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Im Spiegel

Im Spiegel

Ich hatte dies kommen sehen und dennoch sollte ich beim Knall der Steinschlosspistole und dem folgenden Brennen der Wunde erschrecken. Mehr zu empfinden gelang mir allerdings nicht mehr, bevor ich zu Boden gleiten sollte, von wo mich mein geliebter Vater jetzt aufhob. Das Leid in seinem von Tränen verschleierten Blick jedoch ertrug ich nicht, weshalb ich meine Augen von ihm ab- und dem Spiegel zuwand, vor dem ich starb.

Der Spiegel, der mich nun schon seit den frühesten Tagen meiner Kindheit begleitete, und der wahrlich Ewigkeiten im Besitz meiner Familie sein musste, wenn es stimmte, was mir meine Mutter von sich und meiner Großmutter einstmals berichtete.

Ich hatte beide abgöttisch geliebt, wenngleich ein Makel auf ihren Leben lastete, den ich einfach nicht annehmen konnte. Oftmals geistesabwesend seien sie gewesen, mutmaßten die Männer in unserer Familie, wenn sie glaubten, dass ich zu klein sei, um zu verstehen, was sie da sagten. Nicht bei Sinnen munkelte das Personal manches Mal, wenn sie dachten, ich wäre nicht in der Nähe und könnte dies hören. Verrückt, wenn man dem Gewäsch der Menschen Glauben schenkte, die in unserer Umgebung lebten, und die meinten, diese gar schändlichen Anschuldigungen würden nicht an meine Ohren dringen.

Sie alle sollten falsch liegen und doch einen kleinen Hauch Wahrheit atmen, wie ich später sehr wohl feststellen durfte.

Der Schlüssel zu alldem schien der Ankleidespiegel zu sein, von dem meine Großmutter noch zu ihren Lebzeiten stets in größter Hochachtung sprach. Er sei etwas ganz Besonderes, verriet sie mir eines Tages unter vier Augen, als ich sie wieder einmal davor entdeckte, während ich das ganze Haus zuvor ewig lang nach ihr abgesucht hatte. Jedoch nicht wegen der reichen Verzierungen, die den Spiegel im Rahmen zu umschmeicheln schienen, und die dessen Erschaffer einen gar meisterlichen Umgang mit Hammer und Beitel bescheinigten, sondern wegen dem, was in ihm stecken sollte. Was dies genau war, enthüllte mir meine Großmutter allerdings bis zu ihren Tode nicht, der völlig unerwartet kam und mich traurig zurückließ. Woran sie verstorben war, erfuhr ich allerdings erst viele Jahre später, als meine Mutter ihr folgen sollte.

Auch sie verbrachte viel Zeit vor dem Spiegel und dem Rahmen dessen dunkles Holz vor unzähligen Jahren, in die Form sich ständig windender Wellen gebracht worden war. Ich versuchte als kleines Kind schon oft herauszufinden, wo deren Anfang und deren Ende sein mögen, es gelang mir allerdings nicht. Und selbst in späteren Zeiten – ich war inzwischen um die 10 Jahre alt – faszinierte mich dieses Spiel immer noch, ohne mir einen Hinweis zur Lösung dieses Rätsels zu gewähren. Jedes Mal, wenn meine Mutter vor ihm stand und sich darin besah, versuchte ich aufs Neue hinter sein Geheimnis zu kommen. Sie befeuerte dies zum einen damit, dass auch sie andeutete, dass mehr in ihm steckte, als man ihm auf einen Blick ansehen sollte, enthüllte aber nicht den entscheidenden Clou. Zum anderen bemerkte ich damals zum allerersten Mal, dass ihr Abbild im Spiegel einen Schatten trug. Zumindest nannte ich das damals so, weil mir die Worte fehlten, es genauer zu benennen, und ich zu unerfahren war, um es besser zu wissen.

Keine zwei Jahre später dämmerte mir – vielleicht gefördert durch die vielen ungewollt gehörten Gerüchte und das ebensolche Geschwätz der Menschen um mich herum – um was es sich genau handeln sollte. Etwas Seltsames lag auf dem Spiegel oder besser gesagt dem Antlitz der Person, die hineinsah. Also stellte ich ihn auf die Probe, doch mein Gesicht blieb blass und völlig normal. Nachdem ich diesen Versuch ein weiteres Mal ergebnislos unternahm, kam unversehens meine Mutter hinzu, die sofort meiner Enttäuschung gewahr wurde.

Auf ihre Frage hin, warum ich so blickte, wie ich es tat, fragte ich unverhohlens – und nicht im Geringsten wissend, was dies zur Folge haben würde – was denn in sie gefahren sei. Sie stutzte und wollte ihre Worte in eine andere Richtung lenken, als ich ihr vorwarf, was mir zu Ohren gekommen sei. Ein winzig kurzer Anflug von Entsetzen erkannte ich auf ihrem Gesicht, welches aber sogleich darüber hinwegzugehen schien und mich sorglos anblickte, während sie mich wortlos hinausschickte.

Tage später erklärte sie mir, dass ich den Worten der anderen keinen Glauben schenken sollte und sie mich trotz der Worte – die ich verletzenderweis zu ihr gesagt hätte – über alles lieben würde. Sie fügte noch an, dass sich manches in Bälde für mich klären würde und sie mir darob nicht böse sei, falls ich dies einmal annehmen sollte.

Am darauffolgenden Morgen war sie tot.

Die Umstände ihres Ablebens blieben im Dunkeln, wir Kinder – ich hatte zwei jüngere Brüder, über die ich keine weiteren Worte verlieren möchte – bekamen nichts Genaues erzählt und vergaßen nach einiger Zeit auch unsere Fragen dazu. Ich vergrub daraufhin meine Gedanken lange Zeit in mir, was sich dann durch ein Ereignis – bei dem sich der Körper eines heranwachsenden Mädchens verändert und ihre Seele es dem gleichtut – verstärken sollte. Mehr und mehr wandelte ich in mich gekehrt durch das Anwesen meiner Ahnen und suchte als einzigen Raum regelmäßig das Ankleidezimmer meiner Mutter auf, um mich ein ums andere Mal vor den Spiegel zu stellen. Einen prüfenden Blick in ihn zu werfen und siehe da, er zeigte auch bei mir nun den Schatten.

Zuallererst nicht zur Freude meiner Seele, die doch schon durch den unverdauten, weil überraschenden Tod meiner Mutter angeschlagen war. Über die nächsten Tage jedoch erfüllte mich Ruhe, wenn ich in ihn blickte, ganz gleich, ob mich anfangs der Schatten auch beunruhigte. Dies verging.

Mir fiel nämlich auf, dass sich die Wellen des Rahmens nun – je länger ich in ihn starrte – plötzlich zu verändern begannen. Sie wurden weicher, die Linien geschwungener und am Ende nahmen sie die Form von weiblichen Gesichtern an. Und im gleichen Atemzug, wie mir dies klar wurde und ich diesen Vorgang jedes Mal beim Betrachten des Spiegels aufs Neue bewusst zu erzeugen vermochte, begann ich das ein oder andere Gesicht zu erkennen: das meiner verehrten Großmutter sowie das meiner geliebten Mutter.

Die Neugierde in mir trieb mich dazu, mir die einzelnen Gesichter einzuprägen: Jeden Tag eines davon und sogleich lief ich ins Treppenhaus, um es mit den Porträts meiner weiblichen Vorfahren zu vergleichen. Und siehe da, alle fand ich sie wieder, so wie ich sie im Spiegel erblickt hatte.

Im gleichen Augenblick jedoch, wie mich die Freude über meine Entdeckung begeistern konnte, dachte ich mit Schrecken daran, wie ich mit diesem Geheimnis leben können sollte. Wem konnte ich dies kundtun? Wer würde mir dies glauben? Wie sollte ich dies beweisen?

Die Antwort war einfach: Keiner Menschenseele!

 

***

 

Ich hielt Wort und behielt all das Entdeckte für mich und nahm es als Fluch meiner Ahnenreihe mit in mein Grab. Obgleich nur mein Körper dort ruht, denn auf seltsame Weise löste sich der Schatten von meinem Antlitz, als ich beim Schuss der Pistole in den Spiegel sah. Er nahm die Form aller meiner Ahnen an, die bereits vor mir freiwillig aus dieser Welt schieden, und begrüßten meine Seele herzlich, als diese im Spiegel verblieb. Ungesehen für jedermann …

Einzig blieb mir die Frage unbeantwortet, wer wohl den Spiegel gefertigt haben mag?

© Bernar LeSton in Gladenbach, den 13. Mai 2017