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Mit den Konquistadoren ins Goldland Teil 21

Gustav Dittmar
Mit den Konquistadoren ins Goldland
Eine Erzählung aus der Zeit der Welserzüge
Teil 21

Der Weg der nächsten Nacht führte über Matten steil aufwärts. Riesige Felsbrocken lagen ringsum zerstreut. Im Mondlicht nahmen sie seltsame fratzenhafte Gestalt an wie Gerippe von Riesen oder urweltlichen Tieren. Rüstig schritten die Flüchtlinge auf einen Höhenzug zu, der sich dunkel von dem sternenbesäten Nachthimmel abhob. Hans Hauser ließ sich nicht ausreden, dass dahinter der große Fluss liegen müsse. Doch Kressel schüttelte den Kopf. »Wir sind noch viel zu hoch«, meinte er. Es erwies sich, dass er recht hatte. Als die Flüchtlinge im Morgengrauen auf dem Bergrücken standen, sahen sie im Westen zahlreiche Höhenzüge hintereinander, die sich in der blauen Ferne verloren. Darüber glänzten die gewaltigen Schneehäupter der Zentralkordilleren, aber kein Wasser schimmerte zu ihnen herauf. Dagegen erblickten sie ganz in der Nähe ein Wachhaus, ähnlich demjenigen, in dem sie auf der Höhe des Paramo Aufnahme gefunden hatten. Deutlich sahen sie den wachhabenden Guecha auf der Plattform. Er schaute gleichmütig in die Ferne und sah nichts von den weißen Männern, die sich im dichten, riesengroßen Adlerfarn vor seinen Blicken verbargen.

Den ganzen Tag lagen sie dem Wachhaus gegenüber und beobachteten jede Bewegung ihrer Feinde. Sie sahen, wie der Wachhabende abgelöst wurde, wie andere Guecha vor der Umwallung erschienen und nach Soldatenart allerhand Schabernack trieben. Ein paar Mal hielten sie den Atem an, als einige Guecha ganz in ihrer Nähe vorübergingen. Die Indianer bemerkten indessen nichts. Nach Einbruch der Dunkelheit verließen die Flüchtlinge lautlos ihr Versteck. Auch jetzt blieben sie unbehelligt. Als sie außer Hörweite der Guecha waren, schritten sie erleichtert aus. Jenes Wachhaus bezeichnete wohl die Grenze des Chibchalandes nach Westen wie das Wachhaus auf dem Paramo die Grenze nach Osten. Nun hatten sie das Land der Chibcha hinter sich. Sie waren der Gewalt des Zipa von Muikita und seines Lehensmannes, des Herrn der Koralschlange, entronnen. Frei, frei – endlich frei!

Freilich kamen sie nun in das Land der menschenfressenden Panche, der Stammesgenossen Brüllaffenohrs, des Sklaven des dicken Palastvorstehers, aber sie fürchteten die Wilden weniger als ihre halb zivilisierten Nachbarn, deren mörderischen Anschlägen sie mit knapper Not entkommen waren.

Gegen Abend sahen sie einige Panche am Ufer eines Baches. Deutlich unterschieden sie sich von den Chibcha. Es waren wieder »Wilde« wie die Indianer der Llanos: völlig nackt und mit Pfeil und Bogen bewaffnet. Die Flüchtlinge gingen ihnen in weitem Bogen aus dem Weg. Sie verspürten durchaus keine Lust, sich auf einen Kampf mit den wilden Gesellen einzulassen. Ein wenig später tauchten ein paar Kegeldachhütten vor ihnen auf, aus denen der Rauch des Herdfeuers senkrecht in die Luft stieg. Sie sahen sehnsüchtig hinüber. Eine wilde Gier überkam sie nach Fleisch und Salz. Sie verspürten ein elendes Gefühl der Leere im Magen. Die paar Kaktusfeigen und süßen Mimosenschoten, die sie da und dort gefunden hatten, reichten gerade aus, dass sie nicht verhungerten.

Sie marschierten westwärts, immer nur westwärts, ohne eine Ahnung, wo sie sich befanden. Doch es war unverkennbar, dass sie allmählich in tiefere Regionen kamen. Schon war es wesentlich wärmer als auf der Hochfläche. Die Pflanzenwelt änderte sich zusehends, prächtige Eiben zeigten sich und Palmen aller Art. Dann nahm der tropische Regenwald mit seinen Palmen, den gewaltigen Balsos und Ceibas, mit seinem dichten Geflecht von Schling- und Schmarotzerpflanzen, Farnkräutern und Bambusbüschen die Wanderer auf.

In der dichten grünen Wildnis war es schwül und feucht. Die Regenzeit – es war Anfang Mai – hatte mit gewaltigen Güssen eingesetzt. Mühsam schleppten sich die vier einsamen Männer fort. Kein Wunder, dass sich die Folgen der überstandenen körperlichen und seelischen Qualen allmählich bemerkbar machten. Dazu kam die unzureichende Kost. Die Gesichter waren gelb, die Wangen eingefallen, die Haare verwildert. Die Kleidung hing in Fetzen um die abgemagerten Körper, das Schuhwerk war längst dahin. Barfüßig, keuchend, in Schweiß gebadet, suchten sich die vier einen Pfad durch den fast undurchdringlichen Urwald.

Fabricius fiel Hans Hausers Aussehen auf. Er sagte nichts zu ihm, und Hans klagte nicht, aber der gläserne, stiere Blick in seinen Augen verriet nichts Gutes. Nur mit Aufbietung aller Kräfte vermochte er den Voranschreitenden zu folgen. Das Blut sauste ihm in den Ohren. Ein Schwindelgefühl quälte ihn, dass er taumelte. Dann, am Nachmittag, brach mit einem Schüttelfrost das Fieber aus. Hans sank zu Boden.

Das Fieber war außerordentlich stark. Fabricius wartete vergeblich auf die Unterbrechung des Anfalls, die dem Malariakranken für Stunden, manchmal für Tage Erleichterung zu bringen pflegt. Teilnahmslos lag der Kranke im ununterbrochenen Fieber. Nur noch das Wort »Durst, Durst!« kam manchmal von seinen Lippen.

»Er wird uns doch nicht sterben?«, fragte Fabricius und sah besorgt zu Kressel auf. Der Hesse zuckte die Achseln. Sein Gesicht war todernst.

»Zischende Viper« kniete neben dem Kranken und flößte ihm Wasser ein. Die Augen des Indianers hingen mit gespannter Aufmerksamkeit an Hans’ Zügen. Er begann vor sich hinzumurmeln. Seine Stimme klang flehend, beschwörend, drohend. Rief er die Götter seines Volkes an und betete er zu ihnen um das Leben seines Herrn? Fabricius und Kressel störten ihn nicht, zumal der eintönige Singsang eine beruhigende Wirkung auf den Kranken auszuüben schien.

An eine Fortsetzung des Marsches war natürlich nicht zu denken. Doch auch ohne Schutz vor dem strömenden Regen konnte der Kranke nicht bleiben. Mit unsäglicher Mühe errichteten Fabricius und Kressel auf vier Pfählen ein Dach aus Palmblättern, unter dem der Kranke gerade Platz fand. Der Xidehara half dabei und überraschte die beiden Weißen mit einer ganz brauchbaren Art. Er hatte sie aus einem scharfkantigen Hornsteinbrocken hergestellt, den er mit einer Liane an ein Holzstück gebunden hatte.

Hans Hausers Zustand verschlimmerte sich zusehends. »Hätten wir nur etwas Kräftiges für den Jungen, ein wenig Brühe oder Brei! Er stirbt uns ja unter den Händen weg«, seufzte Kressel.

Zischende Viper strich unterdessen auf der Suche nach etwas Essbarem in der Nähe des Lagerplatzes umher. Er war nicht weit von einem Bach, und der Indianer fand an seinem Ufer bald, was er suchte: Losung eines Tapirs. Deutlich war der Wechsel des Tieres im dichten Farnkraut zu erkennen. Rasch hatte der Indianer eine tiefe Grube mitten im Wechsel ausgehoben, die er sorgfältig mit Blättern bedeckte. Er nickte befriedigt, als er sich wieder zum Lager wandte.

Dort traf er Fabricius, der sich im Schweiß seines Angesichts abmühte, Feuer nach Indianerart zu entzünden, indem er auf einem untergelegten Rindenstück einen Holzstab quirlend zwischen den Händen drehte. Zischende Viper sah ihm eine Weile zu, ohne eine Miene zu verziehen. Dann brach er selbst einen trockenen Zweig ab und suchte sich ein Rindenstück. Unter der Luftwurzel eines Urwaldriesen fand er Moos, das trocken genug war, ihm als Zunder zu dienen. Dann warf er sich auf die Knie und drehte auf der Unterlage des Rindenstücks den Stock mit rasender Geschwindigkeit zwischen den Händen. Dazu stieß er seltsame Laute aus, die Fabricius und Kressel, obwohl sie des Aruak leidlich mächtig waren, nicht verstanden. Es schien ein uralter Feuersegen zu sein. Gespannt sahen ihm die beiden Deutschen zu. Ein ganz leichter Dampf zeigte sich an der Stelle, wo der Stock sich auf dem Rindenstück wirbelnd drehte. Zischende Viper schien die Schnelligkeit der Bewegung zu verdoppeln.

»Ai, ai!«, rief er dabei. Das Moos, das er um das untere Ende des Stockes gelegt hatte, fing zu qualmen an. Blitzschnell sprang er nun auf und fachte mit einem Palmwedel, der ihm den bei den Indianern gebräuchlichen Feuerfächer ersetzen musste, das Feuer an. Ein blaues Flämmchen erschien – das Moos brannte. Den beiden Deutschen entfuhr ein Ausruf staunender Überraschung. Eilig entzündeten sie mithilfe des brennenden Mooses ein großes Feuer. Zischende Viper half nicht dabei. Seine Augen streiften die emsig schaffenden weißen Männer mit einem Blick, der fast ein wenig verächtlich war. »Wasser!«, sagte er dann auf Deutsch. »Heiß!« Es klang fast wie ein Befehl.

Fabricius schaute erstaunt auf, aber er schwieg und tat, was der Xidehara wollte. Nach einer Weile kochte das Wasser in der Kürbisschale.

Zischende Viper hatte inzwischen mit Mühe eine hohe Bacabapalme erklettert und zwei Bündel reifer Früchte heruntergeworfen. Die blauvioletten, wie bei der Pflaume leicht bereiften Schalen zerstampfte er im heißen Wasser. Sie gaben einen graubraunen fetten Trank, der in Geruch und Geschmack an den Kakao erinnerte, den Weiße Termite so gern geschlürft hatte.

Allein Hans Hauser, der teilnahmslos unter seinem Schutzdach lag, verweigerte alle Nahrung. Ängstlich lauschte Kressel auf die rasenden Herzschläge in der Brust des Freundes. Seine derben Bauernhände lagen zärtlich wie die einer Mutter auf Hans’ fieberglühender Stirn. Zwar schien das Fieber nachgelassen zu haben, aber die Entkräftung nahm rasch zu. Dann und wann phantasierte der Kranke. Oft kam das Wort Kamalia, das Chibchawort für Tochter des Schwälbchens, von seinen Lippen, aber die Gestalt der kleinen Indianerin schien sich in seinen wirren Träumen seltsam mit der Erinnerung an ein deutsches Mädchen, an Hansens Mutter, ja selbst an die Gottesmutter zu vermischen.

»Wird er die Nacht überleben?«, fragte Fabricius.

Kressel antwortete nicht, nur ein trockenes Schluchzen stieg aus seiner Kehle. Eine schreckliche Nacht folgte.

Doch es war Hans Hauser nicht bestimmt, im Urwald zu sterben. Als die Sonne aufging, erfolgte ein gewaltiger Schweißausbruch. Die unnatürliche Rötung der Wangen ließ nach. Hans schlief ein. Kressel, der fortwährend Hans’ Handgelenk umfasst hielt, fühlte, wie der Puls ruhiger wurde. Mit einer scheuen Gebärde strich er dem Freunde ein paar schweißfeuchte Haare aus der Stirn.

»Schlaft!«, sagte der Xidehara zu Kressel und Fabricius gewendet mit einer weit ausgreifenden Handbewegung. »Er nun gesund werden.«

Todmüde streckten sich Fabricius und Kressel zum Schlaf aus. Der Lärm im Wald war mit Sonnenaufgang verstummt, es herrschte tiefe Stille. Im Einschlafen schaute Kressel zu dem Indianer hinüber. Er saß an Hans’ Seite und blickte dem Schlafenden unablässig ins Gesicht.

Als Kressel und Fabricius erwachten, stand Zischende Viper vor ihnen und wies auf die Jagdbeute zu seinen Füßen, einen feisten Tapir. Erfreut sprangen die beiden auf und machten sich an die Zerlegung des Tieres. Es wäre ihnen mit ihren unvollkommenen Werkzeugen – ein Bambussplitter musste das Messer ersetzen – kaum gelungen, hätte nicht Zischende Viper dabei geholfen, der das Holzgerät so geschickt handhabte, als sei es der schärfste Stahl. Ein Rückenstück wurde sofort am Spieß gebraten, der Rest auf dem Bratständer geröstet.

Hans, der mittlerweile erwacht war, sah, ausgestreckt unter dem Schutzdach, mit freundlicher Anteilnahme zu. Er war noch zu schwach, um zu helfen, aber das Fieber war gewichen. Es fröstelte ihn sogar ein wenig trotz der feuchten Wärme, die im Wald herrschte, sodass Kressel und Fabricius die Tücher, die sie im Tempel Suas erbeutet hatten, über ihn breiteten. Sie arbeiteten emsig mit entblößtem, schweißtriefendem Oberkörper.

Das Mahl mundete trefflich: Tapirbraten und dazu der schmackhafte Aufguss aus den Schalen der Bacabapalme. Hätten die Freunde noch ein wenig Kassavebrot gehabt, so hätten sie sich wie im Himmel gefühlt. Hans freilich hatte noch wenig Appetit, aber er aß doch auf Kressels Zureden ein Stückchen Fleisch und trank von dem braunen Saft dazu.

Als vier Tage seit jener Nacht, in der Hans zwischen Tod und Leben geschwebt hatte, vorüber waren, schien Fabricius die Gefahr vorüber zu sein, dass das Fieber wiederkehren werde. Freilich war Hans noch viel zu schwach, um den Anstrengungen eines Marsches durch den Urwald gewachsen zu sein. So richteten sich die Freunde ein, so gut es ging. Um das sorgfältig unterhaltene Feuer entstand ein kleines Lager. Das Schutzdach für Hans wurde zu einer Hülle ausgebaut und auch die anderen sorgten dafür, ein Dach über den Kopf zu bekommen, das sie vor den sintflutartigen Regengüssen ein wenig schützte.

So hätten es die Freunde in der Einsamkeit des tropischen Urwalds leidlich gehabt, wäre nicht je länger je mehr das Heimweh über sie gekommen. Sie sprachen nicht viel miteinander. Wer so wie diese vier Männer seit Jahr und Tag als gute Kameraden Tod und Teufel getrotzt hat, versteht sich auch ohne viel Worte. Wenn sie aber einmal des Abends am Feuer ins Plaudern kamen, dann sprachen sie von Deutschland, immer nur von Deutschland. Fabricius, der Norddeutsche, erzählte von der Heide und den schwermütigen Tieflandflüssen, Kressel von den Kornfeldern daheim in den armen, zärtlich geliebten Falten des Vogelsberges, Hans von den weißen Segeln auf dem blauen See im Kranz der Berge. Von der Sonne über Deutschland sprachen sie, der strahlenden Maiensonne, die so ganz anders ist als der Glutball, der die Llanos versengt, vom Herbstregen, der wie ein Segen in die braune Furche eindringt, nicht wie diese wilden Wasserstürze, die hier die Erde überschwemmen, dass warme, ungesunde Feuchte in Schwaden aus ihr emporquillt. Von den deutschen Tannen und Buchen redeten sie, die viel tausendmal schöner sind als alle Palmen und Ceibas und Balsos. Deutschland, ach Deutschland!

»Habt nur Geduld!«, sagte Kressel.

Zischende Viper benutzte die erzwungene Muße, um sich einen Bogen zu machen und einen gehörigen Pfeilvorrat. Die Deutschen sahen ihm auf die geschickten Hände und ahmten sein Beispiel nach. Es waren ungefüge Waffen, die sie herstellten. Die Sehnen der mächtigen, mehr als mannslangen Bogen wurden aus Pflanzenfasern gedreht, als Pfeilspitzen dienten vorläufig Splitter von Bambusholz. Nachdem es aber Zischende Viper gelungen war, einen Coata-Affen zu erlegen, stellten sie die Spitzen aus den Knochen des Affen her. Es war ihnen eine erwünschte Abwechslung im ewigen Einerlei, sich im Bogenschießen zu üben und mit dem Xidehara zu wetteifern, der sie freilich an Geschicklichkeit weit übertraf. Eines Tages fanden sie Zischende Viper mit seltsamen, geheimnisvollen Vorbereitungen beschäftigt. Der Indianer hatte große Mengen eines fetten Schlinggewächses herbeigeschleppt, das in der Nähe des Lagers wuchs. Aus den Stängeln presste er einen gelben Saft, den er einkochte und mit einem anderen klebrigen Pflanzensaft vermischte. Das alles begleitete er mit seltsamen Gebärden, wobei er dumpfe Zauberformeln murmelte. Die Weißen sahen ihm staunend zu. Erst allmählich begriffen sie: Zischende Viper – er war ja ein Häuptlingssohn – kannte offenbar das von den Indianern streng gehütete Geheimnis der Pfeilgiftbereitung. Unter seinen Händen sahen die Deutschen das Curare entstehen, jenes Gift, das die weißen Eroberer wie die Pest fürchteten und dem die Flüchtlinge vielleicht das Leben verdankten. Waren doch auch die Kokablätter der kleinen Indianerin vermutlich mit Curare vergiftet gewesen. Das Gift, das der Xidehara bereitete, erwies sich als ungeheuer wirksam. Ein feistes Hokkohuhn, das er mit einem vergifteten Pfeil von seinem luftigen Sitz herunterholte, verendete auf der Stelle. Seltsamerweise tat es dem Geschmack und der Bekömmlichkeit des Vogels nicht den geringsten Eintrag, dass er mit einem vergifteten Pfeil erlegt worden war.

Als Hans endlich wieder einigermaßen bei Kräften war, wurde der Weitermarsch angetreten. Sie hatten alle vier gehörig zu schleppen, denn Fabricius ließ viel Mundvorrat mitnehmen, um möglichst wenig auf das launische Jagdglück angewiesen zu sein. Es regnete in Strömen, als sie aufbrachen. Da Zischende Viper einen kunstgerechten Feuerbohrer nach indianischer Art hergestellt hatte, brauchten sie wenigstens keinen Feuerbrand mitzunehmen. Nach den ersten fünfzig Schritten sahen sie sich noch einmal nach dem Lager um, wo sie fünf Wochen gehaust hatten. Verlassen lagen die Hütten in der Wildnis. Das Feuer war am Erlöschen. Dann entschwanden die Hütten ihren Blicken. Geduldlager – so hatte es Kressel genannt – lag hinter ihnen.

Zur Überraschung der Freunde änderte sich nach etwa achtstündigem Marsch die Landschaft. Sie standen plötzlich an einer Berglehne, die schroff in ein Tal abfiel. Die schwarzen Fluten eines Flusses glänzten zu ihnen herauf. Es konnte kaum der große Strom sein – dazu war das Wasser zu unbedeutend – aber die deutliche Richtung des Flusses nach Westen erweckte die Hoffnung, dass sie an einem Nebenfluss des Magdalenenstromes standen.

Im Tal lagen am Fluss drei große kegelförmige Indianerhütten. Noch zweifelnd, ob sie die Hütten umgehen sollten oder nicht, machten sie sich an den Abstieg. Er war sehr steil und mühsam. Der Fuß glitt auf den regenglatten Felsen aus, und die üppig wuchernden Lianen boten keinen Halt. Kressel, der versuchte, sich an ihnen festzuhalten, blieb nur losgerissenes Rankenwerk in der Hand. Er fiel und ein starker Steinschlag ging unter seinen Füßen polternd zu Tal. War es dieser Steinschlag, waren es die scharfen Augen der Wilden? Genug, die Freunde erkannten, dass man sie in der Ansiedlung bemerkt hatte. Männer, Frauen und Kinder liefen am Flussufer zusammen und wiesen winkend und deutend auf die seltsamen Männer, die langsam den Berghang hinunterstiegen. Es war zu spät, um zu fliehen.

Als man in Hörweite war, rief Zischende Viper die Indianer an. Sie antworteten in der Sprache der Aruak. Das Gesicht des Xidehara glänzte befriedigt. Man war offenbar wieder bei einem Aruakstamm. Wohl an hundert Indianer, die Männer und Knaben mit Federkronen, die Frauen und Mädchen nur mit einem Baströckchen bekleidet, über und über behängt mit Ketten aus braunen Fruchtkapseln, erwarteten die fremden Ankömmlinge.

Man führte sie in eine der geräumigen Hütten, deren jede von mehreren Familien bewohnt war. Es wimmelte in dem dumpfen halbdunkeln Raum von Kindern jeglichen Alters. Ein würdiger Alter begrüßte sie in wohlgesetzter Rede. Dann brachte eine Frau dem Alten eine mächtige brennende Zigarre, deren Deckblatt aus rotem Baumbast bestand. Er rauchte ein paar Züge und gab die Zigarre als Willkommens- und Friedenszeichen dem Xidehara, den er – in seinem Sinn – für den Zivilisiertesten von den vieren zu halten schien. Auch Zischende Viper rauchte und reichte die Zigarre den Deutschen weiter. Kaum war die feierliche Begrüßung beendet, als die Frauen auf Geheiß des Alten Tonschalen mit Wildbret und Fischen in Pfefferbrühe brachten und unzählige Kalebassen mit Chicha. »Trink, Bruder!«, sagten sie dazu. Die Freunde taten ihr Möglichstes, ihren liebenswürdigen Gastgebern Bescheid zu tun, denn sie hatten das deutliche Gefühl, dass sie eine Zurückweisung bitter kränken würde.

Als die Nacht hereinbrach, räumten die Indianer ihren Gästen einen warmen Platz nicht weit vom Herd ein. Das war ihnen sehr angenehm, denn es war in der Regenzeit nachts oft empfindlich kühl. In der Hütte war es dumpfig und die Luft erfüllt von der Ausdünstung der vielen schlafenden Menschen. Doch Hans lag behaglich auf seinem Maisstrohlager und horchte auf den Regen, der unablässig auf das Dach tropfte.

Am Morgen badeten die Freunde im Fluss. Es war ihnen eine unendliche Wohltat. Dann brachten ihnen Frauen eine Art Kartoffelsuppe und frischgebackenen Fladen aus Maniokmehl. Die Freunde ließen es sich schmecken. Sie saßen mit dem Häuptling zusammen und unterhielten sich mit ihm. Der Indianer ließ sich von den weißen Männern und ihrer Heimat erzählen und die Deutschen fragten nach dem großen Wasser, dem großen Fluss. Ob es weit sei dahin? Der Häuptling besann sich nicht lange. Ja, gewiss. Nur einen Tagesmarsch von hier – einmal geht die Sonne auf und unter – floss ein großes Wasser, viel breiter, als der Jaguar springen kann. Die Freunde frohlockten. Sollten sie nur noch einen Tag weit vom Magdalenenstrom sein?