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Der Welt-Detektiv Band 6

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Detektiv Schaper – Das graue Gespenst – 4. Kapitel

Detektiv-SchaperM. v. Neuhof
Detektiv Schaper
Zweiter Teil
Das graue Gespenst
4. Kapitel
Die Spur des anderen

Fritz Schaper hatte seinen Entschluss, sofort nach Danzig zu fahren, ausgeführt. In Danzig angelangt, frühstückte er zunächst auf dem Bahnhof, brachte seinen äußeren Menschen in Ordnung und begab sich dann sofort auf das Einwohnermeldeamt, wo er erfuhr, dass Albert Wendel einen Bruder gehabt habe, der vor sieben Jahren unter Zurücklassung eines einzigen Kindes, einer Tochter, gestorben sei. Diese Tochter habe inzwischen Danzig verlassen. Ihr neuer Wohnsitz sei unbekannt. Weitere Verwandte besitze der verstorbene Minenbesitzer offenbar nicht, meinte der Beamte, mit dem der Detektiv verhandelte.

Schaper bedankte sich für die freundliche Auskunft und wollte schon das Büro verlassen, als der gefällige Herr ihn nochmals heranwinkte.

»Sie sind jetzt der Zweite, der sich nach der Familie Wendel erkundigt«, sagte er mit schlauem Augenzwinkern. »Das hängt wohl mit dem Aufruf zusammen, der in den Zeitungen stand, nicht wahr?«

»Der Zweite?«, meinte Schaper mit schnell erwachtem Argwohn. »Ich weiß nur, dass der Bevollmächtigte jenes Albert Wendel hier in Danzig telegrafisch nach Verwandten des Verstorbenen angefragt hat.«

»Gestern war schon ein Herr hier«, erklärte der Beamte wichtig. »Er fragte genau dasselbe wie Sie. Nur legitimiert hat er sich nicht. Er sagte, er sei ein Freund des Minenbesitzers. Nicht wahr, Herr Schaper, hier spielt wohl eine Erbschaft mit? In dem Aufruf stand ja nichts davon. Aber – man kombiniert sich doch so allerlei zusammen.«

»Ich vermag Ihnen über diesen Punkt nichts Bestimmtes anzugeben«, erwiderte der Detektiv vorsichtig. »Ich habe nur den Auftrag erhalten in der Form, wie ich es Ihnen mitteilte, d. h., ich soll feststellen, wer noch von der Familie Wendel lebt. Alles andere geht mich auch nichts an.«

Eine Viertelstunde später schickte Fritz Schaper dem Vorsteher des Standesamtes seine Karte hinein. Er wurde sofort vorgelassen. Und hier bekam er schon genaueren Aufschluss.

Der Holzkaufmann Markus Albert Erich Wendel hatte zwei Söhne gehabt. Der Ältere, Albert Erich Wendel, war unvermählt geblieben. Der Jüngere, Markus Gottlieb Wendel, hatte sich im Jahre 1892 verheiratet. Aus dieser Ehe war nur eine Tochter entsprossen, die am 2. Februar 1893 geborene Charlotte Marie Gertrud Wendel. Markus Wendel jun. hatte zuletzt in der Breitgasse Nr. 14 gewohnt und war dort auch verstorben.

Schaper notierte sich all dies genau. Dann wandte er sich noch mit einer letzten Frage an den Standesbeamten.

»War gestern vielleicht schon ein Herr hier, der sich ebenfalls nach der Familie, die mich so sehr interessiert, erkundigte?«

»Allerdings. Der Betreffende stellte sich als alter Freund des Minenbesitzers vor und erklärte, er wolle den Angehörigen des Verblichenen dessen letzte Grüße übermitteln.«

Schaper war über diese Antwort nicht weiter erstaunt. Er hatte sie eigentlich vorausgesehen. Also verfolgte noch ein anderer Mensch dasselbe Ziel wie er. Wer konnte dies aber sein? Fraglos doch niemand, der von dem Oberingenieur Pareawitt beauftragt war? Der Detektiv überlegte. Er musste klarsehen.

»Würden Sie so liebenswürdig sein und mir den Herrn beschreiben«, bat er den Beamten.

»Aber gern, Herr Schaper«, beeilte sich der Standesbeamte zu erwidern. »Der Betreffende war etwa fünfunddreißig Jahre alt, hatte ein frisches, gebräuntes Gesicht, kleines dunkelblondes Bärtchen und noch dunkleres, gescheiteltes Haar, schmale, feingeformte Nase – und das fiel mir auf – selten schmale, zarte Hände.«

»Irgendein besonderes Kennzeichen merkten Sie nicht?«, forschte Schaper weiter, indem er alles in sein Notizbüchlein eintrug.

Der Gefragte zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, ob es Ihnen wichtig erscheint, Herr Schaper. Jedenfalls hatte der Herr auf dem – ja, es war der linke – also auf dem linken Eckzahn eine Goldkrone, die beim Sprechen deutlich sichtbar wird.«

Der Detektiv winkte, als er sich wieder auf der Straße befand, ein gerade vorüberfahrendes Auto heran und rief dem Schofför die Adresse zu, die er vorhin von dem Standesbeamten gehört und sich notiert hatte.

Das Haus Breitgasse Nr. 14 war eines jener alten, schmalen Häuser, deren eigenartiger Baustil in der Architektur direkt mit »Danziger Patrizier-Form« bezeichnet wird.

Der Besitzer, ein pensionierter Steuerrat, bewohnte die Hochparterre-Gelegenheit. Fritz Schaper hatte Glück. Der alte Herr, ein redseliger Junggeselle, war zu Hause. Auch ihm gegenüber wies sich der Detektiv durch seine Papiere aus, worauf der Steuerrat ihn höflich zum Platznehmen einlud.

»Dürfte ich einige Fragen an Sie richten, Herr Rat?«, begann Schaper die Unterredung.

»Bitte. Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.«

»Wie lange sind Sie schon Besitzer dieses Hauses?«

»Seit achtzehn Jahren.«

Schaper atmete auf. Hier befand er sich also an der richtigen Quelle. Mit wenigen Worten brachte er sein Anliegen vor.

Der alte Herr nickte freundlich.

»Was ich weiß, sollen Sie erfahren. Die Wendels sind eine alteingesessene Danziger Familie und waren früher mit die reichsten der Danziger Patrizier-Geschlechter. Vielleicht ist Ihnen das in die Mauer eingelassene Schild über der Haustür aufgefallen. Es ist ein Wappen, das der Familie Wendel, die als eine der wenigen Danziger Familien zur Führung eines solchen berechtigt ist. Mit Markus Wendel, dem Vater der »feindlichen Brüder«, – Sie werden bald verstehen, weshalb ich den Ausdruck gebrauche, – begann der Niedergang des Geschlechts. Die Wendels bewohnten damals noch dieses ganze Haus. Ihre Gastfreundschaft war berühmt, nicht minder ihre an Verschwendungssucht grenzende üppige Lebensweise. Mit einem Wort. Das Holzgeschäft, das bis dahin glänzend gegangen war, verkrachte plötzlich, und die Wendels standen buchstäblich vor dem Nichts. Hätten nicht gute Freunde sie unterstützt, so wären sie ganz untergegangen, obwohl die beiden erwachsenen Söhne den Eltern nach Möglichkeit halfen. Denn die beiden alten Wendels überlebten den Schicksalsschlag nicht lange. Es kann so um das Jahr 1890 gewesen sein, als sie kurz hintereinander starben.

Ich muss an dieser Stelle nachholen, dass die beiden Brüder, die nicht sehr gut miteinander standen, in demselben Geschäft, einer Zuckerexportfirma, tätig waren. Wie es leider schon öfter geschehen ist, wollte es ein unglücklicher Zufall, dass sie sich bald nach dem Tod der Eltern in dasselbe junge Mädchen verliebten, eine ziemlich begüterte Waise, die jedoch lange schwankte, wem von ihren beiden so nahe verwandten Verehrern sie den Vorzug geben sollte. Da passierte plötzlich eine Geschichte, die wohl nie völlig aufgeklärt werden wird, zumal inzwischen mehr als zwanzig Jahre verstrichen sind. Bei der Zuckerfirma, die die Brüder als Korrespondenten beschäftigte, wurde eines Tages eine größere Geldsumme aus dem zufällig offenstehenden Geldschrank gestohlen. Der Verdacht der Täterschaft lenkte sich auf den Älteren, auf Albert Wendel. Er wurde verhaftet, musste aber bald wieder aus Mangel an Beweisen freigelassen werden. Albert Wendel zog aus diesen Ereignissen die einzig richtige Konsequenz, als er merkte, dass alle Welt ihm aus dem Wege ging: Er wanderte aus. Lange Jahre hat niemand etwas von ihm gehört. Erst durch den Aufruf in den Zeitungen erfuhren die Danziger, dass ihr Landsmann nach Südafrika gegangen war. Vor der Abreise des älteren Wendel soll es zwischen den Brüdern zu einer erregten Aussprache, beinahe zu Tätlichkeiten, gekommen sein. Es wird erzählt, Albert habe seinem Bruder Markus geradezu vorgeworfen, selbst den Diebstahl begangen und nur deswegen den Verdacht auf ihn gelenkt zu haben, um ihm das Herz des von beiden umworbenen Mädchens abspenstig zu machen.«

»Eine Zwischenfrage, Herr Steuerrat«, unterbrach der Detektiv den liebenswürdigen Alten. »Hat diese Aussprache denn einen Zeugen gehabt?«

»Bestimmt weiß ich das nicht. Die Wendels hatten eine Haushälterin, und die soll die Streitenden, als der Lärm ihr zu groß wurde, getrennt und vorher wohl so ein wenig gelauscht haben.«

»Lebt die Frau noch?«, meinte Schaper interessiert.

»Ja. Im städtischen Altenheim. Sie ist inzwischen ein steinaltes Mütterchen geworden, dabei aber geistig und körperlich noch recht rüstig. Frau Helene Anton heißt sie. Ich kenne sie persönlich, da ich ja von dem jüngeren Wendel nachher dieses Haus kaufte und sie ihm damals die Wirtschaft führte.«

»Danke, Herr Steuerrat. Das Weitere reime ich mir schon selbst zusammen. Markus Wendel heiratete die junge Dame, und beider Kind ist Charlotte Wendel.«

Der alte Herr lächelte. »Na, so alles wissen Sie doch noch nicht, Herr Schaper. Über Markus Wendel ist nämlich noch so manches zu berichten. Die jungen Eheleute, hauptsächlich aber wohl der Ehemann, gefielen sich nicht mehr in diesem alten Haus«, begann er wieder. »Sie zogen nach Neugarten in einen der modernen Prachtbauten, während ich das Wendelsche Palais, wie die Danziger es großartig nennen, erwarb. Die Ehe war keine glückliche. Bald drang so allerlei an die Öffentlichkeit, was auf den jüngeren Wendel kein gutes Licht warf. Er spielte, trieb sich in allerlei fragwürdigen Lokalen die Nächte über umher und brachte es fertig, dass er nach zehn Jahren nicht nur das Vermögen seiner Frau vergeudete, sondern auch seine Anstellung verloren hatte und nun als von allen früheren Bekannten nach Möglichkeit gemiedener Versicherungsagent kärglich sein Leben fristen musste. Bald nach diesem pekuniären Zusammenbruch starb seine Frau, und er blieb mit seinem damals zwölfjährigen Töchterchen allein zurück. Vielleicht über sein verfehltes Dasein gewöhnte er sich nur allzu schnell das Trinken an. Trotzdem arbeitete er mit bewundernswerter Energie weiter. Als er dann fünf Jahre später starb, hinterließ er seinem Kind wenigstens so viel, dass Charlotte Wendel, ein selten hübsches, kluges Mädchen, ihre Studien wieder fortsetzen und das Lehrerinexamen machen konnte. Darauf verschwand sie aus Danzig. Wohin, weiß niemand. Jedenfalls dürfte sie aber den Namen Wendel abgelegt haben. Sonst hätte die Polizei, die nach ihrem Verbleib eifrig geforscht hat, sie auffinden müssen.«

Schaper waren gerade die letzten Sätze besonders interessant.

»Dass sie den Namen ihres Vaters nicht mehr führt, ist trotzdem wohl nur eine Vermutung, Herr Steuerrat«, meinte er mit einem forschenden Blick auf den alten Herrn.

Dieser rückte verlegen sein Samtkäppchen zurecht. »Ich spreche über diese Sache nicht gern«, sagte er zögernd. »Wenn ich wüsste, dass ich der jungen Dame durch eine kleine Indiskretion nützen könnte, würde ich sie ja schon auf mich nehmen.«

»Sie nützen ihr bestimmt«, erklärte Schaper ernst. »Mein Wort als Pfand!«

»Hm, das hat der Herr, der gestern bei mir war, auch gesagt. Und hinterher hat mir meine Offenheit doch leidgetan …«

Der Detektiv horchte auf. Wieder der andere, der ihm zuvorgekommen war! Wer in aller Welt konnte dieser Mensch nur sein? Und welche Zwecke verfolgte er? Dieser Sache auf den Grund zu gehen, hielt Fritz Schaper für seine Pflicht.

Und so wandte er sich denn in freundlich überredendem Ton an den Steuerrat, der missmutig vor sich hinschaute.

»Das, was Sie einem Mann, der sich bei Ihnen nur als Freund des verstorbenen Albert Wendel eingeführt hat, erzählt haben, können Sie mir, der Ihnen seine Legitimationen vorwies, doch erst recht anvertrauen. Offenheit gegen Offenheit, Herr Rat. Charlotte Wendel winkt eine Millionenerbschaft. Das ist der Kernpunkt dieser Angelegenheit. Nur muss ich um Ihre strengste Verschwiegenheit bitten.«

Der alte Herr lächelte zufrieden. »Nun denn. Die Wahrheit ist, dass das junge Mädchen der Frau Anton, ihrer ehemaligen Amme und späteren Vertrauten, kurz vor ihrem Verschwinden aus Danzig erzählt hat, dass ihr Vater ihr auf dem Sterbebett ein Geheimnis gebeichtet hat, welches so furchtbar gewesen sei, dass sie den mit so traurigen Erinnerungen zusammenhängenden Namen für alle Zeit von sich werfen wolle und in der Fremde unerkannt sich ein neues Leben aufzubauen gedenke.«

Schaper schloss in scharfem Nachdenken halb die Augen. Er wusste, was Markus Wendel seinem Kind gebeichtet hatte. Der Schuldige war also tatsächlich nicht der Ältere, sondern der Jüngere der Brüder gewesen.

»Herr Rat, das, was Sie mir soeben mitteilten, hat Ihnen die alte Frau berichtet, nicht wahr?«, fragte er jetzt.

»Ja. Und ich glaube kaum, dass bisher noch ein Dritter davon wusste. Die Anton ist mir zu Dank verpflichtet. Ich habe ihr den Platz im Altenheim besorgt, als es ihr sehr schlecht ging.«

»Den jetzigen Namen oder den neuen Aufenthaltsort Charlotte Wendels kennen Sie nicht?« Der Detektiv beobachtete bei dieser Frage genau das Gesicht des vor ihm Sitzenden.

»Nein, wirklich nicht. Möglich, dass die Anton Bescheid weiß. Es ist aber schwer, etwas aus ihr herauszulocken, wenn sie nicht sprechen will.«

Schaper verabschiedete sich. Der Steuerrat geleitete ihn noch bis in den Flur hinaus, wo sich die Herren mit freundlichem Händedruck trennten.