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Die Macht der Drei – Teil 15

Die-Macht-der-Drei

Reynolds-Farm, an drei Seiten von steilen Felsen und bewaldeten Anhöhen umgeben, liegt eingebettet in ein Meer von Grün. Die letzten Bäume des Waldes berühren mit ihren Kronen beinahe die Dächer der Gebäude. Einzelne Rinnsale, die aus den Felsen hervorquellen, vereinigen sich nahe der Besitzung zu einem stattlichen Bach. Kurz vor der Farm ist er gezwungen, seinen Lauf zu ändern und sich einen bequemeren Weg durch die breiten Wiesenflächen zu bahnen, die sich nach der Ebene an die Besitzung anschließen.

In einem blassblauen, leichten Gewand, den Kopf von einem großen Schattenhut überdacht, schritt Jane über den schmalen Brettersteg, der den Bach überbrückte. Leichtfüßig begann sie die steinige Anhöhe hinaufzusteigen, auf deren Gipfel eine einzelne riesige Buche ihr Blätterdach weit ausbreitete. Es war ihr Lieblingsort. Zwischen den rippenartig ausgehenden Wurzeln des gewaltigen Stammes hatte sie ein Plätzchen gefunden, wo sie wie in einem Lehnsessel ruhen konnte. Von hier aus vermochte sie wie aus der Vogelperspektive Reynolds-Farm und die weite grüne Grasfläche zu überblicken.

Anders als in Trenton, wo Qualm und Dunst der großen Staatswerke stets über dem Ort lagen. An den Stamm des Baumes zurückgelehnt, ließ Jane die frische Morgenluft um die Stirn wehen, während ihre trunkenen Augen über die weite grüne Landschaft schweiften. Wie glücklich hätte sie hier sein können. Wie wäre die Mutter in diesem milderen Klima aufgelebt, vielleicht ganz gesundet … und Silvester? … Wo war er? Lebte er noch? Warum kam kein Lebenszeichen von ihm? … Trübe Schatten senkten sich auf ihre Stirn. Sie atmete unruhig. Ein Seufzer hob ihre Brust. Mit ganzer Seele klammerte sie sich an den Gedanken, dass er bald kommen und sie holen würde.

Dr. Glossin? … Gewiss, er war stets liebevoll und zuvorkommend zu ihr. Aber immer wieder tauchten verworrene Gedanken in ihr auf. Beunruhigend, warnend, trübten sie das Gefühl der Dankbarkeit. Der Zwiespalt quälte sie oft so, dass sie den Gedanken erwog, die Farm für immer zu verlassen. Doch wohin? Und würde sie Silvester finden, wenn sie nicht mehr in Reynolds-Farm weilte?

Um sich von dem Grübeln zu befreien, griff sie zu einem Buch, das sie der Bibliothek des Doktors entnommen hatte, und begann zu lesen. Doch nicht lange. Dann entsank es ihren Händen, und ein wohltätiger Schlummer umfing sie. Sie überhörte die Schritte des Doktors, der nach ihrem Weggang gekommen und von Abigail zu der einsamen Buche geschickt worden war.

Glossin stand vor ihr und betrachtete entzückt diese wie von Bildnerhand geschaffene Gestalt, dies edel und weich gezeichnete Gesicht mit den rosigen Farben und dem sanften Mund. Er kniete neben ihr nieder, ergriff behutsam ihre Hand und fuhr fort, sie mit seinen Blicken zu umfassen. Dies alles gehörte jetzt ihm, wie er meinte. Gehörte ihm für immer. Niemand würde es ihm mehr streitig machen können.

Dr. Glossin war ein Mann von eiserner Willenskraft und ungewöhnlicher Beharrlichkeit. Das einzige Kraftlose an ihm war sein Gewissen. Tiefere Herzensbedürfnisse hatte er bisher nicht gekannt. Wollte es der Zufall, dass ein weibliches Wesen vorübergehend die Leidenschaft in ihm weckte, hatte er es sich mit allen Listen einer gewissenlosen Moral willig gemacht. Wären die Mauern von Reynolds-Farm nicht stumm gewesen, sie hätten über manche Tragödie Ausschluss geben können, die irgendwo begann und hier ihren Abschluss fand.

Nur eine große Leidenschaft hatte Dr. Glossin in seinem Leben gehabt. Damals, als Rokaja Bursfeld seinen Weg kreuzte.

Als er Jane Harte zum ersten Mal sah, hatte er das gute Medium für seine hypnotischen Versuche in ihr erblickt, ein wertvolles Mittel für die Ausführung seiner Pläne. Nur deshalb hatte er an ihrem Schicksal Interesse genommen. Bis er sich durch Silvester Bursfeld in ihrem Besitz bedroht sah und die Flamme einer plötzlichen Leidenschaft in dem alternden Mann aufloderte.

Oft hatte er seine Schwäche verwünscht, ohne doch dieser Leidenschaft Herr werden zu können. Dass das Mädchen ihn, der dem Alter nach recht gut ihr Vater sein konnte, nicht aus vollem Herzen liebte, so vielleicht nie lieben würde, wusste er. Aber der Gedanke, Jane sein Eigen zu wissen, ließ alle Bedenken schwinden.

Dr. Glossin beugte sich über Janes Hand, die in der seinen ruhte, und presste die Lippen darauf. Mit einem leichten Ausruf des Schreckens fuhr Jane aus ihrem Schlummer empor. In der ersten Überraschung schenkte sie der sonderbaren Stellung des Arztes keine Beachtung.

»Ah, Sie, Herr Dr. Glossin! … Oh, wie freue ich mich, dass Sie gekommen sind. Sie werden mich undankbar schelten, aber ich muss es Ihnen sagen, die Einsamkeit in Reynolds-Farm bedrückt mich.«

»So wünschen Sie, dass ich häufiger komme, dass ich länger bleibe … für immer bei Ihnen bleibe, Jane?«

Jane senkte errötend den Kopf. Die fürsorgliche Liebe, die aus den Worten des Doktors klang, setzte sie in Verwirrung. Sie wollte sagen, dass er sie falsch verstanden habe, dass sie aus Reynolds-Farm weg wolle. Und brachte doch die Worte, die undankbar klingen mussten, nicht über die Lippen.

Von seiner Leidenschaft verblendet, glaubte Dr. Glossin, dass Janes Zurückhaltung ihr nur als Schutzwehr gegen ein wärmeres Gefühl dienen sollte.

»Jane! Darf ich, soll ich immer bei Ihnen bleiben?«

Sie antwortete nicht sogleich. Ihre Hand zuckte in der seinen. Ein Ausdruck flehender Hilflosigkeit kam über ihr Gesicht.

»Ich weiß nicht«, sagte sie tonlos. »Es ist …« Sie legte die Hand aufs Herz. »Es ist so fremd hier.«

»Nicht hier allein. Überall in der Welt! Wo der eine ist, soll auch der andere sein. Jane, sehen Sie mich an. Ich will offen mit Ihnen sprechen. Ich verlange nach einem Heim, einer Frau, einer Friedensstätte. Der Blick Ihrer Augen, der Ton Ihrer Stimme, Ihre geliebte Nähe, sie werden mir alles bringen. Wert bin ich Ihrer nicht, ja, ich weiß, es ist unedel, wenn ich Ihr blühendes junges Leben an das meine ketten will. Aber ich kann nicht anders, und, Jane, ich liebe Sie, liebe Sie mehr, als ich Ihnen sagen kann. Wollen Sie mir folgen, wohin ich auch gehe, als mein Liebstes auf Erden, als meine Frau? … Sie sprechen das Wort nicht, Jane? Sie entziehen mir Ihre Hand und wenden sich von mir ab?«

Glossin schwieg. Seine Stimme war während der letzten Worte immer leiser geworden, sein Atem ging schwer. Er richtete sich auf und starrte auf Jane, welche die Hände vor das Gesicht geschlagen hatte und weinte.

Er war enttäuscht und überrascht, aber nicht abgeschreckt, nicht entmutigt.

»Verzeihen Sie mir, Jane. Ich habe Sie mit meiner stürmischen Werbung erschreckt. Ich will Ihnen Zeit lassen, mir die Antwort zu finden. Sie werden mich näher kennen- und lieben lernen.«

»Nein, nein! Ich liebe Sie nicht, ich werde Sie nie lieben!«

Jane rief es und brach in neue Tränen aus, in leidenschaftliche, unaufhaltsame Tränen. Glossin wurde totenbleich.

»Ist das die Antwort? Haben Sie kein Verständnis für das, was ich leide, kein Gefühl, kein Mitleid?«

Seine Augen flammten unheimlich auf, seine Brust arbeitete heftig. Die Leidenschaft übermannte ihn. Er warf sich ihr zu Füßen nieder und flehte um Erhörung.

»Nein, ich will Sie nicht länger hören.« Jane war aufgesprungen und wich abwehrend vor dem Doktor zurück. »Ich will nicht … will nicht!«

Ehe er Zeit hatte, sich zu erheben, hatte sie sich umgewandt und eilte in fliegender Hast den Abhang hinunter.

Mit einem Ausruf, halb Seufzer, halb Fluch, starrte ihr Glossin nach … Was beginnen? Mit innerer Qual durchlebte er den Auftritt in Gedanken noch einmal. Und dann überkam ihn mit wütender Scham das Bewusstsein, dass er verschmäht war.

Er schlug sich mit geballter Faust vor die Stirn, als wollte er alle bösen Gewalten hinter ihr wieder erwecken. »Tor, der ich war! Welcher Teufel verblendete mich? Diesem Logg Sar gilt ihre Liebe, nicht mir. Er soll mir nicht entgehen, und wenn die Hölle mit ihm und seiner Erfindung im Bunde stände!«

So schnell, wie es ihm möglich war, eilte er dem Haus zu. Ohne Zaudern trat er in Janes Stübchen.

Dr. Glossin sah durch die halbgeöffnete Tür, die zu dem Schlafzimmer führte, dass Jane vor einer Handtasche kniete und Kleider und Wäsche hineinpackte.

»Ah, wie ich dachte. Doch nein, mein Kind, nicht wie du willst, sondern wie ich will. Und ich will dich an Reynolds-Farm ketten, fester, als Wächter und Gitter es vermöchten.«

Er streckte die Hand gegen sie aus und trat langsam auf sie zu. Jane drehte sich um und öffnete den Mund, als wolle sie einen lauten Schrei ausstoßen. Doch kein Laut kam über die Lippen, die sich langsam wieder schlossen.

»Der Morgenspaziergang wird Sie müde gemacht haben, liebe Jane. Legen Sie sich auf den Diwan und ruhen Sie bis zum zweiten Frühstück. Wir werden es gemeinsam in der Laube am Bach einnehmen, und danach werde ich mich zur Abreise rüsten. Wird es Ihnen leidtun, wenn ich wieder fortgehe?«

»O sehr, Herr Doktor! Ich werde traurig sein, wenn ich wieder allein bin … ohne Sie.«

Glossin nickte, ein bitteres Lächeln grub sich um seinen Mund. Er trat an das Ruhebett, auf das sich Jane mit geschlossenen Augen niedergelegt hatte, heran und setzte sich an dem Rand nieder. Er fühlte ihren warmen Atem. Der Duft ihres üppigen Haares, ihres jugendschönen Körpers umschwebte ihn. Ihre halbgeöffneten Lippen schienen nach Küssen zu verlangen. Er öffnete die Arme, als wollte er sie umschlingen. Doch die Vernunft siegte. Er wandte das Gesicht weg und eilte, ohne sich umzudrehen, hinaus. Seine Lippen pressten sich aufeinander, als habe er einen bitteren Trunk getan.