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Die Geschichte vom Werwolf Teil 7

Die-Geschichte-vom-WerwolfDie Geschichte vom Werwolf
Eine Volkssage, erzählt von Alexandre Dumas
Nach dem französischen Manuskript von Dr. G. F. W. Rödiger

Kapitel 7
Das Haar des Teufels

Die Rüdenknechte, welche nun über den Gesundheitszustand ihres Herrn beruhigt waren, ritten fort, um die Hunde zu suchen, die der Spur des Wildes gefolgt waren.

Sie fanden sie am Boden hingestreckt und schlafend an einem Ort, wo die Erde gerötet war. Die Hunde hatten offenbar den Damhirsch eingeholt, gefangen und gefressen. Jeder Zweifel, den die Jäger noch hätten haben können, wurde gelöst durch das Geweih, welches nebst einigen Knochen von dem Schmaus übriggeblieben war. Die Hunde schienen also von der ganzen Jagdgesellschaft allein Ursache zur Zufriedenheit zu haben.

Man sperrte sie in Thibauts Stall, und da der Junker de Vez noch schlief, so dachten die Jäger an das Abendessen. Sie nahmen dem armen Teufel alles Brot aus der Truhe, steckten die Ziege an den Bratspieß und luden Thibaut höflich ein, an der von ihm gelieferten Mahlzeit teilzunehmen.

Thibaut lehnte es ab, unter dem sehr glaubwürdigen Vorwand, dass er sich von dem Schrecken, den ihm der Tod Marcottes und der Schlagfluss des Barons verursacht hatte, noch nicht erholt habe. In der Tat aber ging er mit dem Gedanken um, das elende Leben, welches ihm die beiden letzten Tage noch unerträglicher gemacht hatten, mit einem angenehmeren Dasein zu vertauschen.

Zu allererst dachte er an Agnelette. Gleich wie die Kinder im Traum gute Engel vorüberschweben sehen, sah er sie im Geist beständig im weißen Gewand und mit weißen Flügeln, und im Hintergrund den klaren blauen Himmel. Sie schien sehr heiter und glücklich, und winkte ihm mit der Hand, als hätte sie sagen wollen: »Wer mir folgt, wird sehr glücklich sein.«

Aber Thibaut antwortete der lieblichen Erscheinung mit einem Kopfschütteln und Achselzucken, womit er sagen wollte: »Ja, ja, Agnelette, ich kenne dich wohl. Gestern wäre ich dir vielleicht gefolgt, heute aber gebiete ich über Leben und Tod. Ich werde mich hüten, einer albernen Liebe zu frönen. Ich soll dein Mann werden, arme Agnelette? Was fällt dir ein? Ich sollte mir eine noch größere Last aufbürden, als ich schon zu tragen habe, statt mir das Leben angenehm zu machen? Du wärest ein reizendes Liebchen, aber zur Frau kann ich ein armes Mädchen nicht brauchen. Meine Braut muss so viel an Geld mitbringen, wie ich an Macht besitze.«

Sein Gewissen sagte ihm freilich, dass er Agnelette sein Wort gegeben hatte, aber er dachte, ein Wortbruch von seiner Seite wäre ein Glück für das arme Mädchen. Kurz, er kam immer wieder auf den Gedanken zurück, er müsse sein lächerliches Versprechen vergessen. Überdies war in der Mühle zu Cayolles eine schöne Müllerin, deren Bild dem neuen Entschluss Thibauts nicht ganz fremd war. Es war eine junge Witwe von sechsundzwanzig bis achtundzwanzig Jahren, frisch und blühend, mit feurigen, schelmischen Augen. Sie galt für die reichste Partie der ganzen Gegend. Zu andern Zeiten würde Thibaut nie gewagt haben, seine Blicke zu Madame Polet zu erheben. Er war selbst ganz erstaunt, dass er noch nicht an die schöne Müllerin gedacht hatte. Er erinnerte sich wohl, dass er schon an sie gedacht hatte, aber ohne Hoffnung. Heute hingegen hielt er es mit der übernatürlichen Gewalt, von der er bereits einen Beweis gehabt hatte, für ein Leichtes alle Nebenbuhler zu beseitigen und seinen Zweck zu erreichen.

Die Müllerin zu Cayolles stand freilich in dem Ruf einer etwas zänkischen und herrschsüchtigen Person, aber Thibaut dachte, mithilfe seines mächtigen Verbündeten dürfe er sich um den kleinen Teufel, von welchem Madame Polet vielleicht besessen war, nicht allzu viel kümmern.

Als der Tag anbrach, war er entschlossen, sich nach Cayolles zu begeben, denn alle Visionen zeigten sich natürlich in der Nacht.

Der Junker Jean de Vez erwachte mit dem ersten Zwitschern der Vögel. Er fühlte sich völlig wieder hergestellt und neu gestärkt. Nachdem er also seine Leute mit der Hetzpeitsche geweckt und die Leiche Marcottes in das Schloss Vez geschickt hatte, erklärte er, dass er, um nicht mit leeren Händen heimzukehren, eine Saujagd halten wolle.

Um sechs Uhr früh verließ er das Hans Thibauts mit der Versicherung, dass er dankbar sein werde für die Gastfreundschaft, die er samt seinen Hunden und Hundejungen in der bescheidenen Hütte gefunden hatte. Er beteuerte mit einem derben Fluch, dass er seinen kleinen Groll gegen Thibaut vergessen habe.

Dem Letzteren ward leicht ums Herz, als der Wolfsjägermeister mit seinem Gefolge fort war. Er betrachtete eine kleine Weile seine verwüstete Wohnung, seine leere Truhe, seine zerbrochenen Hausgeräte, seinen verödeten Stall und den mit Scherben und Knochen bedeckten Erdboden. Aber er dachte, wo ein großer Herr hause, könne es nicht anders sein, und die Zukunft erschien ihm zu rosig, als dass er bei diesem Anblick lange hätte verweilen mögen. Er zog seine Sonntagskleider an, putzte sich so gut wie möglich, aß den letzten Bissen Brot, nagte einen übrig gelassenen Knochen von dem Ziegenbraten ab, löschte an der Quelle seinen Durst und begab sich auf den Weg nach Cayolles.

Thibaut war entschlossen, sofort bei der Müllerin sein Glück zu versuchen. Aber sonderbar! Statt den kürzesten Weg zu nehmen, machte er einen langen Umweg. Er kannte doch den Wald von Villers-Cotterets so gut wie ein Schneider die Taschen kennt, die er macht. Warum ging er nicht den geraden Weg nach Cayolles! Weil es ihn unwillkürlich zu der Stelle hinzog, wo er Agnelette zum ersten Mal gesehen hatte.

Unweit Laferté-Milon bemerkte er wirklich die kleine Agnelette, welche Gras schnitt. Er hätte weiter gehen können, ohne von ihr gesehen zu werden, denn sie kehrte ihm den Rücken zu. Aber der Dämon der Begierde reizte ihn und er ging auf sie zu.

Agnelette hörte Fußtritte, sie sah sich um und erkannte Thibaut. Sie errötete, aber zugleich nahm ihr Gesicht den Ausdruck ungeheuchelter Freude an. Thibaut hatte daher gar keinen Grund, dieses Erröten zu seinem Nachteil zu deuten. »Da seid Ihr ja!«, sagte sie. »Ich habe viel an Euch gedacht und für Euch gebetet.«

Thibaut erinnerte sich wirklich, dass sein Traumgesicht mit gefalteten Händen zum Himmel emporgeschwebt war.

»Wie kommt es denn«, fragte Thibaut mit vornehmer, ungezwungener Miene, wie ein junger Hofkavalier. »Wie kommt es denn, dass du an mich gedacht und für mich gebetet hast?«

Agnelette sah ihn mit ihren großen blauen Augen an. »Ich habe an Euch gedacht, weil ich Euch gut bin, Thibaut«, sagte sie. »Ich habe für Euch gebetet, weil ich das Unglück erfahren habe, das dem Junker Jean und seinem Jäger zugestoßen ist, und man sagte, die ganze Jagd sei bei Euch eingekehrt und hause schrecklich in Eurer Hütte. Ach! Wenn ich meinem Herzen gefolgt wäre, so wäre ich Euch schnell zu Hilfe geeilt.«

»Du hättest nur kommen sollen, Agnelette. Du würdest lustige Gesellschaft gefunden haben.«

»Um die Gesellschaft wäre mir’s nicht zu tun gewesen, ich hätte Euch gern geholfen, sie zu bewirten. Aber Ihr habt ja einen schönen Ring am Finger.«

Thibaut war ganz betroffen. Agnelette wandte sich seufzend ab.

»Vermutlich ein Geschenk von einer schönen Dame?«, stammelte sie.

»Nein, Agnelette«, erwiderte Thibaut mit der Dreistigkeit eines geschickten Lügners. »Du irrst dich, es ist unser Verlobungsring, der Ring, den ich gekauft habe, um ihn dir an unserem Hochzeitstag an den Finger zu stecken.« Agnelette schüttelte traurig den Kopf. »Warum sagt Ihr mir nicht die Wahrheit, Thibaut?«, fragte sie.

»Ich sage dir ja die Wahrheit, Agnelette.«

»Nein«, erwiderte sie und schüttelte noch trauriger den Kopf.

»Warum vermutest du denn, dass ich lüge?«

»Weil dieser Ring so weit ist, dass ich zwei meiner Finger hineinstecken könnte.«

Sie hatte recht, zwei ihrer Finger waren nicht stärker als ein Finger Thibauts.

»Wenn er zu weit ist, Agnelette«, sagte er, »so lassen wir ihn enger machen.«

»Adieu, Thibaut!«

»Wie, Adieu? Du willst fortgehen?«

»Ja.«

»Warum denn?«

»Weil ich die Lügner nicht leiden kann.«

Thibaut besann sich auf einen Schwur, um Agnelette zu beruhigen, aber er zerbrach sich vergebens den Kopf, er fand keinen.

»Hört«, sagte Agnelette mit Tränen in den Augen, denn sie entfernte sich nicht ohne großes Widerstreben. »Wenn dieser Ring wirklich für mich bestimmt ist …«

»Agnelette, ich schwöre dir’s.«

»Nun, gebt mir ihn aufzubewahren, bis zu unserem Hochzeitstag, dann gebe ich ihn zurück …«

»Ich gebe ihn dir herzlich gerne, Agnelette«, antwortete Thibaut, »aber ich will ihn an deiner Hand sehen. Du hast vollkommen recht, er ist zu weit für deine Finger. Ich gehe heute nach Villers-Cotterets, wir wollen das Maß von deinem Finger nehmen, und der Goldarbeiter soll den Ring kleiner machen.«

Agnelette begann wieder zu lächeln, und die Tränen verschwanden schnell in ihren Augen. Sie reichte Thibaut die Hand. Er drückte einen Kuss darauf.

O, lasst das, Thibaut«, sagte Agnelette, »meine Hand ist nicht schön genug zum Küssen.«

»Nun, dann biete mir etwas anderes zum Kuss.« Agnelette bot ihm die Stirn und sagte mit kindischer Freude: »Lass den Ring sehen.«

Thibaut zog den Ring vom Finger und wollte ihn scherzend auf Agnelettes Daumen stecken. Aber zu seinem größten Erstaunen war der Ring zu klein, und ging nicht über das Gelenk.

»Ei, wer hätte das gedacht!«, sagte Thibaut.

Agnelette fing zu lachen an.

»Wahrhaftig«, sagte sie, »es ist sonderbar.«

Thibaut versuchte den Ring an ihren Zeigefinger zu stecken, aber vergebens, der Reif ging so wenig über den Zeigefinger wie über den Daumen. Thibaut versuchte es nun mit dem Mittelfinger. Aber der Ring schien sich zusammenzuziehen, um die jungfräuliche Hand nicht zu besudeln.

Eben so erfolglos blieben die Versuche am Ringfinger. Thibaut fühlte Agnelettes Hand in der seinen zittern, und ihm rann der Schweiß von der Stirn, als ob er die schwerste Arbeit getan hätte.

Endlich versuchte er es mit dem kleinen Finger Agnelettes. Aber auch dieser winzig kleine Finger, um welchen der Ring so weiten Spielraum haben musste wie eine Armspange um Thibauts Finger, konnte trotz aller Anstrengungen Agnelettes nicht in den Ring gesteckt werden.

»Ach! Mein Gott!«, rief sie, »was bedeutet das?«

»Satansring kehre zum Satan zurück!«, rief Thibaut erzürnt und warf den Ring gegen einen Felsen.

Die Funken sprühten, als ob Thibaut mit der Spitzhacke an den Felsen geschlagen hätte. Der Ring aber prallte zurück und schob sich von selbst wieder an seinen Finger.

Agnelette sah dieses seltsame Manöver des Ringes und betrachtete Thibaut mit Schrecken.

»Nun, was gibt es?«, fragte Thibaut, der fest entschlossen war, die Fassung nicht zu verlieren.

Agnelette antwortete nicht. Sie sah Thibaut mit immer größerer Bestürzung an.

Thibaut wusste nicht, was sie an ihm sah. Aber sie hob langsam die Hand und zeigte mit dem Finger auf seinen Kopf.

»O! Was habt Ihr denn da, Thibaut?«, fragte sie.

»Wo?«

»Da, da«, sagte sie, immer mehr erblassend.

»Aber wo denn?«, wiederholte er, ungeduldig mit dem Fuß stampfend, »sprich, was siehst du?«

Aber statt zu antworten, hielt Agnelette die Hände auf die Augen, schrie laut auf und lief fort.

Thibaut war ganz verblüfft, er machte gar keinen Versuch, ihr zu folgen. Er blieb stumm und regungslos an derselben Stelle.

Was mochte Agnelette so in Schrecken gesetzt haben? Etwa ein Kainszeichen? Warum nicht? Hatte doch Thibaut wie Kain den Tod eines Menschen auf seinem Gewissen.

Dieser Zweifel quälte ihn fürchterlich. Er musste vor allem erfahren, was Agnelette so in Schrecken gesetzt hatte.

Er kam auf den Gedanken, nach Bourgfontaine zu gehen und sich in einem Spiegel zu betrachten. Aber wenn er wirklich gezeichnet war, und dieses Zeichen von anderen Leuten gesehen wurde? – Nein, er musste ein anderes Mittel ersinnen.

Er konnte den Hut tief ins Gesicht drücken, nach Oigny zurückeilen und sich in einem Spiegelfragment betrachten. Aber der Weg war zu lang für seine Ungeduld. Hundert Schritte von da war eine kristallhelle Quelle, deren klares Wasser in den Teich von Baisemont fließt. In dieser reinen Quelle konnte sich Thibaut betrachten, wie in dem feinsten Spiegel von St. Gobain.

Thibaut kniete an der Quelle nieder und betrachtete sich in dem klaren Wasser.

Er hatte noch immer dieselben Augen, dieselbe Nase, denselben Mund, und nicht das geringste Zeichen an der Stirn.

Thibaut atmete wieder frei. Aber etwas Auffallendes musste er doch an sich haben, denn warum sollte sich Agnelette sonst gefürchtet haben?

Er bückte sich etwas tiefer gegen den klaren Wasserspiegel. Nun bemerkte er mitten in seinem Haar etwas Glänzendes, das in den schwarzen Locken funkelte und sich bis an seine Stirn erstreckte.

Er bückte sich noch tiefer … es war ein feuerrotes Haar, ein Haar, wie er es noch bei keinem lebenden Wesen gesehen hatte.

Ohne zu grübeln, durch welches Wunder ein Haar von so auffallender Farbe auf seinem Kopf gewachsen war, machte er einen Versuch, es auszureißen.

Er zog die Locke, in welcher das schreckliche feuerrote Haar funkelte, bis dicht über den Wasserspiegel, fasste es mit Daumen und Zeigefinger und riss mit aller Gewalt. Das Haar widerstand.

Thibaut glaubte nun, er habe es nicht fest genug gefasst. Er wand es nun um den Finger und zog. Aber das Haar gab nicht nach.

Thibaut wand es nun um zwei Finger und riss mit doppelter Kraft. Aber vergebens, das Haar saß fest.

Thibaut war anfangs Willens, seinen Weg nach Cayolles fortzusetzen. Er dachte, die auffallende Farbe eines Haares werde seinem Heiratsprojekt nicht hinderlich sein. Aber das verteufelte Haar beunruhigte und quälte ihm, funkelte vor seinen Augen wie eine durch einen Haufen Reisholz emporzüngelnde Flamme.

Endlich wurde er ungeduldig und lief nach Hause zurück.

In seiner Hütte angekommen, griff er sogleich nach seinem kleinen Spiegel. Das feurige Haar war noch da. Er nahm nun einen scharfen Meißel, legte das Haar auf den Werktisch und stieß mit der Schneide fest darauf.

Der Meißel drang tief in das Holz, aber das Haar blieb unversehrt.

Er nahm nun einen Hammer und schlug mit allen Kräften auf den Griff des Meißels. Aber leider wieder ohne Erfolg. Er bemerkte an der Schneide sogar eine kleine Scharte, gerade von der Breite eines Haares.

Thibaut seufzte. Er sah wohl ein, dass dieses Haar, der Preis seines ersten Wunsches, dem schwarzen Wolf gehörte, und machte keinen weiteren Versuch.