatten. Die Pfähle staken noch in der Erde, die zottigen Häute der Büffel und Haufen von ihren Knochen waren über die Ebene verstreut. Hunderte von Kojoten liefen hin und her, knurrten einander an oder verfolgten den von ihnen, der einen besseren Bissen als sie gefunden hatte. Die Feuer glühten noch, und die Wölfe galoppierten durch die Asche und trieben sie in gelben Wolken auf.

Aber wir hatten noch einen seltsameren Anblick – für mich einen Grausen erregenden. Fünf bis sechs fast menschliche Gestalten bewegten sich zwischen den Feuern umher, sammelten die Überbleibsel von den Häuten und Knochen und kämpften mit den Wölfen, welche scharenweise um sie bellten. Fünf bis sechs andere Gestalten saßen um ein noch brennendes Feuer und nagten schweigend an halb gerösteten Rippenstücken. Können sie – ja, – es sind menschliche Wesen!

Ich war auf einen Augenblick entsetzt, als ich auf die zusammengeschrumpften, zwergartigen Leiber – die langen Affenarme und die ungeheuren Köpfe schaute, um die das Haar in schlangen ähnlichen, zottigen Massen hing.

Nur ein Paar von ihnen waren ebenso nackt, wie die wilden Tiere um sie her – nackt vom Kopf bis zu den Füßen.

Die dämonischen Zwerge kauerten jetzt um das Feuer, hielten halb abgenagte Knochen in ihren langen Fingern und rissen das Fleisch mit ihren blitzenden Zähnen ab. Es war tatsächlich ein entsetzlicher Anblick, und es dauerte einige Momente, ehe ich mich hinlänglich von meinem Erstaunen erholen konnte, um zu fragen, wer oder was sie seien. Ich tat es endlich.

»Los Yambaricos!«, antwortete der Cibolero.

»Wer?«

»Los Indios Yambaricos, Señor.«

»Die Gräber – die Gräber«, sagte ein Jäger, welcher dachte, dass dieser Ausdruck besser die seltsame Erscheinung erklären würde.

»Ja, sie sind Gräber«, fügte Seguin hinzu. »Kommt, wir haben nichts von ihnen zu fürchten.«

»Aber wir haben etwas von ihnen zu erlangen«, erwiderte einer von den Jägern mit einem bedeutsamen Blick. »Ein Gräberskalp ist ebenso gut wie ein anderer – er ist ebenso viel wert wie ein Apachenhäuptling.«

»Es darf niemand feuern«, sagte Seguin mit festem Ton. »Es ist noch zu früh. Seht dort …« Er deutete über die Ebene, wo noch zwei bis drei blitzende Gegenstände – die Helme der sich entfernenden Krieger über dem Gras sichtbar waren.

»Wie sollen wir sie denn bekommen, Cap’tain?«, fragte der Jäger. »Sie werden uns in die Felsen entlaufen. Sie können springen wie gejagte Hunde.«

»Lasst die armen Teufel lieber gehen«, sagte Seguin, welcher es nicht gern zu sehen schien, dass so mutwilligerweise Blut vergossen werden sollte.

»Nein, Cap’tain!«, antwortete derjenige, welcher gesprochen hatte, »wir wollen nicht feuern, aber wir werden sie fangen, wenn wir können, ohne ihnen eine Kugel nachzuschicken. Folgt mir, Jungs.«

Und der Mann wollte eben sein Pferd auf die lockeren Steine führen, um unbemerkt zwischen die Zwerge und den Felsen zu gelangen.

Die Absicht des brutalen Burschen wurde aber vereitelt, denn in diesem Augenblick erschienen El Sol und seine Schwester in der Öffnung, und ihre glänzenden Gewänder wurden den Gräbern sichtbar. Sie sprangen wie aufgetriebene Hirsche empor und liefen oder flogen vielmehr dem Fuß des Berges zu. Die Jäger galoppierten ihnen entgegen, um sie aufzufangen, aber sie kamen zu spät. Ehe sie die Gräber erreichen konnten, waren diese in die Felsenspalten gekrochen oder kletterten wie Gämsen weit über unserem Bereich auf die Klippen.

Nur einem von den Jägern – Sanchez – gelang es einen zu fangen. Sein Opfer hatte einen hohen Felsenvorsprung erklommen und kletterte auf denselben hin, als das Lasso des Stierkämpfers sich um seinen Hals schlang. Im nächsten Augenblick wurde er in die Luft hinaus gerissen und fiel mit einem schweren Krachen auf die Felsen.

Ich ritt herbei, um ihn zu sehen. Er war tot. Der Sturz hatte ihn zerschmettert – zu einer formlosen Masse verstümmelt. Er bot einen ekelhaft hässlichen Anblick dar.

Der gefühllose Jäger kümmerte sich nicht darum, er bückte sich mit einem rohen Scherz über den Körper, löste den Skalp ab und steckte die noch dampfende und blutende Haut hinter den Gürtel seiner Salpomeros.