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Detektiv Schaper – Das graue Gespenst – 7. Kapitel

Detektiv-SchaperM. v. Neuhof
Detektiv Schaper
Zweiter Teil
Das graue Gespenst
7. Kapitel
Die Leidensgeschichte einer Frau

Der Angestellte des Detektivinstituts hatte über Charlotte Wendel nichts in Erfahrung bringen können. Auf Gersters Bitten hin ließ Schaper jedoch seine Hilfskraft noch vorläufig in der Isarstadt, damit der äußerst gewandte Mensch hier ebenfalls Erkundigungen nach dem Verbleib Frau Deprouvals einziehen könne.

Der Luxuszug, den die beiden Herren benutzten, war, wenigstens was die Raucherabteile betraf, nur wenig besetzt. Schaper, der sozusagen auf der Eisenbahn zu Hause war, da sein Beruf ihn ständig von einem Ort zum anderen hetzte, hatte dem Schaffner durch ein Trinkgeld einen deutlichen Wink gegeben, dass sie gern in ihrem Abteil allein bleiben möchten. Während der Schriftsteller dann die neuesten Zeitungen durchblätterte, las der Detektiv die eng beschriebenen Seiten, auf denen die Leidensgeschichte einer armen Frau verzeichnet stand.

 

Meine Geburtsstadt ist Hamburg. Dort betrieb mein Vater Ferdinand Tomsen ein gut gehendes Kaffee-Engrosgeschäft. Meine Eltern, deren einziges Kind ich blieb, ließen mir eine vorzügliche Erziehung zuteilwerden, obwohl sie es mit meinem etwas eigenwilligen Charakter nicht ganz leicht hatten. Als ich gerade sechzehn Jahre geworden war, starb mein Vater. Meine Mutter, eine stille, feine Frau, die sich viel literarisch beschäftigte, verkaufte die Firma und zog mit mir in einen Meerort hinaus. Unser kleines Heim war bald der Mittelpunkt eines Kreises von Künstlern und Gelehrten, die zum größten Teil begeisterte Anhänger des Spiritismus – geradeso wie auch meine Mutter – waren. Jede Woche wurden in unserem Salon mithilfe eines wirklichen Mediums, das später als Betrügerin entlarvt wurde, spiritistische Sitzungen abgehalten. Meine Mutter wurde durch diese Sitzungen, in denen unter anderem auch der Geist meines Vaters des Öfteren erschienen sein soll, derart nervös und reizbar, dass ich sie flehentlich bat, ihre Verbindungen mit den Spiritlistenkreisen abzubrechen. Doch sie war bereits so tief in die Rätsel dieser mit übernatürlichen Dingen sich beschäftigenden Glaubenslehre verstrickt, dass sie auf meine gut gemeinten Ermahnungen nicht mehr hörte. Zu den Gästen, die ständig in unserem Haus verkehrten, gehörte nun ein junger Amerikaner, der sich angeblich zur Erlernung der deutschen Sprache und Gewerbebetriebe in Hamburg aufhielt. Charles Deprouval entstammte einer im 18. Jahrhundert nach den Vereinigten Staaten ausgewanderten Familie. Seine Manieren, sein einschmeichelndes Wesen, nicht minder sein anziehendes Äußeres verschafften ihm überall Eingang in die besten Kreise der sonst sehr zurückhaltenden Hamburger Gesellschaft. Auch Deprouval war Spiritist, aber wohl kaum aus Überzeugung. Mich, das damals siebzehnjährige Mädchen, behandelte er mit einer achtungsvollen Herzlichkeit, die mir wohltat, da ich fast gar keine Freundinnen besaß. Bald merkte ich, dass sein Interesse für meine Person nicht so ganz harmlos war, dass er … als Bewerber um meine Hand auftrat. Mir, dem unerfahrenen, halben Kind, schmeichelten diese Huldigungen eines Mannes, dem die Frauen allerlei Freiheit gestatteten und der doch achtlos an ihnen vorüberzugehen schien. Eines Morgens – es war nach einer am Abend vorher abgehaltenen spiritistischen Sitzung – sagte mir meine Mutter, dass mein Vater ihr durch das Medium habe raten lassen, sie solle Charles Deprouvals Bewerbung um meine Hand unterstützen. Diese Erklärung des geliebten Toten war ausschlaggebend. Obwohl ich in des jungen Amerikaners Nähe stets ein gewisses Gefühl ängstlicher Scheu empfand, verlobte ich mich dennoch mit ihm. Jetzt, als seine Braut verlangte ich zu den spiritistischen Sitzungen sofort zugelassen zu werden. Ich wollte mir eben persönlich ein Urteil über die Phänomene, die sich in den Sitzungen zeigten, bilden. Doch mein Bräutigam schlug mir meine Bitte rundweg ab. Ich sei noch zu jung, meinte er. Und dabei blieb es.

Mein achtzehnter Geburtstag war auch mein Hochzeitstag. Wir bezogen eine Wohnung gegenüber der Villa meiner Mutter und hatten dann schon am dritten Tag unserer Ehe den ersten heftigen Streit miteinander. Mein Vater war nämlich so vorsichtig gewesen, mir über mein Erbteil im Betrag von 130.000 Mark erst vom vollendeten 21. Jahr ab die freie Verfügung zu gewähren. Diese Bestimmung stand in seinem Testament. Und daran war nicht zu rütteln. Nur die Zinsen konnte ich nach Gutdünken verbrauchen. Mein Gatte, der hiervon keine Ahnung besaß und in dem Glauben gelebt hatte, dass das Vermögen mir uneingeschränkt gehöre, machte mir eine furchtbare Szene, als ich ihm die Wahrheit mitteilte, die ihm nur durch einen Zufall bisher verborgen geblieben war. Er verlangte dann von mir, ich solle in Hinblick auf die spätere mir frei zur Verfügung stehende Summe ein Darlehen von 30.000 Mark aufnehmen, da er sich an einem überseeischen Geschäft finanziell zu beteiligen wünsche. Um des lieben Friedens willen erklärte ich mich einverstanden. Aber mein Vormund, ein Hamburger Justizrat, der zufällig von meiner Absicht hörte, widersprach und die Sache zerschlug sich. Seitdem hatte ich wahre Höllentage durchzumachen. Bereits nach einem Monat waren mir hinsichtlich des wahren Charakters meines Gatten alle Illusionen geschwunden. Einzelheiten will ich verschweigen. Dabei war Charles ein so schlauer Heuchler, dass er mich in Gegenwart Dritter stets mit größter Zärtlichkeit behandelte und so den Eindruck hervorrief, als ob unsere Ehe durch kein Wölkchen getrübt sei.

Zu meines Gatten engsten Freunden gehörten zwei Amerikaner, die ich von vornherein mit starkem Misstrauen beobachtete. Es waren dies ein gewisser Doktor Timpsear und ein angeblicher Weltreisender Thomas Shepperley. Welcher Art die Beziehungen waren, die diese drei Männer verbanden, vermochte ich nicht festzustellen. Jedenfalls wurden Timpsear und Shepperley dann sehr bald in den Spiritistenkreis eingeführt. Und nun begann die Zeit, an die ich nur mit Schaudern zurückdenken kann.

Auf Dr. Timpsears Veranlassung wurden die Sitzungen im Haus meiner Mutter jetzt dreimal wöchentlich abgehalten. Diese, die ohnehin mit ihren Nerven dicht vor dem völligen Zusammenbruch stand, war infolge der ständigen Aufregungen, die die Geistererscheinungen verursachten, bald dem Irrsinn nahe. Umsonst flehte ich meinen Gatten an, Rücksicht auf meine Mutter zu nehmen. Mit heuchlerischen Worten suchte er nur klarzumachen, dass er keinen Einfluss auf sie besitze. Dies war eine direkte Lüge. Mich hatte er freilich mit der Zeit völlig aus ihrem Herzen verdrängt, dafür aber selbst eine Macht über sie erlangt, die man geradezu dämonisch nennen kann.

Dann kam der Schreckenstag. Urplötzlich brach bei meiner Mutter der Wahnsinn aus. In diesen Zustand nahm sie Gift, nachdem sie einen Brief geschrieben hatte, der nur die Worte enthielt. »Ich tue es, um mit ihm, der sich so nach mir sehnt, dauernd vereint zu sein.«

Nach dem Begräbnis fand die Eröffnung des Testaments der unglücklichen Frau statt. Es war ein sogenanntes eigenhändiges Testament, und es besagte, dass ich auf das Pflichtteil gesetzt und mein Gatte der Universalerbe sei. Gegen meinen Willen focht mein Vormund diese letztwillige Verfügung unter der Einwendung an, die Erblasserin sei bei Niederschrift der Urkunde nicht mehr zurechnungsfähig gewesen. Ein ganzes Jahr dauerte der Prozess, der von meinem Vormund für mich gewonnen wurde. In den Verhandlungen kamen Dinge zur Sprache, die mir bewiesen, dass Charles nichts weiter war, als ein gewissenloser Erbschleicher, der mithilfe der spiritistischen Sitzungen und des von ihm bestochenen Mediums meine Mutter seinen Wünschen gefügig gemacht hatte. Leider waren seine beiden Haupthelfer Timpsear und Shepperley, als sie kaum von dieser für sie so ungünstigen Wendung erfuhren, schleunigst geflohen. Sonst hätte der Staatsanwalt wohl genügend Belastungsmaterial gegen die drei Freunde zusammenbekommen, um sie unter Anklage zu stellen.

Gleich nach diesen Vorfällen reichte ich gegen meinen Gatten, obwohl inzwischen mein unglückliches Kind geboren war, die Scheidungsklage ein. Bei dem Versöhnungstermin vor dem Richter verstand er es jedoch noch einmal, mich mit schönen Worten zu umgarnen. Flehentlich bat er mich, ich solle doch im Interesse unseres Kindes bei ihm bleiben. Ich gab schließlich nach, trotzdem mein Vormund mich dringend warnte. Freilich hatte ich meinem Gatten erklärt, dass wir nie mehr zusammen, sondern nur nebeneinander leben könnten. Und so geschah es auch. Wir sahen uns nur zu den Mahlzeiten. Jeder hatte seine Zimmer, die er bewohnte.

Da das Vermögen meiner Mutter mir zugefallen war, konnten wir, obwohl ich von beiden Erbschaften vorläufig nur die Zinsen uneingeschränkt verbrauchen durfte, weil das Gericht aus Vorsicht auch über mein Muttererbteil in dieser Weise entschieden hatte, recht behaglich leben. Charles, der früher stets behauptet hatte, selbst begütert zu sein, ließ sich von mir völlig unterhalten. Irgendeine feste Anstellung hatte er nicht. Es war mir auch gleichgültig.

Dann merkte ich eines Tages, dass die Schokolade, die ich zum Frühstück trank, sehr sonderbar schmeckte. Argwöhnisch, wie ich war, goss ich sie fort und schickte nur ein Fläschchen von dem Inhalt der Tasse einem Chemiker zur Untersuchung. Zwei Tage später hatte ich den Bescheid. Die Schokolade war stark mit Arsenik durchsetzt. Das Gift würde genügt haben, einen Menschen zu töten.

Durch Befragen der mir treu ergebenen Köchin erfuhr ich, dass mein Mann sich damals in der Küche etwas zu schaffen gemacht habe, als bereits die Tasse Schokolade für mich auf dem Tablett stand.

Dies genügte mir. Kurz entschlossen schrieb ich ihm einen Brief, indem ich ihm den Vorschlag machte, er solle für immer ins Ausland gehen. In diesem Fall würde ich ihm zur Begründung einer Existenz 30.000 Mark in bar auszahlen. Sollte er sich dagegen weigern, so könne er gewiss sein, dass ich abermals auf Scheidung unserer Ehe dringen würde, die ich jetzt infolge neuen Belastungsmaterials gegen ihn ohne Weiteres auch erreichen würde. Inzwischen war ich mit meinem Kind aus Angst vor weiteren Nachstellungen zu einer Freundin gezogen.

Umgehend traf seine Antwort ein. Er war einverstanden.

Im Büro meines Vormundes wurde dann eine Urkunde aufgesetzt, in der mein Mann sich gegen Zahlung der genannten Summe verpflichtete, nie mehr nach Deutschland zurückzukehren und außerdem auf die Erbschaft nach meinem Tod verzichtete. Letzteres zu unterzeichnen sträubte er sich sehr lange. Aber mein Vormund bestand darauf – wohl in meinem Interesse, damit mein Leben nicht weiter von diesem Menschen, der beinahe zum Giftmörder geworden war, aus habsüchtigen Motiven bedroht sein solle.

Wenn Sie, lieber Freund, für den ich diese mich teilweise so tief demütigende Geschichte niederschreibe, mich fragen – und das liegt ja so nahe, weshalb ich mich von meinem Gatten unter diesen Umständen nicht scheiden ließ, so antworte ich ehrlich: lediglich meines Kindes wegen!

In dem Prozess hätte die vergiftete Schokolade fraglos eine große Rolle gespielt. Alle Welt hätte erfahren, welch ein verworfener Charakter der Vater meines kleinen Richard war, dieser Vater, der des versuchten Giftmordes wegen unfehlbar für lange Jahre ins Zuchthaus gewandert wäre. Und das alles wollte ich dem unschuldigen Kind ersparen. Es sollte sich später seines Namens nicht zu schämen brauchen, nicht den Schimpf mit sich herumschleppen, dass der, dem er sein Leben verdankte, für alle Zeit gebrandmarkt sei.

Freilich, wenn ich damals schon gewusst hätte, wie es um die geistigen Fähigkeiten meines Kindes stand, eben dass es niemals auch nur Durchschnittsintelligenz besitzen würde, dann … dann … Doch nun ist es zu spät!

Mein Mann verließ Europa. Vier Jahre lang hörte ich nichts von ihm, nichts. Und dann kam jener Vormittag, an dem wir beide auf dem Bootssteg standen und zu der gescheiterten Brigg hinüberschauten, an dem Sie mich plötzlich stützen mussten, da eine Anwandlung von Schwäche mich befiel. Sie ahnten nicht, aus welchem Grund mir plötzlich die Sinne zu schwinden drohten.

Der, den das Boot der Fischer als einzigen Geretteten an das Land brachte, war er – er.

Auch er muss mich erkannt haben. Ich sah das Erschrecken in seinen Mienen, sah, wie er sich bückte, sein Gesicht zu verbergen suchte. Und das Boot machte kehrt, ruderte zum Schiff zurück. Er wollte mir also ausweichen.

Die Vergangenheit war lebendig geworden. Und vor dieser Vergangenheit flüchtete ich noch an demselben Tag nach München zurück.

Der, den ich meinen Gatten nennen muss, hat bis jetzt nichts von sich hören lassen. Ich fürchtete, dass er mir schreiben, vielleicht selbst zu mir kommen würde. Tage sind seitdem vergangen. Ich wage aufzuatmen.

Das ist meine Lebensgeschichte. Die letzten Absätze habe ich erst soeben hinzugefügt. Nun wissen Sie alles.

 

Langsam faltete Fritz Schaper die Briefbogen zusammen und schob sie in den Umschlag zurück.

»Arme Frau«, sagte er leise, als er den Brief Heinz Gerster dann zurückreichte. »Ihr hat der richtige Berater gefehlt. Längst – längst hätte sie sich von diesem Schurken freimachen müssen. Allerdings, auch ihre Furcht vor einem öffentlichen Skandal, den dieser Ehescheidungsprozess sicher heraufbeschwören würde, ist verständlich.«

Der junge Schriftsteller nickte traurig vor sich hin.

»Wenn sie sich mir nur früher anvertraut haben hätte«, meinte er aufseufzend.

Schaper streckte ihm tröstend die Hand hin. »Lieber Gerster, dass die Frau es nicht tat, geschah doch nur deswegen, weil sie fürchtete, dass ein gewisser Jemand mit der Gattin eines solchen hartgesottenen Verbrechers nichts mehr gemein haben wolle. Die Frau liebt Sie. Und sie wollte sich wenigstens Ihre Freundschaft erhalten …«

»Welche Torheit, welche Kurzsichtigkeit«, murmelte der andere wehmütig. »Ich würde sie heiraten, und wenn ihr Mann ein Mörder wäre …«

»Vielleicht ist er es auch«, sagte Schaper ernst.