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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Marone – Ein stürmischer Auftritt

der-marone-drittes-buchThomas Mayne Reid
Der Marone – Drittes Buch
Kapitel 3

Ein stürmischer Auftritt

Sobald der Koppelhalter aus dem Teufelsloch herausgestiegen war, wandte er sich auf dem kürzesten Weg nach Hause. Er ging sehr schnell, als habe er noch irgendetwas auszuführen, bevor er ruhig zu Bett gehen könne. Obwohl es schon sehr spät oder vielmehr sehr früh war, da der Tag bald anbrechen musste, so war in den Augen des alten Israeliten doch noch kein Anzeichen herannahender Schläfrigkeit wahrzunehmen. Eher konnte man in ihm eine lebhafte Begierde entdecken, noch ehe er sich der Ruhe überließ, etwas besonders Dringliches zu vollführen.

Die leisen Reden, die er mit sich selbst hielt, als er durch den Wald schritt, bewiesen klar, dass sein Missvergnügen stets noch fortdauerte. Chakras Zusicherungen, die einstweilen seine schlechte Laune beseitigt hatten, vermochten ihm bei weiterem Nachdenken nicht zu genügen, denn der Myalmann hatte ihm früher schon mehr als einmal Versprechungen gemacht, die er nicht gehalten hatte, und so konnte es auch jetzt mit dem Versprechen des Totenzaubers sein. Hiermit zugleich stellte sich ihm mit größter Wahrscheinlichkeit die Möglichkeit dar, dass sein Feind entschlüpfen könne und dass folglich sein tief angelegter Plan zu einer schmählichen Niederlage für ihn werden könne.

Die von dem Myalmann angeordneten Maßregeln, um dem Custos den Zaubertrank beizubringen, die Flasche mit starkem Wasser, die Cynthia in ihrem Korb mitgenommen hatte, das alles war dem Juden vollständig erzählt worden. Diese Erzählung war in einem dem Gegenstand entsprechenden leisen Ton, mit zurückgehaltener Stimme gemacht worden, und dieser Teil des Gesprächs zwischen den beiden Verbündeten war es gerade gewesen, den Cubina nicht gehört hatte.

Aber konnte der Koromantis sich nicht selbst in seiner Kunst täuschen? Konnte nicht der Trank möglicherweise dieses Mal die erwartete Wirkung gar nicht hervorbringen? Und mochte die Sklavin nicht vielleicht gar keine passende Gelegenheit finden können, um ihn in gehöriger Weise beizubringen?

Ganz besonders, wenn man diese frühe Stunde in Erwägung zog, in welcher der Reisende aufzubrechen gedachte – Jessuron kannte die Zeit – mochte da nicht Cynthia wirklich jeder Vorwand fehlen, ihm den verhängnisvollen Trank zu reichen? Oder mochte sie nun, erschreckt bei der genaueren Überlegung der fürchterlichen unvermeidlichen Folgen, von denen sie wusste, dass sie jetzt unmittelbar sogleich eintreten mussten, mochte sie da nicht im letzten Augenblick vor der gefährlichen Tat zurückschrecken? Vielleicht konnte mittlerweile das Opfer selbst Verdacht über das von der Mulattin bereitete Getränk schöpfen und es unter irgendeinem Vorwand ablehnen, das letzte todbringende Glas zu leeren?

Das waren alles nicht unmögliche Zufälle, durch die der Custos leicht zu entschlüpfen vermochte.

»Da steht manches auf der Kippe zwischen dem Glas und der Lippe!«, murmelte der alte Schurke, eines seiner Lieblingssprichwörter hersagend. »Ja, das ist nur zu wahr!«, fügte er mit bitterer und ängstlicher Betonung hinzu, als die verschiedenen Möglichkeiten eines gänzlichen Misslingens seiner Pläne ihm noch einmal aufs Deutlichste vor die Seele traten.

»Hilf mir Gott!«, fuhr er fort und versuchte, sich selbst zu trösten. »Ich werde meine Rache nicht aufgeben, sollte er nun nach Spanischstadt gehen oder zu Willkommenberg bleiben. Zunächst muss es mir doch gelingen! Doch ach!«, rief er mit allen Anzeichen der Bekümmernis aus, »was hat das im Vergleich mit dem anderen zu bedeuten? Wenn er festgehalten werden könnte, das wäre etwas Großes für meine Judith, für mich selbst auch, für mich, den alten Jacob Jessuron! Willkommenberg wäre mein! Das muss diesem jungen Mann gehören, er gehört Judith, Judith gehört mein! Wie schade, wenn mein Plan misslingen würde, nach allem. Was habe ich getan! Wenn es misslingt, dann bin ich ein geschlagener Mann! Judith wird schon den jungen Mann heiraten. Ich glaube gar, sie liebt ihn, fürchte, sie liebt ihn und er ist vielleicht nicht so viel wert wie seine Schuhnägel! Das muss ich verhindern, bei meiner Seele! Das muss ich verhindern! Das darf durchaus nicht weitergehen, bis ich den Custos gewiss habe! Nicht einen Schritt – nein, nicht einen Schritt! Sie muss ich sprechen, und das noch in dieser Nacht. Ja, ich muss Judith sprechen, bevor ich schlafe!«

So von dem Wunsch getrieben, seine Tochter noch zu sprechen, beeilte der Jude seine Schritte und langte bald unter dem Schatten des großen Gebäudes an, das hauptsächlich den ihm gehörenden Hof bildete.

Hier von dem schwarzen Pförtner ins Tor reingelassen – denn das des inneren Hofes, des Sklavenraums, war stets verschlossen – stieg der Jude die hölzernen Treppenstufen hinauf und schlich sich leise über die Veranda, als ob er in seinem eigenen Haus ein Fremder anstatt dessen Besitzer gewesen wäre. Der Grund dieser leisen verstohlenen Bewegung war, einen Schläfer in der Hängematte nahe am Ende der großen Galerie nicht aufzuwecken.

Der Jude wandte sich im Haus sofort zu der anderen Seite desselben und schritt zu einer Kammer, durch deren Gitterfenster noch ein Licht schien. Es war das Schlafgemach seiner Tochter, der schönen Judith.

Als er die Tür erreicht hatte, klopfte er an, jedoch ganz leise, und rief zugleich halb flüsternd ihren Namen. »Judith!«

»Seid Ihr es, alter Rabbi?«, fragte eine Stimme von innen, während sofort ein Fußtritt in der Kammer anzeigte, dass das Mädchen sich noch nicht zu Bett begeben hatte, oder wenn dies früher vielleicht geschehen war, es doch wieder verlassen habe.

Die Tür wurde nun geöffnet und der würdige Vater der wachsamen Tochter trat bei ihr ein.

»Nun, ich will gar nicht fragen«, sagte die Tochter zu ihrem, zu so ungewöhnlicher Zeit sie besuchenden Vater, »zu welchem Zweck du eben aus gewesen bist. Wahrscheinlich doch eine Sklavenangelegenheit? Aber was habe ich nur damit zu schaffen, dass du mich nötigst, deinetwegen so spät in die Nacht hinein noch aufzubleiben? Es ist jetzt schon nahe an Morgen heran, und ich bin wirklich schläfrig, das kann ich wohl sagen.«

»Ach, liebe Judith«, erwiderte der Vater bekümmert. »Das geht alles schlecht; wahrhaftig, alles!«

»Man könnte es wirklich so glauben, aus deinem kläglichen Gesicht zu schließen. Was ängstigt dich denn schon wieder, werter Vater?«

»Ach, Judith! Betrübe mich nicht mit deinen leichtsinnigen Reden. Ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen, bevor ich zu Bett gehe.«

»Dann sag es nur schnell, denn ich möchte auch schlafen. Was ist es denn?«

»Nun, Judith, höre. Es ist das: Du musst nicht mehr mit dem jungen Mann spielen.«

»Welchen jungen Mann meinst du denn, Vater?«

»Vaughan natürlich – Herbert Vaughan!«

»Ho, ho! Du hast ja auf einmal deine Ansicht ganz verändert. Was hat denn das zu bedeuten?«

»Ich habe Grund dazu, Judith, ich habe Grund.«

»Wer sagt aber nur, dass ich mit ihm gespielt habe? Ich doch nicht, Vater! Ich gewiss nicht, ich versichere es dir!«

»Das ist gar nicht, was ich meine, Judith.«

»Nun, was meinst du denn eigentlich, alter Zauderer? Heraus damit! Geschwind! Sage es nur gerade heraus, ohne alle Umschweife!«

»Ich meine das, Judith; du musst es nun mit dem jungen Mann nicht weiter kommen lassen, das heißt, just nun, bis ich etwas mehr von ihm weiß. Ich glaubte gewiss, er würde ein reicher Mann sein. Du weißt ganz wohl, meine Tochter, ich glaubte es fest, aber nun habe ich herausgefunden, just diese Nacht, dass er vielleicht nicht einen einzigen Schilling hat. Und deswegen, Judith, musst du gar nicht daran denken, ihn zu heiraten, nicht eher, bis wir mehr von ihm wissen.«

»Vater!«, erwiderte die Jüdin, während sie auf einmal den gewöhnlichen spaßhaften Ton gänzlich aufgab und einen höchst ernsthaften annahm. »Vater, dazu ist es bereits zu spät! Sagte ich dir nicht, dass die Tarantel in ihrer eigenen Falle gefangen werden könne? Das Sprichwort hat sich bei mir als wahr bewährt. Ich bin selbst solch ein unglückliches Geschöpf!«

»Das ist doch nicht dein Ernst, Judith?«, fragte der Vater beunruhigt.

»Mein voller Ernst! Dort schläft der Mann«, und die Sprecherin zeigte die Galerie hinab zu der Hängematte hin. »Dort schläft der Mann, den ich liebe, sicher vor jedem Leid, das ich ihm zufügen könnte. Und wäre er wirklich so arm, wie er zu sein scheint, und wäre er auch der niedrigste und elendste Sklave auf deinem Gut, für mich ist er reich genug! Deine Schuld könnte es sein, nicht meine, wenn er nicht mein Gatte würde!«

Der stolze, entschlossene Ton, mit dem die Jüdin sprach, wurde nur bei den letzten Worten etwas gemildert. Die unbestimmte Redeform in ihnen sowie ein gewisser wehmütiger Ausdruck in ihrem Gesicht zeigten ziemlich deutlich, dass sie sich des Herzens Herbert Vaughans noch keineswegs ganz versichert hielt. Ungeachtet seiner Aufmerksamkeiten auf dem großen Smythjeball, ungeachtet vieler Dinge, die sich seitdem ereignet hatten, obwaltete doch noch immer einiger Zweifel, bestand doch noch immer einiges Misstrauen in die wahrhafte Gesinnung des jungen Engländers.

»Das kann niemals sein, Judith!« schrie der Vater mit dem vollen Bewusstsein des väterlichen Ansehens. »Du musst gar nicht daran denken! Du sollst niemals einen Bettler heiraten, nimmermehr!«

»Mach ihn zum Bettler, soviel wie du willst, Vater. Er wird sich darum nicht quälen, ebenso wenig wie ich!«

»Ich würde dich enterben, Judith!«, sagte der Jude, bei dem jetzt Zorn und Ärger die Überhand gewonnen hatten.

»Ganz wie es dir gefällt. Enterbe mich nach deinem Belieben, aber erinnere dich wohl, alter Mann, du warst es selbst, der das Spiel begann, du, der mich dazu aufgefordert hat, und wenn du jetzt Gefahr läufst, das Spiel zu verlieren, wie es vielleicht sein kann, dann sage ich dir, du läufst auch Gefahr, mich zu verlieren, mich, deine Tochter, das heißt, wenn er …«

Welches auch jetzt der eine Voraussetzung enthaltene Nachsatz eigentlich sein sollte, es war offenbar, dass er ihr schwer auszusprechen wurde und tiefen Missmut bei ihr verursachte, denn dies war ein dem finsteren, fast gramvollen Blick zu erkennen, der nun in ihren schönen leidenschaftlichen Augen erglühte.

Indes kam die Jüdin gar nicht in die Verlegenheit, den sie quälenden Nachsatz beenden zu müssen, denn der zornerregte Vater erlaubte dies nicht, sondern unterbrach sie:

»Ich will jetzt nicht mit dir streiten, Judith! Geh zu Bett, Mädchen! Geh zu Bett und schlaf! Aber das sage ich dir, wenn dieser junge Mann wirklich ein armer Mann ist, so soll er dich niemals mit meiner Einwilligung heiraten. Und ohne meine Einwilligung kriegt er niemals von mir einen Schilling, niemals sage ich dir, niemals! Hast du das verstanden, Judith?«

Und ohne die Antwort abzuwarten, die gewiss ebenso herausfordernd und trotzig gelautet hätte als seine jetzt gemachte Erklärung, verließ der Koppelhalter das Zimmer seiner Tochter mit dem höchsten Ungestüm und eilte die Veranda entlang.