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Die Macht der Drei – Teil 34

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Die gespannte politische Lage nötigte auch den Vierten Lord der Admiralität, seinen Landaufenthalt für unbestimmte Zeit zu unterbrechen. Lord Horace Maitland war mit Familie und Dienerschaft in sein Stadthaus übergesiedelt, ein einfaches, aber geräumiges Palais aus der Zeit des dritten Georg. Kaum zehn Minuten von der Admiralität entfernt.

Eine kleine Gesellschaft der nächsten Bekannten saß dort um den Teetisch versammelt. Lord Horace kam aus einer Sitzung. In diesem Kreis durfte er sich ziemlich frei äußern.

»Die Ansichten im Kabinett waren geteilt. Einige meiner Kollegen hoffen immer noch, dass sich ein Krieg … der Krieg, der um Englands Schicksal geht … vermeiden lässt. Die Entscheidung liegt beim Parlament, das morgen zusammentritt.«

»Eine bange Nacht für alle, die mit ihrem Blut für das Vaterland eintreten müssen.« Einer der Gäste hatte es gesagt. »Noch eine lange, bange Nacht!«

Lady Diana flüsterte es mit bewegter Stimme. Sie blickte geistesabwesend vor sich hin und rührte mit dem kleinen Silberlöffel mechanisch in der Teetasse.

Lord Horace betrachtete sie mit forschendem Blick. Seit Tagen fiel ihm eine Veränderung an ihr auf, für die er keine Erklärung fand. Was konnte die ruhige, gefestigte Natur seiner Frau so außer Fassung bringen? Der drohende Krieg? … Wenig wahrscheinlich! Was sonst?

Lady Diana atmete, wie von einer Last befreit, als die Gäste sich empfahlen. Lord Horace sah, wie gezwungen das Lächeln war, mit dem sie sie verabschiedete.

Vergeblich wartete er auf ihre Rückkehr.

»Die Lady hat sich in ihre Räume zurückgezogen.«

Der Bescheid wurde ihm auf seine Frage mitgeteilt. So war es ihm unmöglich, dem Grund dieser Veränderung näherzukommen. Es hieß wohl zu warten, bis seine Gattin freiwillig sprechen würde.

Er war in Sorge. Seine Heirat war eine Liebesheirat im besten und edelsten Sinn. Die Erhöhung des Gatten, die unerwartete Erbschaft des Lordtitels hatte das innige zarte Verhältnis der Gatten nicht geändert. Die Liebe, die in der Hütte blüht, stirbt leicht im Palast. Hier war das nicht der Fall. Doch seit einigen Tagen fühlte Lord Horace, dass etwas Fremdes zwischen ihm und seiner Gattin stand.

Lady Diana schritt rastlos in ihrem Zimmer hin und her, mit fieberhaft geröteten Wangen. Die Lippen wie durstig geöffnet.

Die Stutzuhr schlug die sechste Stunde.

Diana Maitland hielt in ihrem Gang inne und starrte auf das Zifferblatt.

»Schon wieder ein Tag vergangen … ohne Nachricht … Noch eine Nacht wie die vergangene ertrage ich nicht … Warum das alles? … Um eines Mannes willen, dessen Namen ich längst aus meinem Leben gestrichen zu haben glaubte. Ah …«

Sie warf sich auf den Diwan. Die eine Hand schob ungeduldig die Kissen zurecht, die andere strich das Haar von der Schläfe. Ihre Augen waren geschlossen, aber es zuckte zuweilen in den langen Wimpern.

Eine Welt lag zwischen dieser unruhig sinnenden, gegen Tränen kämpfenden Frau und jener heiteren, strahlenden Schönheit, die noch vor wenigen Tagen den Mittelpunkt der glänzenden Gästeschar in Maitland Castle bildete.

Ihre Lippen formten Worte.

»Warum lasse ich mich in wachendem Zustand von diesen Träumen quälen? Ist es nicht genug an den unruhigen Nächten? … Warum diese Angst? … Was habe ich getan, was ich nicht vor mir selbst, vor aller Welt verantworten könnte?

Ich bin nur feige … oder vielleicht krank … und könnte doch gerade so glücklich sein, wie mich die Welt schätzt.«

Lady Diana richtete sich heftig auf.

»Horace beobachtet mich … meine Aufregung ist ihm nicht entgangen … ich bin ihm kein Geständnis schuldig! Nein, nein! Soll ich ein zweites Mal für eine Sünde büßen, die keine war?«

Erschöpft warf sie sich auf den Diwan zurück und schlug die großen dunklen Augen zur Zimmerdecke auf. Wie unter einem Zwang sprach sie weiter: »Der eine liegt auf dem Père Lachaise. Der andere in Linnais …?«

Ein Pochen an der Tür. Auf silbernem Tablett brachte die Zofe einen Brief. Ein großes graues Kuvert. Deutsche Briefmarken. Die Schrift der Adresse schien ihr wohl bekannt, und doch konnte sie den Schreiber nicht erraten.

»Legen Sie den Brief auf den Tisch. Ich werde ihn später lesen.«

Sie sagte es mit gleichgültiger Stimme. Kaum hatte die Zofe den Raum verlassen, als sie aufsprang und den Umschlag mit zitternden Fingern zerriss. Ein einfaches Zeitungsblatt bildete den Inhalt. Eine schwedische Zeitung. Ihre Sprachkenntnisse reichten hin, den Inhalt halb zu entziffern, halb zu erraten. An einer Stelle ein roter Strich. Eine fett gedruckte Stichmarke … Linnais …

Sie ging zum Diwan zurück, zwang sich gewaltsam, die wenigen Zeilen Wort für Wort zu lesen:

»Linnais, den 20. Juli. Eine Katastrophe, die noch der Aufklärung bedarf, hat gestern das in unserer Nähe liegende Gehöft der Truwors betroffen. Um Mitternacht flog das Herrenhaus unter schweren Explosionen in die Luft. Es wurde von dem erst kürzlich aus dem Ausland zurückgekehrten Besitzer bewohnt, der zwei Freunde als Gäste bei sich hatte. Mit Sicherheit ist anzunehmen, dass alle Insassen den Tod gefunden haben. Über die Ursache der Katastrophe gehen Gerüchte, die wir ihrer Unkontrollierbarkeit wegen vorläufig nicht wiedergeben wollen.«

Mit einem leisen Aufschrei sank Diana Maitland auf den Diwan zurück. Wie im Traum sah sie, wie sich die Tür öffnete, Lord Horace in das Zimmer trat, die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Es war ihr unmöglich, sich zu erheben. Es gelang ihr nur, sich etwas aufzurichten.

»Du hast eine unangenehme Nachricht erhalten?«

»Eine unangenehme Nachricht … wie kommst du auf die Frage?«

Lord Horace deutete auf das am Boden liegende Zeitungsblatt.

»Wer sandte dir diese Zeitung?«

Die Antwort kam nicht gleich. Endlich kam sie … zögernd und unfrei: »Dr. Glossin.«

»Von Dr. Glossin?«

Lord Horace trat einen Schritt zurück.

»Von Dr. Glossin? … Gib mir, bitte, eine Erklärung. Du bist sie mir schuldig. Was steht in dem Blatt, das dich in eine solche Erregung versetzt?«

Lady Diana zögerte, stockte. Erst nach geraumer Weile hatte sie ihre Stimme in der Gewalt.

»Du darfst mir nicht zürnen, Horace. Es überkam mich plötzlich … gewiss eine Folge der letzten kritischen Tage. Sie haben Ansprüche auf meine Nerven gemacht, denen ich nicht gewachsen war … Die Zeitung von Dr. Glossin … ah, gewiss! Es wird dich interessieren, welchen Erfolg die Expedition nach Linnais gehabt hat. Dr. Glossin … ah, gewiss! Es wird dich interessieren, über bringt.«

»Warum schickte er die Zeitung an deine Adresse?«

»Ich glaube … ich glaube … nun sehr einfach, ihr Männer seid doch jetzt Feinde.«

Diana Maitland versuchte zu scherzen.

»Sein patriotisches Gewissen erlaubt ihm keinen Verkehr mehr mit dir … Ich werde dir diese Zeilen übersetzen.« Sie las ihm den Inhalt der Notiz vor.

»Ah, sehr gut … Der Plan ist also gelungen. Unbegreiflich, dass noch keine Meldung von Oberst Trotter vorliegt … Doch du? … Du freust dich nicht? Und nahmst doch zuerst so starken Anteil an dem Plan.«

Diana war zurückgesunken. Sie drückte das feine Spitzentuch gegen die Stirn. Ihre Brust bewegte sich heftig.

»Diana, was ist dir?«

»Nichts! Habe Geduld mit mir, Horace. Es wird vorübergehen. Überlasse mich heute mir selbst, ich bitte dich!«

»Schenke mir Vertrauen, Diana. Befreie dich von der Last. Sage mir, was dich quält.«

Lord Maitland näherte sich ihr und legte den Arm beruhigend um ihren Nacken.

Diana zuckte leise zusammen. Ihr Körper erzitterte.

»Lass mich! Lass mich! Ich bin nicht die, die …«

Klage und Herausforderung schienen zu gleicher Zeit im Klang dieser Worte zu liegen. Lord Horace zog seine Hände von ihren Schultern zurück. Betroffen sah er das jagende Wechselspiel von Licht und Schatten auf ihren Zügen. Er wagte nicht zu sprechen, wagte nicht diese Qual, in der ihre Seele sich wand, zu unterbrechen. Endlich nach langem Schweigen schien ihr der Entschluss zu reifen. Ein harter Zug legte sich um ihren Mund.

»Ich will nicht länger schweigen. Nur die Wahrheit kann mir helfen.«

Sie sprach ohne Schwäche.

»Hör mich an als mein Gatte, mein Freund … als mein Richter.« Sie wendete sich ihm zu und blickte ihn mit freien Augen an.

»Du weißt, Horace, dass meine Eltern Polen waren. Unser Nachbar war der Fürst Meszinski. Er hatte einen einzigen Sohn Raoul. Raoul war drei Jahre älter als ich. Schon als halbe Kinder galten wir als Verlobte. Die Familien wollten es so haben. Mein Vater war reich. Raoul entstammte einem alten Geschlecht und trug den Fürstentitel. Es passte so schön zusammen, alter Adel und Reichtum. Im Grunde genommen, ein Handel, den beide Familien ausgeklügelt hatten. Ich wusste nichts davon. Raoul auch nicht. Wir hatten einander lieb, wie sich Kinder lieb haben. Wir wussten beide nichts vom Leben und von der Liebe.

Raoul wurde Offizier und lernte das Leben kennen. Während mein Herz sich gleich geblieben war, wurden seine Empfindungen leidenschaftlicher. Noch ein Jahr, und unsere Ehe sollte geschlossen werden … Da kam der Krieg gegen die Russen und die Deutschen. Die vierte Teilung Polens war ihr Ziel. Du weißt, dass nach einem kurzen heldenmütigen Verzweiflungskampf Polen der Übermacht erlag. Als Raoul auszog, waren alle Vorbereitungen für eine schnelle Eheschließung getroffen. Wir schickten uns an, zur Trauung zu gehen, als eine starke russische Kavalleriepatrouille in den Gutshof einbrach. Die Hochzeitsgesellschaft stob auseinander. Raoul schoss den feindlichen Führer vom Pferd und entfloh.

Zur Strafe wurde unsere Besitzung niedergebrannt. Mein alter Vater misshandelt, sodass er bald darauf starb. Meine Mutter floh nach Finnland, ihrer Heimat. Ich weigerte mich, ihr zu folgen, und ging als Krankenschwester zur Armee.

Als eines Tages ein neuer Transport Verwundeter in unser Lazarett eingeliefert wurde, sah ich darunter Raoul, den ich schon tot geglaubt hatte. Er hatte eine schwere Brustwunde. Raoul selbst wusste genau, wie es um ihn stand. Nur das Bewusstsein, mich um ihn zu wissen, hielt das schwache Lebensfünkchen noch in Glut.«

Lady Diana Maitland fuhr fort: »Jetzt erkannte ich ganz, wie viel tiefer seine Liebe war als die meine. Ich hatte ihn geliebt, wie ich jeden zu lieben geglaubt hätte, den mir meine Eltern zur Heirat bestimmten.

Aber ebenso, wie meine Gegenwart seine letzten Tage leicht machte, machte sie ihm das Scheiden schwer.

Ich sah, wie er in Sehnsucht und Liebe sich nach mir verzehrte. Sein unaufhörliches Flehen drang in mich. Meine Liebe werde ihn retten, mein volles Liebesumfangen werde ihn gesunden lassen. Worte süßen Rausches drangen in mein Herz. Noch wehrte ich mich, da sah ich ihn erbleichen, als ob sein Blut zur Erde niederströme. Ich schrie auf, ich glaubte, ihn auf der Stelle sterben zu sehen. Er sah mich mit einem Blick an, in dem sich sein ganzes Empfinden widerspiegelte. Liebe, Enttäuschung, Jammer, Verzweiflung. Er griff nach seiner Brust, als wolle er den Verband abreißen. Da … da hatte ich keine Kraft mehr zum Widerstand …

Ich saß Tag für Tag an seinem Lager, bis sein Leben verlosch. Ich sah ihn hinübergehen, scheiden ohne Schmerz, voll von Glück.

In mir war alles versunken, alles verschwunden. Mir war es, als hätte ich alles nur im Traum erlebt. Nur das letzte Wort Raouls haftete in meinem Gedächtnis … Diana! In diesem sterbenden Hauch von den bleichen Lippen hatte eine Unendlichkeit von Jubel, von Staunen und von Glück gelegen. In der Erinnerung blieb nur der Spielkamerad, der Jugendfreund.

Die Jahre und die Ereignisse sind über mich hingegangen, ohne den Teil meiner Seele zu berühren, in dem alles verschlossen war. Nur einmal wurde die Tür dazu geöffnet, aufgebrochen … und die Erinnerung hieran blieb …«

Ein leichter Schauer durchlief ihren Körper.

»In dem Zusammenbruch unseres Vaterlandes hatten wir alles verloren. Ich wurde Gesellschafterin bei einer schwedischen Gräfin, die mit meiner Mutter befreundet war. Wir lebten den größten Teil des Jahres in Paris. Auf einer Gesellschaft lernte ich einen schwedischen Ingenieur kennen. Überlegen erschien mir seine Persönlichkeit gegenüber den anderen Männern, die ich kennengelernt hatte. Alle Vorzüge des Geistes und des Körpers schienen mir in ihm vereint … Wir liebten uns … Ich war glücklich, glücklich …«

Ein leises, verlorenes Lächeln schwebte wie ein Hauch um ihre Lippen. Sie empfand eine ungewohnte Erleichterung. Diese Selbstdemütigung schien ihr Herz zu stärken, wie eine Handlung ungestümen Wagemuts. Sie lächelte … Dann verdüsterten sich ihre Züge wieder. Ihre Stimme, eben noch bewegt, wurde monoton.

»Ein Lazarettarzt war unbemerkt Zeuge von Raouls letzter Stunde gewesen. Er tauchte eines Tages in Paris auf. Er erkannte mich wieder und belästigte mich mit seinen Zudringlichkeiten. Meinem Verlobten entging es nicht. Er stellte ihn zur Rede. Der Mensch wies ihn an mich. Ich erzählte alles, was vorgefallen war. Mein Verlobter erschoss ihn im Duell … Und ich? … Ich erhielt am nächsten Tag seinen Ring zurück … ohne ein Wort, eine Silbe.«

Sie senkte den Kopf und schloss die Lider. Die Erinnerung an jene Vorgänge ließ sie jetzt noch zittern.

»Ich fühlte mich bis auf den Tod gedemütigt. Ich begriff nicht, wie ich noch leben sollte … vernichtet, verachtet, mitleidlos beiseite geworfen.

Hundertmal wünschte ich mir damals den Tod. An die Stelle der Liebe trat der Hass. Ich hasste so grausam, wie eine Frau nur hassen kann … Was dann kam, weißt du. Ich wurde Sängerin. Im Taumel des Lebens glaubte ich, Vergessenheit zu finden, um nur zu bald völliger Enttäuschung zu begegnen.

Ich beschloss, nur noch meiner Kunst zu lebend und widmete ihr mein ganzes Sein …

Und dann kamst du … du warst edel, warst gut zu mir. Du zeigtest mir deine Bewunderung, deine Achtung, dein Vertrauen. Du warst bereit, dein Schicksal, dein Leben mit dem meinen zu verbinden, deinen Namen einer Frau zu geben, deren Leben du kaum kanntest.«

Mit starrem Gesicht hatte Lord Maitland gelauscht.

Eine qualvolle Pause entstand.

Lord Horace presste die Zähne zusammen. Widerstreitende Empfindungen ergriffen ihn. Er empfand die rückhaltlose Aufrichtigkeit Dianas als etwas Wohltuendes. Doch ein anderer Instinkt kämpfte gegen dieses Gefühl in ihm an. Etwas seinem eigenen Wesen Feindseliges tauchte in ihm auf, wollte ihn dazu bringen, all seinen Mut zusammenzuraffen, seine Liebe und sein Mitleid zu bezwingen, seiner Gattin den Rücken zu kehren.

Diana schien seine Gedanken zu erraten.

»Horace! Horace!«, schrie sie mit erstickter Stimme. Alles Blut wich aus ihrem Gesicht.

Der Lord hörte die angsterfüllte Stimme. Er stürzte auf sie zu und schloss ihr den Mund mit zitternden Händen, erschüttert, entsetzt. Er schloss ihre Augen, die starr und weit geöffnet waren. Seine Wimpern wurden feucht.

… Sie fühlte seine Bewegung, sie spürte auf ihren Augen die Finger, die sie berührten, wie nur Liebe und Mitleid zu berühren wissen.

Ihre Arme streckten sich und schlangen sich um den Hals des Mannes.

»Du liebst mich, du glaubst an mich?«

Lord Horace ergriff ihre Hände. »Lass mir Zeit … seien wir mutig … du hast die Gespenster der Vergangenheit geweckt. Es wird Zeit brauchen, sie wieder zur Ruhe zu bringen …«

»Du fragst nicht nach dem Namen, Horace?«

»Wozu den Namen? Lass ihn begraben sein, Diana.«

»Ich muss ihn dir nennen, dass du alles verstehst … er ist … Erik Truwor.«