Heftroman der

Woche

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Das grüne Licht

Paul Rosenhayn
Elf Abenteuer des Joe Jenkins
Das grüne Licht

Der Fremde, der mit dem Abendzug von Kopenhagen angekommen war, trat in das Vestibül des vornehmen Hotels Unter den Linden. Der Hoteldirektor ließ einen prüfenden Blick über das glattrasierte hagere Gesicht und die hochgewachsene Gestalt des Angekommenen gleiten und konstatierte bei sich: ein Amerikaner!

Als er aufsah, blickte er in zwei kühle graublaue Augen, und eine ruhige Stimme sagte mit leicht amerikanischem Akzent: »Ich bin Mr. Sanderson aus New York. Sind meine Zimmer reserviert?«

»Jawohl, Mr. Sanderson«, mischte sich diensteifrig der Portier ein. »Nummer 45 und 46. Ihr Telegramm aus Kopenhagen haben wir gestern Abend erhalten.«

Sanderson nickte.

Damit überreichte er dem Amerikaner ein längliches Kuvert, das dieser betrachtete und in die Tasche steckte.

»Ich möchte gleich auf mein Zimmer gehen.«

»Sehr wohl, Mr. Sanderson. Ich werde die Ehre haben, Sie persönlich hinaufzugeleiten.« Der Direktor schritt dem Amerikaner voran, öffnete die Tür zum Lift und ließ ihn einsteigen. Gleich darauf entschwand der Fahrstuhl in die obere Etage.

In einem der Klubsessel, die die Halle flankierten, hatte ein älterer Herr im Smoking gesessen, der das unverkennbare Gehaben des ehemaligen Offiziers zur Schau trug. Er hatte eifrig in einer großen Zeitung gelesen. Als Mr. Sanderson seinen Namen nannte, hatte der alte Herr einen schnellen Blick auf den Ankömmling geworfen. Darauf hatte er unmerklich das Zeitungsblatt zur Seite geneigt und den Angekommenen mit den Blicken verfolgt, bis ihn der Fahrstuhl entführte. Dann war er ausgestanden, war langsam zur Treppe geschritten, die neben dem Lift emporführte, und war in den ersten Stock hinaufgegangen. Als er oben anlangte, begegnete er dem Direktor, der ins Parterre zurückkehrte. Der alte Herr nickte jenem mit einer leichten Kopfbewegung zu und schlenderte gemächlich den Korridor hinunter, den Blick auf die Nummern der Zimmer geheftet, die in endloser Reihe an ihm vorüberglitten. Bei Nummer 45 machte er halt, sah sich einen Augenblick um und klopfte an.

»Come in.«

Der alte Herr öffnete die Tür und stand im nächsten Augenblick vor Mr. Sanderson, dem Amerikaner.

»Mr. Sanderson aus New York?«

»Ja.«

»Sehr wohl. Ich möchte Ihnen melden, dass Herr Wendland in einer Viertelstunde hier sein wird.«

»Ich danke Ihnen, Inspektor. Etwas Weiteres?«

»Ja. Das Hotel ist umstellt. Ich selbst sitze unten in der Halle. Im zweiten Klubsessel vom Lift. Ich habe Befehl, Ihnen zur Verfügung zu stehen, falls Sie meiner bedürfen.«

»Ich danke Ihnen, Inspektor.«

Damit ging der Besucher hinaus.

Der Amerikaner hatte sich warmes Wasser bringen lassen und eben seinen Handkoffer ausgepackt, als das Zimmertelefon klingelte.

»Ein Herr Wendland ist hier«, meldete der Portier. »Er habe einen Brief erhalten, ein Mr. Sanderson wünsche ihn zu sprechen. Ist es richtig?«

»Allrigt, Portier, lassen Sie ihn heraufkommen.«

Man hörte das feine Summen des Fahrstuhls, ein kurzes Türenschlagen, und in der nächsten Minute klopfte der Zimmerkellner an die Tür Nummer 45 und ließ den Fremden eintreten.

Der wohlbeleibte breitschultrige Herr mochte Mitte der Vierziger sein. In seinen Gesichtszügen machte sich eine gewisse Erregung bemerkbar, in den Augen lag unverkennbare Gereiztheit.

»Ich kenne Sie nicht, Mr. Sanderson«, begann er, ohne sich vorzustellen. »Ich weiß eigentlich selbst nicht recht, was mich dazu bewogen hat, dem Ruf eines Unbekannten so ganz einfach Folge zu leisten. Ich bekomme da heute Mittag einen Brief, darin steht, ich solle heute Abend um acht Uhr hier im Hotel bei Herrn Sanderson vorsprechen. Ob dieser Brief von Ihnen oder von einem Dritten herrührt, weiß ich nicht. Jedenfalls verstehe ich nicht, wie man so einfach über mich verfügen kann, und ich muss Sie bitten, mir dies zu erklären, Mr. Sanderson. Was wünschen Sie von mir? Wer sind Sie? Und schließlich – woher kennen Sie meinen Namen?«

Mr. Sanderson verzog keine Miene. Er sah sein erregtes Gegenüber mit einem freundlichen Lächeln an und sagte, indem er höflich auf einen Sessel wies. »Wollen Sie nicht Platz nehmen?«

Halb widerwillig ließ sich der Besucher in den Sessel nieder und blickte dem Amerikaner erwartungsvoll ins Gesicht.

»Sie betreiben«, so begann dieser mit ruhiger Stimme, »ein Pensionat in der Viktoriastraße?«

»Ja«, antwortete der Gefragte mit unwirschem Gesicht.

»Sehr gut. Vor einiger Zeit hat bei Ihnen ein Herr gewohnt …«

»Bei mir haben sehr viele Herren gewohnt«, unterbrach ihn der Pensionsbesitzer unhöflich.

»Ich spreche von einem bestimmten Herrn. Von dem Militärattaché Sanno.«

Der Pensionatsbesitzer, der gerade wieder zu einer groben Erwiderung ausholte, sah den Amerikaner mit offenem Mund an. In der nächsten Sekunde wollte er aufspringen, als ihm Mr. Sanderson die Hand auf die Schulter legte und ruhig sagte: »Bleiben Sie nur sitzen, Herr Wendland. Ich möchte Sie noch einiges Weitere fragen.«

Der Aufgeforderte sah den Amerikaner mit einem Blick an, in dem ein Gemisch von Furcht und Staunen lag. Dann sagte er schließlich mit unsicherer Stimme: »Ich weiß nicht, wer Sie sind, Mr. Sanderson. Und ich weiß nicht, was Sie wollen. Aber – da Sie den Namen des Militärattachés Sanno erwähnen, so sehe ich, dass Sie etwas über Dinge wissen, die in meine eigensten Privatverhältnisse eingreifen. Wie das möglich ist – das verstehe ich nicht. Ich verstehe auch nicht, wohin diese Unterredung führen wird. Bevor ich Ihnen daher eine weitere Antwort gebe, bitte ich Sie, mir zu erklären, was Sie mit diesem Verhör – denn es ist nichts weiter als ein Verhör – beabsichtigen. Anders sage ich nicht ein Wort weiter. Wer sind Sie, Mr. Sanderson?«

Der Amerikaner sah den Besucher mit einem ruhigen Blick aus seinen kühlen grauen Augen an und sagte langsam: »Was ich will, das werden Sie im Laufe dieser Unterredung erfahren. Sie fragen weiter, wer ich bin. Die Frage beweist mir eins: Sie zweifeln daran, dass ich Mr. Sanderson heiße. Ihr Zweifel ist nicht unberechtigt. Ich will Ihnen meinen wirklichen Namen nennen, vielleicht, dass er Ihnen bekannt erscheint.«

Herr Wendland stieß ein leises Lachen aus. »Ich wüsste nicht,« entgegnete er schroff, »woher ich Sie kennen sollte. Ich habe keinerlei Beziehungen zu Amerika. Und wenn Sie nicht gerade Woodrow Wilson oder Thomas Edison heißen, so kann ich Ihnen vorher versichern, dass mir Ihr Name wahrscheinlich nicht bekannt vorkommen wird.«

Der Amerikaner lächelte unmerklich und sagte mit ruhiger Stimme: »Mein Name ist Joe Jenkins.«

Der Pensionatsbesitzer fuhr empor, starrte den Amerikaner halb ungläubig an und wiederholte, fast mechanisch: »Mr. Joe Jenkins? Der berühmte Detektiv?«

»Ganz richtig«, bestätigte Mr. Sanderson lächelnd. »Es freut mich, dass Sie doch noch mehr Leute in Amerika kennen als unseren Präsidenten und unseren Elektriker. Und da ich diese Unterhaltung nicht zum Vergnügen mit Ihnen führe, so möchte ich Sie bitten, wieder Platz zu nehmen.«

Der Pensionatsbesitzer sank wie willenlos in seinen Sessel zurück. »Ich weiß zwar nicht«, so begann er zögernd, »mit welchem Recht … Aber immerhin … wenn ich Ihnen in irgendeiner Weise dienlich sein kann … bitte fragen Sie.«

»Ich danke Ihnen. Ich werde Sie einiges fragen und ich bitte um kurze, knappe und unzweideutige Antwort.« Mr. Jenkins lehnte sich in seinen Sessel zurück, der so stand, dass der darin Sitzende sich im tiefsten Schatten befand, während das Gesicht seines Gegenübers hell vom Licht der Bronzekrone bestrahlt wurde. Er legte die Beine übereinander und begann:

»Also, bei Ihnen hat bis vor einiger Zeit der Gesandschaftsattaché Herr Sanno gewohnt. Er steht in den Diensten eines neutralen europäischen Staates. Der Name dieses Staates tut nichts zur Sache. Ist er Ihnen bekannt?«

»Ja, Mr. Jenkins.«

»Um so besser. Herr Sanno hatte für seine Regierung ein wichtiges Dokument auszuarbeiten. Ein Exposé, zu dem ihm der Gesandte die Direktiven persönlich erteilt hatte. Auch das wissen Sie wohl?«

»Ja.«

»Dieses Schriftstück sollte Herr Sanno eigentlich in der Gesandtschaft ausarbeiten. Anscheinend aus Bequemlichkeit hat er es mit in seine Wohnung genommen, um die Arbeit – ich wiederhole, entgegen seiner Instruktion – zu Hause, d. h. also in Ihrem Pensionat, auszuführen. Stimmt das?«

»Jawohl.«

»Die Arbeit war ziemlich lang und wohl recht schwierig. Sei es infolge der allnächtlichen Ar-beit, sei es aus anderen Gründen — am Tage, an dem das Dokument fertig war, ist Herr Sanno schwer erkrankt. So schwer, dass er sofort in ein Sanatorium geschafft werden musste.«

»Jawohl, Mr. Jenkins.«

»In der letzten Minute war er so hinfällig und auch wohl nicht mehr ganz im Besitz seiner geistigen Frische, dass er Ihnen kurzerhand das Schriftstück übergeben hat. Mit der Weisung, es bis zu seiner Rückkehr aufzubewahren und zu keinem Menschen darüber zu sprechen?«

»Ja, Mr. Jenkins.«

»Wie war das Schriftstück verpackt?«

»Das Dokument mochte 80 bis 90 Seiten stark sein«, antwortete Herr Wendland. »Es lag in einem großen versiegelten Kuvert in einer Aktentasche. Diese Aktentasche hat mir Herr Sanno übergeben.«

»Wo haben Sie sie untergebracht?«

»Ich habe sie in meinen Geldschrank gelegt.«

»Seht schön. Und nun muss ich Sie etwas fragen, was scheinbar von dieser Sache abweicht, in Wirklichkeit aber eng damit zusammenhängt. Ist in letzter Zeit in Ihrem Haus irgendetwas passiert? Etwas, das ungewöhnlich war und das Ihnen aus diesem Grund aufgefallen ist? Um es Ihnen gleich zu sagen: Ich weiß, dass etwas passiert ist. Ich bitte Sie, mir die Ereignisse der Reihe nach, also chronologisch, zu erzählen, so, wie sie sich nacheinander zugetragen haben. Vergessen Sie nichts, lassen Sie nichts aus. Und damit Sie die Wichtigkeit Ihres Berichtes von vornherein richtig ermessen können, so bemerke ich Ihnen eins: Es handelt sich um Ihre persönliche Freiheit. Vielleicht um Ihr Leben.«

Der Besucher war den Worten des Detektivs mit atemloser Spannung gefolgt. Mehr und mehr hatten sich seine Blicke umdüstert, seine Augen senkten sich langsam zu Boden, endlich stand er auf, ging ein paar Mal im Zimmer auf und ab, murmelte etwas vor sich hin und hielt auf einmal mitten in seiner Wanderung inne.

»Mr. Jenkins«, begann er, »ich begreife nicht, woher Sie von diesen Dingen auch nur ein Sterbenswörtchen wissen können, denn ich habe zu niemandem über meine Erlebnisse auch nur andeutungsweise gesprochen. Aber – Sie haben recht. Es ist etwas vorgekommen. Dinge, die mir unverständlich sind, Ja, die mir von Tag zu Tag rätselhafter werden. Dabei muss ich Ihnen gestehen: Einen Zusammenhang mit dem Dokument haben die Ereignisse nach meiner Überzeugung nicht. Denn das Dokument liegt wohlverwahrt in meinem Geldschrank, und ich habe es noch vor einer Stunde in der Hand gehabt … Ich komme schon zur Sache«, unterbrach er sich, als er die abwehrende Handbewegung des Amerikaners sah. »Sie gestatten wohl, dass ich wieder Platz nehme.«

»Es war vor zehn Tagen«, so begann Herr Wendland, nachdem er sich wieder in seinem Sessel niedergelassen hatte, »als mir Herr Sanno das Dokument in der Aktentasche übergab. Ich habe die Aktentasche in meinen Geldschrank gelegt, den Geldschrank verschlossen und den Schlüssel in die Tasche gesteckt. Das war an einem Montag. Am Abend desselben Tages hatte ich eine Vereinssitzung -ich bin Mitglied des Vereins der Hoteliers – und die Sitzung hat sich ziemlich ausgedehnt. Denn meine Kollegen können meist erst sehr spät erscheinen, und dadurch ziehen sich die Sitzungen oft bis in den Morgen hinein. Es mag also halb vier Uhr morgens gewesen sein, als ich nach Hause kam. Wie Sie wissen, Mr. Jenkins, wohne ich in der Viktoriastraße, in einem vornehmen, stillen Villenviertel. Als ich um die Ecke meiner Straße biege, fällt mein Blick auf mein Haus, das drüben in tiefem Schatten liegt, und plötzlich bemerke ich etwas, was mich mit Staunen, ich kann wohl sagen, mit Furcht erfüllt. Aus dem Erkerfenster meines Arbeitszimmers dringt heller Lichtschein. Was konnte das zu bedeuten haben?

Sollte meine Frau krank geworden sein? Aber es kam noch etwas anderes hinzu: Das war ja gar kein eigentliches Licht, was dort strahlte, jedenfalls nicht das schöne, sonnenscheinähnliche Licht der Lampen in meinem Arbeitszimmer, das war ein geisterhaftes und dabei eigentümlich durchdringendes Licht von smaragdgrüner Farbe! Ich kenne doch natürlich meineLampen. Eine solche Lampe habe ich in meinem Zimmer nicht.«

»Vielleicht eine Schreibtischlampe mit einem grünen Schirm?«, warf Mr. Jenkins ein.

»Nein. Eine solche Lampe besitze ich nicht … Ich stand wie gebannt und starrte auf diesen seltsamen, grünlichen Schimmer, der in dieser totenstillen Straße und in der nachtdunklen Häuserreihe einen geradezu unheimlichen Eindruck machte. Ich bin nicht abergläubisch, Mr. Jenkins, aber in dieser Stunde hatte ich das bestimmte Gefühl, dass dieses grüne Licht der Vorbote eines drohenden Unheils sei, eine Ankündigung – vielleicht eine Tarnung aus einer anderen Welt. Schließlich raffte ich mich auf und stürzte die Treppen hinauf. Mein erster Weg geht ins Arbeitszimmer. Ich trete ein und fahre zurück: Das Zimmer ist dunkel und leer. Ich suche alles ab. Nichts ist zu sehen.«

»Untersuchten Sie den Geldschrank?«, fragte Mr. Jenkins.

»Natürlich. Sofort. Alles war unversehrt, und das Dokument lag an der alten Stelle in der Aktentasche. Darauf gehe ich zu meiner Frau ins Schlafzimmer — sie hat ihr eigenes Zimmer –sie liegt in tiefem Schlaf. Mein hastiger Tritt weckt sie. Ich erzähle ihr mit einigen fliegenden Worten, was ich beobachtet hatte, frage, ob sie nichts gesehen oder gehört habe? Nichts! Meine Frau hatte nicht das Geringste bemerkt. Sie betonte mit Recht, wenn irgendjemand die Wohnung betreten haben würde, so hätte sie es vor allen Dingen bemerken müssen. Schließlich meinte meine Frau lächelnd, ich müsse wohl ein Gläschen über den Durst getrunken haben. Ich verteidigte meine Beobachtung, um schließlich, Zweifel im Herzen, schlafen zu gehen. Am anderen Morgen war ich schon geneigt, meine Beobachtungen meiner erhitzten Phantasie zuzuschreiben — vielleicht auch den zwei Flaschen Wein, die ich im Laufe der Nacht getrunken hatte, als mich am nächsten Mittag ein Freund antelefoniert und mich fragt, was eigentlich in der letzten Nacht bei mir vorgegangen sei. Er sei um zwei Uhr durch die Viktoriastraße gegangen und habe einen grünen Lichtschein in meinem Arbeitszimmer bemerkt … Jetzt wusste ich, dass ich mich nicht geirrt hatte, Mr. Jenkins.«

»Erzählten Sie ihrer Frau von der Beobachtung Ihres Freundes?«, fragte der Detektiv.

»Ja. Meine Frau schüttelte skeptisch den Kopf und meinte schließlich, mein Freund sei wahrscheinlich ebenso angeheitert gewesen wie ich. Nun, ich bin überzeugt, wir haben uns nicht geirrt. Ich nicht und mein Freund nicht. Auch ist es unwahrscheinlich, dass zwei Menschen unabhängig voneinander und zu verschiedenen Zeiten genau die gleiche Halluzination gehabt haben sollten. Das Erlebnis hat mich nachdenklich gemacht. Ich untersuchte am nächsten Tag aufmerksam die ganze Wohnung – vergeblich. Ich fand nichts Verdächtiges. Dann kamen geschäftliche Dinge dazwischen. Ich habe in der nächsten Nacht noch ein bisschen aufgepasst, aber nichts hat sich gerührt. Bis sich in der Nacht darauf etwas Neues ereignete.

Ich sagte Ihnen schon, Mr. Jenkins, dass wir, meine Frau und ich, getrennte Schlafzimmer haben. Das hängt damit zusammen, dass ich etwas herzleidend bin und daher besser schlafe, wenn ich allein bin. Meine Frau hat ein Vorderzimmer, ich schlafe in einem Raum, der nach hinten auf die Gärten hinausblickt. Es mochte um halb drei Uhr in der Nacht vom Mittwoch auf den Donnerstag sein, als ich davon erwachte, dass in meinem Haus eine Tür ging. Gleich darauf höre ich leise schleichende Schritte auf dem Korridor. In Friedenszeiten würde ich mich um ein derartiges Vorkommnis nicht viel kümmern, Mr. Jenkins, einer meiner Pensionäre konnte die späte Störung verursachen – vielleicht, dass er einen galanten Besuch entließ, oder etwas Ähnliches.

Jetzt, im Krieg, steht mein Haus leer, denn alle meine Pensionäre, größtenteils Ausländer, sind abgereist. Ich gehe leise an meine Zimmertür und öffne sie, in diesem Moment wird die Etagentür von außen geschlossen. Kein Zweifel – jemand verließ das Haus.

Und da tappten auch schon knarrende Schritte die Treppe hinunter. Ich stürzte an die Haustür, der Schlüssel steckt von außen im Schloss – ohne Zweifel mit Absicht, um mich am schnellen Verlassen des Hauses zu hindern.

Ich eile nach vorn und reiße das Fenster auf, leise wird unten die Tür geöffnet und jemand verlässt das Haus. Mit meinen Blicken durchbohre ich die Finsternis, und nach einigen Sekunden kann ich die Gegenstände unterscheiden. Zu meinem Erstaunen ist es eine Dame, die aus dem Haus tritt. Und mit grenzenloser Bestürzung erkenne ich in der Dame meine Frau. – Meine Frau! Was bedeutete das? Ich konnte es noch immer nicht glauben. Darum eilte ich zu ihrem Zimmer hinüber. Es war verschlossen.

Nach einiger Zeit gelingt es mir, die Tür zu öffnen – das Bett war leer. Ich versuchte nun, meiner Frau nachzueilen, von vornherein ein ziemlich aussichtsloses Beginnen bei ihrem großen Vorsprung. Mit einigem Zeitverlust gelang es mir, das Haus zu verlassen, ich stürzte in der Richtung davon, in der meine Frau verschwunden war. Aber nichts war von ihr zu sehen. Nur in der Ferne hörte ich das Rattern eines Automobils, das sich schnell entfernte.

Nun ging ich nachdenklich und niedergeschlagen wieder nach Hause und grübelte und zermarterte mir den Kopf über das Unerhörte, das ich gesehen und gehört hatte. Was lag diesen unbegreiflichen Dingen zugrunde? Ich dachte und dachte und konnte nicht einschlafen.

»Eine Frage«, unterbrach Jenkins den Erzähler. »Drängte sich Ihnen ein Gefühl der … der Eifersucht auf?«

Herr Wendland lächelte traurig und sagte leise: »Nein, Mr. Jenkins. Meine Frau ist 45 Jahre alt – 45 Jahre! Und sie ist mir immer eine treue und aufopfernde Kameradin gewesen, der jede Falschheit fernlag. Eine Untreue war das Letzte, woran ich dachte.

Als ich am anderen Morgen um neun Uhr am Kaffeetisch erschien, saß meine Frau schon wie immer an ihrem Platz und begrüßte mich mit einem Lächeln. Ich beobachtete sie heimlich von der Seite. Da sah ich, dass ihr Gesicht bleich und eingefallen war. Und in ihren Augen lag der Ausdruck eines furchtbaren Kummers. Ich habe gewartet, Mr. Jenkins, und habe gehofft, meine Frau würde reden. Aber – sie schwieg beharrlich und starrte in den scheinbar unbewachten Augenblicken vor sich hin, immer mit dem gleichen Ausdruck des grenzenlosen Jammers in den Zügen. Gewiss, ich hätte sie einfach fragen können. Ein paar Mal war ich drauf und dran, es zu tun. Aber immer wieder, wenn ich in das blasse Gesicht und in diese trostlosen, verzweifelten Augen blickte, dann ist mir das Wort in der Kehle erstorben. Und schließlich – wollte sie nicht reden, nicht die Wahrheit sagen – dann würde sie mir auch auf meine Fragen nicht mit der Wahrheit geantwortet haben. Aber – mein Mißtrauen war erwacht. Es traf sich zufällig, dass ein Klub, dem ich angehöre, am letzten Sonnabend seinen Ball abhielt. Ich habe zwei Jahre hintereinander diesen Ball in Gesellschaft meiner Frau besucht und wir haben uns jedes Mal gut unterhalten. Nichts war daher natürlicher, als dass ich sie auch dieses Mal wieder aufforderte, mit mir hinzugehen. Sie lehnte ab. Sie fühle sich nicht wohl. Als ich darauf die Absicht aussprach, ebenfalls nicht hinzugehen, drängte sie mich, es doch zu tun.

›Geh nur‹, sagte sie, und es kam mir vor, als ob ein Ausdruck der Unruhe in ihre Augen trat. ›Ich wäre untröstlich, wenn du dir meinetwegen das Vergnügen versagen würdest. Amüsiere dich gut.‹

Abends legte sie mir selbst meinen Frack zurecht. Und ich ging.

Ich fuhr auch tatsächlich zum Ball, um auf alle Fälle dort gewesen zu sein, verließ ihn aber schon um ein Uhr wieder, während ich zu Hause meine Rückkehr auf drei Uhr in der Nacht angesagt hatte.

Um ein Uhr nahm ich mir ein Automobil und fuhr in die Viktoriastraße. An der Ecke stieg ich aus.

Das Haus lag in tiefem Schatten. Ich ging ein paar Mal daran vorüber, schwang mich über das Gitter eines der Vorgärten und drückte mich gegen die Mauer der Villa, die meinem Haus gegenüberliegt.

Die Straße war menschenleer. Am Himmel ballten sich schwarze Wolken, und kein Stern war zu sehen. In der Ferne hallte von Zeit zu Zeit der einsame Schritt eines nächtlichen Wanderers. Sonst war alles totenstill. Ich beobachtete unausgesetzt die Fenster meines Hauses, die in schweigendem Dunkel dalagen. Plötzlich hatte ich das Gefühl, als ob an den Fenstern meines Arbeitszimmers eine Veränderung vor sich gegangen sei. Einen Augenblick dachte ich vergeblich darüber nach, worin diese Veränderung wohl bestehe, dann wurde es mir in der nächsten Sekunde klar – die Vorhänge! Irgendjemand hatte soeben die Vorhänge zugezogen! Und als ich noch mit fiebernden Augen auf meine Fenster starrte … da … da … da flammte es plötzlich auf …«

»Das grüne Licht?«, fragte der Detektiv ruhig.

»Das grüne Licht. Ich stand wie gelähmt, Mr. Jenkins. Meine Augen irrten an der Front entlang und suchten vergeblich nach einer Lösung des Rätsels. Dann starrte ich wieder wie hypnotisiert auf die grüne Lichtflut, die da zu mir herniederdrang. Das Licht war nicht von gleicher Intensität. Manchmal schwoll es an, und ich glaubte, einen leise singenden Ton zu hören. Dann verminderte sich plötzlich die Leuchtkraft der Strahlen, und der Schein wurde ganz schwach und fahl, als ob in dem Zimmer eine winzige Nachtlampe brannte.

Um die Ecke kam in langsamer Fahrt eine Automobildroschke. Die hellen Azetylenscheinwerter erleuchteten im Vorüberfahren die beiden Häuserreihen mit einem blitzschnellen Reflex, und als sie an meinem Hause vorüberfuhr, fiel ein blendendheller, zitternder Lichtkegel über die Fenster meiner Wohnung. Und da stieß ich einen Schrei aus. Aus einem der Vorderfenster schaute der Kopf meiner Frau, die Blicke mit dem Ausdruck des Grauens auf die grünlich schimmernden Erkerfenster gerichtet. Auf das grüne Licht!«

»Wissen Sie genau, dass es der Kopf Ihrer Frau war?«

»Ganz genau, Mr. Jenkins. Und nie habe ich ein entsetzteres Gesicht gesehen, als das meiner Frau in diesem Augenblick. Einen Moment war ich dem Zusammensinken nahe, dann beschloss ich, der Sache auf den Grund zu gehen. Ich schüttelte meine Gedanken ab, stürzte zum Haus hinüber, schloss auf und ging leise die Treppen hinauf. Dann eilte ich mit ein paar Sätzen in mein Arbeitszimmer. Ich stieß es auf und fasste mich an den Kopf. Das Zimmer war dunkel und leer. War das der beginnende Wahnsinn?

Ich ging zu meiner Frau hinüber. Sie lag im Bett und schlief fest. Anscheinend.

›Hast du nicht eben das grüne Licht gesehen?‹, schrie ich und rüttelte sie am Arm. Sie schien aus tiefem Schlaf zu erwachen, lächelte und sagte schlaftrunken: ›Was hast du mit dem grünen Licht? Ich weiß nichts von einem grünen Licht!‹

Und da wusste ich, dass sie mich belog.«

Der Erzähler hatte geendet und starrte gedankenverloren vor sich hin.

»Wann war das?«, fragte der Detektiv. »Vorgestern Abend.«

»Hat sich inzwischen noch etwas ereignet?«

»Nein, Mr. Jenkins.«

»Haben Sie sich«, begann der Detektiv nach einer Pause, »irgendeine Meinung darüber gebildet, was das grüne Licht zu bedeuten hat? Und haben Sie versucht, einen Grund für das Verhalten Ihrer Frau zu finden?«

»Ich habe darüber gegrübelt, bis ich überhaupt nicht mehr fähig war, irgendeinen Gedanken zu fassen. Ich finde keine Erklärung. Keinen Anhalt. Nichts.«

»Nun«, sagte Mr. Jenkins nach einer Weile und stand auf, »ich denke, einiges kann ich Ihnen immerhin zur Erklärung sagen.«

Der Pensionatsbesitzer warf einen erstaunten Blick auf Mr. Jenkins und schüttelte ungläubig den Kopf.

»Ich wüsste nicht, Mr. Jenkins«, sagte er endlich, »wie Sie zu einer Erklärung dieser Dinge kommen sollten. Kennen Sie doch weder mich noch meine Frau.«

»Nein«, erwiderte der Detektiv. »Sie und Ihre Frau kenne ich nicht, aber ich glaube, etwas anderes zu kennen, worauf es hier ankommt: das Dokument.«

»Das Dokument?«, wiederholte der Pensionatsbesitzer verständnislos.

»Sie verstehen offenbar noch immer nicht, um was es sich hier handelt, Herr Wendland«, fuhr Joe Jenkins fort. »wissen Sie im Übrigen, was dieses Dokument enthielt?«

»Nein.«

»Es stellt einen geheimen Vertrag dar, geschlossen zwischen zwei europäischen Staaten: eben dem, dessen militärischer Attaché Herr Sanno ist, und einem anderen. Und nun hören Sie, was ich Ihnen sage, Herr Wendland. Dieser Vertrag ist vor drei Tagen einer feindlichen Regierung für eine halbe Million Franc angeboten worden. Dem Angebot lag eine Abschrift der ersten drei Seiten des Vertrages bei.«

Der Pensionatsbesitzer stieß einen dumpfen Schrei des Entsetzens aus, griff mit den Armen in die Luft und fiel kraftlos in einen Sessel. Erst nach einiger Zeit kam er wieder zu sich. Er öffnete mit sichtlicher Mühe die Lider und sah den Detektiv mit glasigen Augen an. »Sind Sie der Meinung«, fuhr dieser ruhig fort, »dass sich der Vertrag noch in Ihrem Besitz befindet?«

»Kein Zweifel«, antwortete der Gefragte mit matter Stimme. »Ich habe das Dokument noch heute gesehen. Bevor ich fortging.«

»Geht Ihre Frau heute aus?«

»Nein.«

»Wann pflegt sie schlafen zu gehen?«

»Um halb zwölf.«

»Ich möchte das Dokument sehen.«

Der Pensionsbesitzer zögerte einen Augenblick. »Nehmen Sie es mir nicht übel, Mr. Jenkins. Ich weiß nicht recht, ob ich berechtigt bin, Ihnen das Schriftstück zu zeigen.«

Mr. Jenkins blickte einen Augenblick zu Boden und sagte dann leise: »Herr Wendland, ich sehe, Sie haben die Situation noch immer nicht richtig erfasst. In dem Brief, den ich hier in der Tasche trage, steckt ein Haftbefehl. Wissen Sie, gegen wen er lautet? … Gegen Sie und Ihre Frau. Auf Ihnen beiden ruht der Verdacht, den Vertrag entwendet und dem fremden Staat angeboten zu haben. Es kostet mich ein Wort, und Sie sind verhaftet. Das Hotel ist umstellt. Wünschen Sie also, dass ich den Haftbefehl benutze, oder wollen Sie mit mir den Täter ermitteln?«

Der Pensionatsbesitzer rang eine Weile mühsam nach Atem. Schließlich sagte er mit sichtlicher Mühe: »Wenn die Sache so steht, Mr. Jenkins, dann muss ich natürlich tun, was Sie von mir verlangen. Was soll ich also tun?«

»Ihre Frau geht um halb zwölf schlafen. Sie werden solange bei mir bleiben und in der Zeit bis dahin mit mir unten im Restaurant eine Kleinigkeit essen. Dann werden wir zusammen in Ihre Wohnung fahren.«

Es mochte gegen halb zwei Uhr nachts sein, als Herr Wendland und sein Begleiter durch die stillen Straßen des Tiergartens schritten. Fern verklang dumpf das brandende Großstadtleben. Hier, kaum 200 Meter von der Peripherie, war es still und menschenleer. Ab und zu hallte die gedämpfte Hupe eines fernen Automobils herüber. Und je näher die beiden ihrem Ziel kamen, desto leiser und spärlicher klangen die Töne des Lebens zu ihnen herüber.

Die beiden Herren schritten langsam dahin. Beide in tiefen Gedanken. Die Häuser dieses vornehmen Stadtviertels lagen schon in tiefem Schweigen. Über den Straßen hing ein regenschwerer Himmel, und seufzender Nachtwind strich durch die alten Eschen.

»Hier ist die Viktoriastraße«, sagte Wendland und zog seinen Begleiter auf die andere Seite. Im nächsten Augenblick deutete der Pensionatsbesitzer mit der zitternden Hand auf ein Haus, das aus der dunklen Häuserreihe grell hervorstach. Der Detektiv folgte der Richtung des ausgestreckten Armes und zog die Brauen zusammen. Die zwei Eckfenster des gegenüberliegenden Hauses erstrahlten in smaragdgrünem Licht.

»Das grüne Licht«, sagte der Pensionatsinhaber mit zitternder Stimme.

»Haben Sie den Schlüssel bereit?«, fragte Joe Jenkins. »Dann kommen Sie schnell.«

Damit stürzten die beiden ins Haus und eilten die Stufen empor.

Wendland schloss die Haustür auf und stürzte voran, ins Arbeitszimmer. Er stieß die Tür auf und sah sich mit einem unbeschreiblichen Gesichtsausdruck um. Das Zimmer lag in tiefem Dunkel.

Mr. Joe Jenkins trat langsam ein, den Strahl einer Taschenlampe auf den Teppich gerichtet. »Bitte schalten Sie das Licht ein.«

Wendland tat es, und das Zimmer erstrahlte in mildem, gelbem Glühlicht.

»Hat dieses Zimmer einen zweiten Ausgang?«

»Ja, in unser Wohnzimmer.«

»Führen Sie mich hinein.«

Auch dies Zimmer war leer.

»Wohin führt diese Tür?«

»Ins Schlafzimmer meiner Frau.«

»Versuchen Sie zu erfahren, ob sie schon schläft.«

Der Pensionatsbesitzer klopfte an die Tür. Keine Antwort. »Meine Frau schläft schon«, sagte er in bitterem Ton. »Oder sie stellt sich schlafend. Ich habe einen Schlüssel zu dieser Tür. Wünschen Sie, dass ich öffne?«

Der Detektiv blickte einen Augenblick nachdenklich auf die Tür, sah dann dem Pensionatsbesitzer ins Gesicht und sagte mit hartem Gesichtsausdruck: »Nein.«

Die beiden Herren gingen schweigend über den Korridor und – wie auf Verabredung – wieder ins Arbeitszimmer zurück.

»Und nun«, begann Mr. Jenkins, »möchte ich den Vertrag sehen.«

Herr Wendland schloss den Geldschrank auf und entnahm ihm eine Aktentasche. Er öffnete sie, ein großes Kuvert lag darin. Mr. Jenkins nahm es in die Hand, wog es ein paar Mal und riss es mit einem Ruck auf.

Der Pensionatsbesitzer warf einen Blick auf den Inhalt und fuhr mit einem Schrei der Überraschung zurück.

In dem Kuvert lag eine Zeitung.

»Was wir eben hier festgestellt haben«, begann Mr. Jenkins nach einer Pause, »hat mich nicht überrascht. Ich war von vornherein überzeugt, dass wir das Dokument nicht mehr vorfinden würden. Ich möchte nun noch einiges von Ihnen wissen. Sie begleiten mich wohl die Treppe hinunter und gehen mit mir bis zu meinem Hotel. Wir können den kurzen Weg ganz gut zu Fuß zurücklegen.

Ich möchte gern einiges über Ihre Frau wissen, Herr Wendland«, begann Mr. Jenkins, als die beiden Herren durch die nächtlichen Straßen gingen. »Sie sind jetzt 43 Jahre alt, sagten Sie?«

»Ja.«

»Wie lange sind Sie verheiratet?«

»Seit fünf Jahren.«

»Sie war also 38, als Sie sie heirateten. Ein ziemlich spätes Alter.«

»Sie war Witwe.«

»Wie lange ist der erste Mann tot?«

»Seit neun Jahren.«

»Haben Sie seinen Totenschein gesehen?«

»Ich habe ihn in meinem Besitz«, antwortete der Pensionatsbesitzer, einigermaßen verwundert.

»Wie hieß er?«

»Kurt Kramer.«

»Wie heißt Ihre Frau mit Vornamen?«

»Margarete.«

»Hat Ihre Frau jemals Kinder gehabt?«

»Nie.«

Dann schritten die beiden wieder schweigend nebeneinander her, jeder seinen Gedanken nachhängend. Das Lichtmeer der Linden tauchte auf, und kurz darauf standen sie vor dem Hotel.

»Sie werden morgen von mir hören«, sagte Mr. Jenkins zum Abschied und reichte dem Pensionatsbesitzer die Hand. »Gute Nacht.«

Eben wollte der Detektiv den Hoteleingang betreten, als ihn jemand am Arm berührte. Als er sich umwandte, blickte er in das totenbleiche Gesicht Wendlands, der ihn mit angstvollen Augen ansah.

»Noch eins«, sagte er mit zitternder Stimme. »Ich sehe, alles spricht gegen meine Frau. Die Verdachtsmomente häufen sich von Stunde zu Stunde. Ich selbst werde ja irre an ihr. Und darum bitte ich Sie, Mr. Jenkins, Sie, der Sie tiefer sehen als gewöhnliche Sterbliche, sagen Sie mir das eine: Halten Sie meine Frau für schuldig?«

Der Detektiv wandte sich langsam nach dem Fragenden um, blickte einen Augenblick vor sich hin und sagte, indem er dem Pensionatsbesitzer voll ins Gesicht sah: »Nein!«

 

***

 

Am nächsten Morgen empfing Herr Wendland ein Telegramm. Erwarte Sie elf Uhr abends Hotel. J.J.

Mr. Jenkins war schon fertig zum Ausgehen gerüstet, als Wendland den Vorraum um 11 Uhr abends betrat.

»Sie werden heute Abend«, begann der Detektiv, als die beiden auf die Linden hinaustraten, »wahrscheinlich einiges zu sehen und zu hören bekommen, was Sie in Bestürzung versetzen wird. Darum möchte ich Sie daran erinnern: Die Dinge sehen oft schlimmer aus, als sie sind. Denken Sie daran, bevor Sie etwas unternehmen. Und nun, Kopf hoch! Und hoffen wir auf einen guten Ausgang.«

»Wohin fahren wir?«, fragte der Pensionatsbesitzer.

Statt aller Antwort winkte der Detektiv einem Chauffeur. »Manhattan-Bar.«

Das Auto sauste durch die nächtlichen Straßen des Berliner Westens. Hier pulsierte das heiße Leben der Großstadt. Mächtige Transparente leuchteten verführerisch durch die Nacht.

Das Auto der beiden Herren stoppte mit knirschendem Ruck. Joe Jenkins zahlte und zog seinen Begleiter in das Dunkel eines Hauses. Gegenüber leuchtete ein Transparent: Manhattan-Bar.

Das Nachtleben dieser Bar schien um diese Zeit noch im Anfangsstadium zu sein. Der Schwarze, der den Dreheingang zu bedienen hatte, räkelte sich gähnend an der Mauer und kam nur von Zeit zu Zeit gelangweilt herbei, um einen einzelnen Gast einzulassen. Von innen drangen die weichen Klänge der Zigeunermusik.

Joe Jenkins ging langsam über die Straße, nachdem er seinem Begleiter ein Zeichen gegeben hatte, zurückzubleiben. Er trat auf den Schwarzen zu und wechselte ein paar Worte mit ihm. Der Angeredete machte eine bejahende Kopfbewegung. Jenkins drückte ihm ein Geldstück in die Hand und kam langsam zurück. Auf seinem Gesicht lag ein Lächeln der Befriedigung. »Wir müssen warten«, sagte er, »aber ich denke nicht allzulange.«

Etwa eine halbe Stunde später fuhr vor der Bar ein Automobil vor, dem eine Dame in mittleren Jahren entstieg. Sie ging auf den schwarzen Portier zu und sprach mit ihm. Der Portier verschwand ins Innere der Bar. Die Angekommene ging wartend draußen auf und ab.

»Kennen Sie diese Dame?«, fragte Jenkins seinen Begleiter halblaut. Wendland, der erst jetzt auf die Angekommene aufmerksam geworden war, sah scharf hinüber und sagte plötzlich mit zitternder Stimme: »Meine Frau!« Im nächsten Augenblick wollte er über die Straße stürzen, als er sich von Jenkins mit festem Griff gepackt sah.

»Denken Sie an das, was ich Ihnen gesagt habe«, flüsterte der Detektiv, »und warten Sie!«

Ein paar Minuten waren vergangen, da kam aus der Bar ein junger Herr in Theatermantel und Frack und ging auf Frau Wendland zu, die er mit ziemlich verdrießlicher Miene begrüßte. Sie schien eifrig auf ihn einzureden, er nahm schließlich ihren Arm und die beiden gingen davon.

»Kommen Sie«, flüsterte Jenkins.

Langsam folgten die beiden dem Paar. Der Weg führte durch mehrere Querstraßen des Westens. Der Herr blieb plötzlich vor einem Haus stehen, zog einen Schlüssel aus der Tasche und verschwand mit seiner Begleiterin im Haus.

Mit erdfahlem Gesicht starrte Wendland auf das Schauspiel. Endlich zischte er mit wutbebenden Lippen: »Das hätte ich nie gedacht, Mr. Jenkins! Dass meine Frau mich betrügt! Diese schamlose Dirne! Und noch dazu mit einem so jungen Menschen! Ein unzweifelhafter, glatter Ehebruch! … Lassen Sie mich«, rief er, als Jenkins sich seines Armes bemächtigte, »ich muss die beiden überraschen! Lassen Sie mich los!«

Der Detektiv war dem anderen an Kräften weit überlegen. »Sie kommen nicht von der Stelle, Herr Wendland«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Denn Sie würden alles verderben. Warten Sie ab. Morgen früh werden Sie anders über diese Dinge denken!«

Es waren nicht mehr als zehn Minuten vergangen, als die Tür krachend aufflog und eine Dame aus dem Haus stürzte. In der Hand trug sie ein längliches Paket. Am nächsten Haus fiel der volle Lichtschein der Straßenlaterne über ihre Gestalt. Es war Frau Wendland. Gleich hinter ihr erschien der junge Herr in der Tür. Schon wollte er sich auf die Dame stürzen. Jetzt hatte er sie erreicht und an der Schulter gepackt. In diesem Augenblick stieß Jenkins seinen Begleiter an: »Kommen Sie!«

Die beiden rannten über die Straße, und im nächsten Moment hatte der Detektiv den jungen Herrn mit eisernem Griff gepackt. Eben wollte Wendland seinen Stock auf dessen Kopf niedersausen lassen, als Jenkins ihm in den Arm fiel.

»Schlagen Sie ihn nicht!«, rief er dem Verdutzten zu. »Es ist Ihr Stiefsohn!«

Der Pensionatsbesitzer prallte zurück und blickte bald auf seine Frau, bald auf den jungen Herrn, bald auf Jenkins. Frau Wendland stand einen Augenblick wie erstarrt, dann brach sie in bitterliches Weinen aus.

Mr. Jenkins nahm der Dame das längliche Paket aus der Hand, öffnete es und nickte.

»Ich sehe, Frau Wendland«, sagte er mit leiser Stimme, »Sie haben alles Menschenmögliche getan, um das begangene Unrecht wieder gutzumachen. Und ich will versuchen, Ihnen weiter zu helfen, damit diese Sache, wenn möglich, zu einem guten Ende geführt wird. Ich habe hier wohl das Vergnügen mit Ihrem Sohn aus erster Ehe, Herrn Fritz Kramer?«

Frau Wendland nickte schluchzend, der junge Mann sah den Detektiv finster an.

»Ich setze voraus«, fuhr Joe Jenkins fort, »dass Ihr Sohn offen und ehrlich gegen mich ist und mit der Wahrheit nicht hinterm Berg hält. Wollen Sie mir wahrheitsgemäß antworten?« Er wandte sich an den jungen Mann. »Natürlich nicht hier. Gehen wir in Ihre Wohnung.«

Der so in die Enge Getriebene wollte Einwendungen machen, als ihm Mr. Jenkins zuvorkam.

»Sehen Sie dort drüben die Männer?«, fragte er. »Die warten darauf, dass ich pfeife.«

Der junge Mann wandte sich zur Tür: »Kommen Sie!«

Sie traten in das Haus und schritten die Treppe hinauf.

In der zweiten Etage öffnete Fritz Kramer eine Wohnungstür und trat mit seinen Begleitern ein.

»Zunächst«, begann Mr. Jenkins, »will ich Ihnen erklären, auf welche Weise ich von Ihrer Existenz erfahren habe. Heute Morgen habe ich mich vor allen Dingen bei der Behörde über die Personalien der Frau Wendland erkundigt. Da fiel mir eine Unstimmigkeit auf. Herr Wendland hat mir erzählt, seine Frau sei kinderlos. Aus den Akten geht aber hervor, dass sie einen Sohn aus erster Ehe hat. Welchen Grund konnte sie haben, die Existenz dieses Sohnes zu leugnen, der jetzt 24 Jahre alt ist? Es gab nur eine Erklärung: Dieser Sohn war – Sie entschuldigen wohl, Herr Kramer – ein Taugenichts. Diese Annahme ist mir durch meine Nachforschungen bei den Behörden nun allerdings in ungeahntem Maße bestätigt worden. Dieser hoffnungsvolle junge Mann ist nacheinander Ingenieur, Kaufmann, Steward, Schreiber gewesen. Dann ist er ins Ausland gegangen und hat eineinhalb Jahre in der französischen Fremdenlegion gedient. Dort ist er desertiert und vor zwei Monaten nach Berlin zurückgekommen. Hier haben ihn seine Wirtsleute ordnungsmäßig gemeldet: Paulanerstraße 25. Die Vermutung lag gewiss nahe, dass zwischen den nächtlichen Ausflügen der Frau Wendland und der Anwesenheit dieses verheimlichten Sohnes ein Zusammenhang bestand. Offenbar wusste ihn die Mutter in schlechter Gesellschaft – ich höre, er ist Stammgast der Manhattan-Bar – und versuchte, wenig erfolgreich, ihn zu einem arbeitsamen Leben zurückzuführen. Dann kam die Krankheit des Militärattachés, und der Sohn hörte wahrscheinlich durch seine Mutter von dem zurückgelassenen Dokument. In ihm tauchte der Gedanke auf: Wenn du den Inhalt erführst! Dann könntest du mit einem Schlag ein reicher Mann sein, und alles Arbeiten hätte ein Ende! Wie er daran ging, diesen Plan auszuführen, werden Sie gleich hören.

Eine der prominentesten Erscheinungen dieser Affäre ist das grüne Licht, von dem wiederholt die Rede war. Nun, ich habe mich heute Abend, in Abwesenheit dieses jungen Herrn, ein wenig in seiner Wohnung umgesehen. Und da habe ich mit einiger Mühe eine erschöpfende Erklärung für das nächtliche grüne Licht gefunden. Kommen Sie mit.«

Mr. Jenkins führte seine Zuhörer ins Nebenzimmer, wo er auf einen Schrank zuging. Diesem entnahm er einen größeren Apparat, den man im dunklen Raum nicht erkennen konnte. Ein schnappendes Geräusch wie vom Anknipsen eines Schalters – und eine längliche Röhre erstrahlte in magisch grünem Licht.

»Erkennen Sie, was es ist?«, fragte Jenkins nach einer Pause den Pensionatsbesitzer, der mit großen Augen auf die Erscheinung starrte. »Es ist eine Quecksilberdampflampe in Verbindung mit einem fotografischen Apparat. Damit hat Herr Kramer, Ihr Stiefsohn, in den Nächten, in denen Sie abwesend waren, Blatt für Blatt des geheimen Dokuments fotografiert. Das Licht des Quecksilberdampfes hat bekanntlich eine starke chemische Wirkung, die es besonders zum Fotografieren geeignet macht. Der junge Mann hatte – das muss ich zu seiner Ehre sagen – ursprünglich nicht die Absicht, den Vertrag zu stehlen. Er wollte ihn nur abschreiben, oder richtiger gesagt, fotografieren. Da Sie ihn aber mehrere Male gestört haben, so hat er sich gestern Abend entschlossen, den Vertrag einfach mitzunehmen. Denn nachdem er die ersten Seiten fotografiert und seinem Angebot an die fremde Regierung als Beleg beigegeben hatte, musste er mit der Möglichkeit rechnen, dass man ihm den Vertrag tatsächlich abkaufen würde. Um zu dem Geldschrank zu gelangen, bedurfte es eines Nachschlüssels. Diesen hat er sich wahrscheinlich anfertigen lassen mithilfe Ihres eigenen Schlüssels, den Sie wohl von Zeit zu Zeit Ihrer Frau zurücklassen. Ob mit Wissen der Mutter oder ohne ihre Einwilligung, will ich nicht untersuchen.«

»Es war ohne mein Wissen«, sagte Frau Wendland und warf einen traurigen Blick auf ihren Sohn.

»Herr Kramer ist jedes Mal, wenn er Sie kommen hörte, mit seinen Apparaten in das Zimmer seiner Mutter geflüchtet und hat dort vermutlich die Nacht unter ihrem Bett zugebracht. Sie sind dadurch, wenn auch wider Willen, zu seiner Mitschuldigen geworden, gnädige Frau. Und ich gestehe Ihnen: Ich weiß selbst noch nicht recht, was ich tun werde.«

Frau Wendland starrte schweigend vor sich hin.

»Die Hauptsache, das Verbrechen selbst, ist glücklicherweise unterblieben. Auch dürfte die Kenntnis vom Inhalt des Dokuments Ihren Sohn wahrscheinlich nicht viel klüger gemacht haben. Denn ich vermute, dass er die betreffende Sprache gar nicht versteht. Darum wohl hat er den Inhalt auch nicht abgeschrieben, sondern fotografiert. Stimmt es, Herr Kramer?«

»Ja«, antwortete dieser finster.

»Schließlich«, fuhr Jenkins fort, »ist es nicht meine Aufgabe, diesen Jungen Mann ins Unglück zu bringen, sondern lediglich, das Dokument wieder herbeizuschaffen … Ich will Ihnen einen Vorschlag machen.« Er wandte sich an Fritz Kramer. »Sie sind Seemann gewesen?«

»Jawohl, Mr. Jenkins.«

»Haben Sie Lust, als Matrose in die amerikanische Handelsmarine einzutreten?«

Der junge Mann sah einen Augenblick zu Boden, richtete dann einen leuchtenden Blick auf den Detektiv und sagte: »Das möchte ich gern. Leider ist das Angebot sehr groß.«

»Nun«, sagte Mr. Jenkins, »ich denke, ich kann Ihnen die Gelegenheit, sich zu rehabilitieren, verschaffen. Und nun gestatten Sie, gnädige Frau, dass ich dieses Dokument an mich nehme. Denn Sie haben es doch wohl Ihrem Sohn eben abgenommen, um es in den Geldschrank zurückzulegen.«

Frau Wendland nickte und gab Mr. Jenkins das Paket.

»Ich werde es also morgen früh der rechtmäßigen Besitzerin, nämlich der Gesandtschaft, zurückerstatten«, fuhr Jenkins fort. »Und nun zu Ihnen, Herr Wendland. Ich denke, Sie haben keine Ursache, Ihrer Frau zu grollen. Im Gegenteil, ich hoffe, Sie werden sie mit offenen Armen wieder aufnehmen und ihr nicht zürnen, dass sie, als ein schwacher Mensch, einen Augenblick zwischen den beiden heiligsten Empfindungen des Menschenherzens geschwankt hat – zwischen der Liebe zu ihrem Sohn und der Treue zu ihrem Gatten.«