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Der Welt-Detektiv Band 6

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Die Tauscher 1

die-tauscherDr. Uwe Krause
Die Tauscher Teil 1

»Du wirst mir die Geschichte sowieso nicht glauben.«

Plötzlich war die Stimme da, sie kam aus dem Nichts, stürzte mitten aus der stillen Schwärze der Nacht wie ein schwerer Gegenstand.

»Dann spar dir die Mühe!«, murmelte Florian.

»Nichts lieber als das. Aber ich bin Teil der Geschichte. Du auch. Also muss ich dir erzählen, was ich weiß!«

»Schwachsinn!« Florian zog sich die Decke über den Kopf. Ein blöder Traum. Aber die Stimme klang echt. Überhaupt nicht wie in einem Traum.

Er gähnte ausführlich und hob ein Augenlid ein wenig. Durch die Wimpern schimmerte Licht.

Mist, seit wann vergaß er, beim Zubettgehen das Licht auszumachen?

»Kommt es langsam?«, sagte die Stimme. Es war eine raue Männerstimme. Nicht einmal unsympathisch, eher so wie ein frostiger Herbsttag. Wenn man sich entsprechend anzog, konnte man ihn genießen.

»Kommt was?«, knurrte Florian.

»Dass dies kein Traum ist.«

»Das ist ein Traum. Definitiv. Ein blöder Traum.«

Der Mann knurrte und sprach weiter. »Ich komme aus einer anderen Dimension.«

»Na, wie originell«, höhnte Florian. Er verkroch sich völlig unter die Bettdecke. Die Müdigkeit schwebte wie eine schwarze Wolke durch seinen Schädel. Er wollte schlafen, aber dieser elende Traum störte ihn. Selbst durch die Bettdecke schimmerte das Licht. Kann man träumen, dass man träumt? Aber man kann wissen, dass man träumt, das wusste Florian.

»Luzider Traum, das ist es!«

»Wie bitte?«, fragte die Stimme. Die Höflichkeit passte nicht ganz zu ihr. Sie saß wie eine schlecht sitzende Jacke auf ihrem rauen Klang, in dem immer ein Unterton von Sarkasmus zu lauern schien.

»Ich weiß, dass ich träume.«

»Gratulation zu dieser genialen Fehleinschätzung. Ich mache einfach weiter: Du bist mein transdimensionaler Antipode. Da du das sowieso nicht kapierst, sage ich einfach, du bist mein Dimensionsbruder.«

»Heißa, der Bruder, den ich mir immer gewünscht habe. Und jetzt ist er da und ich brauchte nicht mal beim Spielen auf ihn aufzupassen«, murmelte Florian.

»War nicht einfach, dich zu finden.«

»Nachts bin ich meistens hier. Dieser Ort heißt mein Bettchen, zumindest in meiner Dimension.«

Florian vernahm seine eigene Stimme und fuhr hoch. Er riss mit Mühe die Augen weit auf und starrte in den Raum. Jetzt musste er aufwachen. Drei, zwei, eins – JETZT.

Aber es funktionierte nicht. Das Licht in seinem Zimmer war noch immer an. Durch seine schlafverquollenen Augen bemerkte er eine Gestalt, die am Schreibtisch saß.

Florian tastete nach seiner Brille.

»Den Trick mit dem selber kneifen, kannst du dir sparen«, sagte der Mann, »du wirst genug blaue Flecken bekommen.« Er kramte eine Zigarettenpackung aus dem Mantel, klopfte eine Zigarette heraus und zündete sie an. Suchend blickte er sich um.

»Du bist Nichtraucher? Kein Aschenbecher irgendwo?«

»Ich bin seit siebzehn Jahren und elf Monaten Nichtraucher«, antwortete Florian empört.

»In deinem Alter habe ich schon seit sechs Jahren gequalmt«, sagte der Mann ungerührt. Er sog den Rauch ein und ließ ihn durch die Nase aus.

»Wenn ich in meinem Zimmer rauche, bekomme ich massiven Ärger«, protestierte Florian. Er war jetzt wirklich besorgt. Der Mann schnippte die Asche ungerührt in den Papierkorb.

»Nicht wirklich«, behauptete er. Dann beugte er sich vor und betrachtete Florian mit einem scharfen Blick.

»Man hatte mich gewarnt«, knurrte er. »Die Verknüpfung über die Dimensionsgrenzen hinweg bedeutet nicht, dass man identisch ist. Oder wenigstens ähnlich. Nicht mal das Alter muss übereinstimmen. Ich hätte hier einen Säugling treffen können. Oder mein Dimensionsbruder könnte gerade gestorben sein. Dann hätte ich ein echtes Problem.« Er zog an der filterlosen Zigarette, dass die Spitze rot glühte. »So gesehen hätte es schlimmer kommen können«, beendete er seine Überlegungen. Nur um dann anzufügen: »Aber nicht wesentlich schlimmer.«

Florian setzte die Brille wieder ab und rieb sich die Augen. Der ungewohnte Tabakqualm roch echt. Unangenehm echt.

Der Mann lehnte sich zurück und beobachtete Florian aufmerksam, beinahe lauernd. Der Zigarettenrauch quoll ihm aus den Nasenlöchern.

»Dir kommt die Sache ziemlich seltsam vor«, stellte er dann fest und deutete mit dem Glimmstängel in Richtung Florian. »Kann ich sogar verstehen. Mir kommt es auch seltsam vor. Ich hätte es gerne vermieden. Zumindest das kannst du mir glauben.«

Florian hustete. In den nächsten Sekunden mussten seine Eltern wach werden. Seine Mutter hörte sofort, wenn ihr einziger Sohn hustete oder nieste. Und dieser Qualm würde auch seinen Vater aus dem Bett scheuchen.

Der Mann starrte auf den Boden. Er überlegte angestrengt, über seiner Nase gruben sich zwei tiefe Falten in die Stirn.

»Es ist ein Risiko«, sagte er dann. Es klang wie ein Selbstgespräch. »Man hatte mich gewarnt. Das Institut für paraphysikalische Erprobungen hat keine Erfahrungen mit so einem Tausch. Sie sagen, so ein Tausch wäre eine Anormalität, die sich nach wenigen Tagen wieder zurückverwandeln würde.«

Ein Irrer, fuhr es Florian durch den Kopf. Das war mal wieder sein typisches Glück. Da hatte er einmal einen Traum, für den andere Leute wahrscheinlich kiloweise Drogen einwerfen müssten, und dann träumte er von einem qualmenden Verrückten, statt von …

»Ich verstehe gar nichts«, sagte Florian.

Der Mann stand auf und betrachtete die Bücher im Regal. »Oh Mann, ich bin mit einem Schöngeist verknüpft«, seufzte er, »vielleicht wäre der Säugling doch besser gewesen.« Er nahm eines der Bücher heraus und blätterte es durch. Dann schob er es zurück und legte den Kopf schräg, um die Titel besser lesen zu können.

Florian vernahm einen überraschten Ausruf. Der Besucher hatte einen Jahresalmanach aus dem Regal gezogen und starrte auf den Titel.

»2015 stimmt?«, fragte er dann.

»Was sonst? Ist die neueste Ausgabe. Sie sind wohl wirklich nicht von hier?«, antwortete Florian träge. Warum machte er sich nur die Mühe, mit einer Traumgestalt zu reden?

Der Mann war offensichtlich verwirrt. »Grünwang hatte etwas von temporaler Deckungsunschärfe im multiversalen System gesagt, aber dass sich das so auswirkt …« Jetzt war es der Besucher, der vor sich hin murmelte.

Der Mann setzte seinen Erkundungszug durch das Zimmer fort.

»Ich sagte es doch, dass ich nicht von hier komme. Du solltest besser auf das hören, was ich dir mitteile. Das wäre günstiger für uns beide«, sagte er. »Was ist das?«

»Ein PC. Ein Rechner. Der Bildschirm ist allerdings neuer als das andere.«

Florian zog die Decke unter das Kinn. Die Situation war absurd. Er versuchte, sich zu erinnern. Hatte er irgendetwas Falsches gegessen? Sicherlich nicht. Es hatte ihm auch keiner einen Keks mit Cannabis-Beigabe zugesteckt.

Er träumte einfach. Ein blöder Traum, der langsam so drückend und quälend wie die ersten Anzeichen einer Krankheit wurde.

Jetzt stand der Mann direkt vor seinem Bett. Durch den schweren Geruch des Zigarettenrauchs bekam Florian etwas anderes in die Nase. Irgendein Herrenduft. Und noch etwas. »Sie haben getrunken«, sagte Florian plötzlich. Er war sich nicht sicher, ob er so etwas äußern sollte. Vielleicht wollte der Mann diese Erkenntnis gar nicht gerne hören. Und wenn dem so war, dann stellte er genau den Typ dar, der sofort unangenehm wird.

Aber der Mann stieß lediglich ein Husten aus, das Florian mit Mühe als Versuch eines Lachens erkannte.

»Nicht schlecht«, sagte der Mann, »ja, ich habe getrunken. Womit wir bei einem meiner zahlreichen Probleme wären.« Er wandte sich ab und nahm den Schreibtisch in Augenschein.

»Mathematik ist nicht deine starke Seite«, stellte er fest.

Florian schloss wieder die Augen. Vielleicht gelang es ihm auf diese Weise, in seinem Traum einzuschlafen.

»Woher wollen Sie das wissen?«, fragte er. Seine eigene Stimme kam ihm undeutlich vor. Wie verwaschen und ohne Farbe.

»Weil ich hier einige Doppelbögen sehe, bei denen eine andere Schrift mit roter Tinte ständig Rechnungen verbessert hat. Und unten steht der Satz Mal wieder knapp an mangelhaft vorbei

Manche Dinge verfolgen einen bis in den tiefsten Traum, dachte Florian. Eigentlich dachte er es nicht, sondern schaute nur zu, wie der langsame Zug der Worte durch sein Bewusstsein zog.

»Lieblingsfächer?«

»Was?«, murmelte Florian und verbesserte sich dann. »Wie bitte?«

»Welche Lieblingsfächer hast du?«

»Kunst, Deutsch, Geschichte, Religion, Philosophie ist auch in Ordnung.«

»Sport?«

»Sport hasse ich und der Sport hasst mich«, gestand Florian.

»Ein Schöngeist mit Bewegungsallergie«, stöhnte der Mann, »und das mir.«

»Hauen Sie einfach ab«, schlug Florian vor, »ich lüfte dann freiwillig das Zimmer.«

Der Mann nahm den Hut ab und strich sich über das Haar. An der Stirn war eine Narbe erkennbar. Sie leuchtete weißlich aus der geröteten Haut heraus. Das Haar war glatt nach hinten gekämmt, an den Schläfen mischten sich silberne Strähnen in das helle Braun.

Über der Oberlippe trug der Mann einen sorgfältig gestutzten Bart. Wie aus einem alten Film, las Florian seine eigenen Gedanken, im Film sind solche Typen immer eitle Angeber. Sie bekommen am Ende niemals das Mädchen. Oder sie sind Gangster und werden erschossen.

Der Mann ließ Florians Musterung ungerührt über sich ergehen. »Du wirst dich an den Anblick gewöhnen«, knurrte er. Es klang seltsam doppeldeutig. Und dann fügte er, mit einem Blick auf Florian und mit hochgezogenen Augenbrauen hinzu: »Jedenfalls werde ich mehr Schwierigkeiten haben. Da wette ich drauf.«

Er zog den Kamelhaarmantel aus und hängte ihn sorgfältig über die Lehne des Schreibtischstuhles.

Unter dem Mantel trug er einen blauen Anzug mit weißen Nadelstreifen, ein weißes Hemd und eine Krawatte, die farblich zu dem sorgfältig gefalteten Einstecktuch passte.

Der Mann schob die Hemdmanschette zurück und blickte auf die Uhr.

»Wenn die Leute von der paraphysikalischen Erprobung sich nicht total geirrt haben, bricht das Doppelfeld in einigen Minuten zusammen.«

Er setzte sich auf Florians Bett. Die Matratze schwankte unter seinem Gewicht. Das Bettgestell ächzte. Florian zog panisch die Knie an. Dieser Fremde hatte plötzlich eine derartig überwältigende körperliche Präsenz, wie sie Bedrohungen in Alpträumen haben. Wie eine Lawine, die sich über jeden Gedanken und jedes Gefühl schiebt.

Florian sah seine eigene Spiegelung in den dunkelblauen Augen des anderen.

»Es war der letzte Ausweg«, sagte der Mann.

»Kommt mir nicht überzeugend vor«, gähnte Florian. Er hatte sich entschlossen, diese ganze Geschichte nicht mehr ernst zu nehmen.

»Mir auch nicht«, bestätigte der Mann, »vor allem, nachdem ich den Kandidaten in Augenschein nehmen musste.« Er tippte Florian auf die Schulter. Dann suchte er nach einer neuen Zigarette.

»Sie haben keine Zeit, haben Sie eben selbst gesagt«, warnte Florian.

»So viel Zeit muss sein.« Der Mann inhalierte den Rauch wie ein Ertrinkender die Frischluft.

»Obwohl du recht hast«, sagte er dann, »die Zeit ist mein Problem. Oder, um genau zu sein: meine Lebenszeit, die von irgendwelchen Kerlen stark verkürzt werden soll. Es ist ungerecht – man säuft und raucht Kette und trotzdem halten manche Leute einen noch für viel zu gesund. Liegt natürlich an der Sache, hinter der ich her war.«

Florian rückte an die andere Bettseite und lehnte sich an die Wand.

»Sind Sie Forscher?«, fragte er.

Der Mann ließ wieder sein Husten-Lachen hören. »Kann man so sagen. In gewisser Weise ja. Ich bin Schnüffler.«

»Was? … Wie bitte?«

»Detektiv«, erläuterte der Fremde und gab seiner rauen Stimme einen übertrieben fürsorglichen Klang, als würde er zu einem kleinen Kind sprechen.

»Ihnen ist sicherlich aufgefallen, dass unter meinen Büchern kein Kriminalroman zu finden ist«, protestierte Florian, »die finde ich nämlich schlichtweg öde.«

Der Fremde drehte sich um und betrachtete noch einmal das Regal. »Nein, ist mir nicht«, bekannte er dann, »aber wir haben keine Wahl. Du sowieso nicht. Und ich auch nicht, sonst wäre ich nicht hier.«

Der Mann strich sich über das Gesicht. Er wirkte jetzt müde und erschöpft. »Was ist?«, blaffte er dann.

»Ich konnte durch Sie hindurchsehen«, stotterte Florian entsetzt, »gerade eben, jetzt nicht mehr.«

»Es fängt an«, knurrte der Mann und gönnte sich einen erneuten Zug an der Zigarette. Er zog so heftig, dass ein Drittel des Glimmstängels von der Glutspitze verzehrt wurde.

»Also, ich erkläre es dir noch einmal«, sagte er dann, das Gesicht fast von dem Rauch verdeckt, »ich hatte keine andere Chance als das hier. Ich bin auf irgendeine Sache gestoßen, die mich in Gefahr bringt. Und ich komme nicht weiter. Es ist, als wäre ich vernagelt. Und da kommst du ins Spiel.«

»In welches Spiel? Und wieso ich? Ich will gar nicht«, murmelte Florian.

Das Gespräch bestand jetzt nur noch aus leisem Flüstern, als müssten sie sich vor irgendwelchen Lauschern hüten.

Der Mann beachtete Florian gar nicht weiter.

»Das Institut für paraphysikalische Erprobungen hat keine Erfahrungen mit Tauschern. Also gibt es nur so eine Art Hochrechnung. Mit all den Unsicherheiten und Unwägbarkeiten, die damit unvermeidbar sind.«

Wieder schien der Mann durchsichtig zu werden. Seine Umrisse lösten sich auf. Durch seinen Oberkörper hindurch erkannte Florian deutlich den Schreibtisch und die kantige Form des Bildschirms. Auch die Stimme des Mannes wurde leiser und undeutlicher. Sie klang, als käme sie aus weiter Entfernung, obwohl der Sprecher noch immer direkt neben Florian auf dem Bett saß und mit seinem Gewicht die Matratze niederdrückte.

»Es kommt zu einer Vermischung, zwei Personen in einem Körper oder so«, fuhr die Stimme fort, »aber die Forscher können nicht sagen, wie sich das auswirken wird. Es wird auf jeden Fall verwirrend sein. Grundlegende Charaktereigenschaften bleiben erhalten, sagen sie. Auf der anderen Seite fehlen dir Erinnerungen. Oder aber, du kannst sie nicht einordnen. Sie sagen, es wäre ungefähr wie Fahrradfahren – man muss einfach ein Gefühl dafür entwickeln, dann geht es. Die Intuition ist wichtig, verstehst du. Du darfst nicht zu viel nachdenken. Im Zweifel immer dem Bauchgefühl folgen, das wäre der sicherste Weg. Selbst wenn du das Gefühl hast, du besteigst eine Achterbahn – tu es, denn auch wenn es Loopings gibt, kommst du wieder an.«

Der Mann betrachtete erstaunt seine Hand. »Mann, jetzt sehe ich selbst, dass ich durchsichtig bin. Zum Geier, ich hätte es lassen sollen. Aber ich bin vernagelt. Du bist zwar ein unsportlicher Schöngeist und Nichtraucher, was so ziemlich die Höchststrafe ist, aber du gehst anders an die Sache ran.«

»Also darf ich meinen Kopf für Sie hinhalten«, brabbelte Florian und lauschte erstaunt seiner eigenen Stimme, weil er eigentlich viel zu müde war, um zu reden.

»Nicht deinen Kopf«, sagte die Stimme, die aus dem Nichts zu kommen schien, »übrigens behaupten sie, dass sich die Träume nicht tauschen lassen, was ziemlich verwirrend sein soll, aber …«

Und dann, schon aus dem Nichts, kam noch einmal die Stimme: »Du kannst niemandem trauen. Niemandem!«