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Indianische Sagen von der Nordpazifischen Küste Amerikas Teil 3

Indianische-Sagen-von-der-Nord-Pazifischen-Kueste-AmerikasFranz Boas
Indianische Sagen von der Nordpazifischen Küste Amerikas
Sonderabdruck aus den Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. 1891 bis 1895
Berlin. Verlag von A. Asher & Co. 1895

I. Sagen der Shushwap. Gesammelt in Kamloops.

3. Der Luchs und das Mädchen

Es war einmal ein Mädchen, die wollte gar keinen Mann nehmen, obwohl viele Männer sich um sie bewarben. Sie wohnte in einem unterirdischen Haus und ihr Lager war gerade am Fuß eines Pfostens. In demselben Dorf lebte auch der Luchs, der in einer kleinen Hütte wohnte. Dieser hätte gar zu gerne das Mädchen gehabt, wusste aber nicht, wie er sie bekommen sollte, da ihre Eltern sie stets bewachten. Eines Nachts schlich er sich auf das Haus und schlug sein Wasser dort ah, sodass es an dem Pfosten herunterlief, an dem das Mädchen lag. Es lief gerade in deren Mund. Da ward sie schwanger, und niemand wusste, wie es zugegangen war. Sie gebar einen Knaben. Als der Knabe vier Jahre alt war, beschlossen die Eltern des Mädchens, einen Versuch zu machen, um herauszufinden, wer der Vater des Kindes sei. Sie setzten einen Vogel auf die Spitze der Leiter, die in ihr Haus hinab führte, und sagten allen Männern, sie sollten versuchen, den Vogel mit ihren Pfeilen zu treffen. Sie versprachen dem, der den Vogel traf, ihre Tochter zur Frau. Alle schossen danach, aber keiner konnte ihn treffen. Endlich hatten alle geschossen, nur der Luchs noch nicht, der ein alter Mann war und still an seinem Feuer lag. Die Eltern des Mädchens sandten nach ihm, er aber antwortete: »Warum soll ich kommen? Die jungen Leute haben den Vogel nicht treffen können, wie sollte ich es denn vermögen? Meine Augen sind ja halb erblindet.«

Er musste aber doch endlich kommen, und man gab ihm Bogen und Pfeil. Er schoss ab, ohne einmal hinzusehen und traf den Vogel.

Da schrien alle: »Der Luchs bekommt das Mädchen zur Frau«.

Ihre Eltern machten einen Platz für ihn neben dem Feuer bereit.

Als er dort nun saß, sprachen sie zu allen Leuten: »Wir wollen unsere Tochter, ihren Mann und ihr Kind verlassen.«

Sie packten ihre Habseligkeiten auf. Dann traten sie den Luchs mit Füßen, sodass seine Knochen brachen und sein Körper ganz zerschunden wurde. Sie löschten alle Feuer aus und zogen fort.

Die Großmutter des Mädchens, die Elster, hatte aber Mitleid mit ihr. Sie legte eine glühende Kohle in eine Muschelschale, tat etwas Nahrung dazu und versteckte sie. Die Leute hatten alle ihre Vorräte, die unter Steinen versteckt waren, mitgenommen und glaubten, die drei müssten verhungern. Als die Frau nun allein dasaß, fing sie an zu weinen. Sie suchte unter den Kohlen nach Feuer, fand aber nichts. Es wurde dunkel und ihr Kind weinte. Da hörte sie in der Ecke des Hauses etwas rufen. Sie ging der Stimme nach und fand die Muschel, welche sie gerufen hatte. Da nahm sie die Kohle und die Nahrungsmittel und machte sich ein Feuer. Als sie die Nahrungsmittel kochte, wurden dieselben soviel, dass sie und ihr Kind vollauf zu essen hatten. Als sie satt waren, schritt sie viermal über den Luchs fort, und sofort war derselbe wieder gesund. Nur sein Gesicht war noch ganz zerschunden. Sie strich mit der Hand über seinen Kopf, und derselbe ward auch wieder ganz heil. Dann ging er auf Jagd und erlegte viel Wild. Dann machte er, dass tiefer Schnee fiel und die Leute, welche sie verlassen hatten, nichts fangen konnten, sodass sie bald große Not litten. Er selbst aber hatte Fleisch in Hülle und Fülle. Seine Frau trocknete es und legte viele Verstecke an. In eines, das für die Elster bestimmt war, tat sie die besten Stücke. Für die anderen bewahrte sie nur Haut und Knochen, für den Coyoten Füße, Magen und Eingeweide.

Nach einiger Zeit kam die Elster zu dem verlassenen Dorf, um sich nach ihrer Enkelin umzusehen. Sie fürchtete schon, jene sei tot, und war sehr erstaunt, als sie den Knaben entdeckte, der mit einem schneeweißen Ball spielte. Bald sah sie, dass der Ball aus Hirschfett gemacht war. Sie versteckte sich, und als der Ball an ihr vorüberrollte, sprang sie darauf los und fraß ihn. So hungrig war sie.

Da weinte der Kleine: »Die Elster hat meinen Ball gestohlen.«

Als der Luchs das hörte, kam er aus dem Haus und sagte zu ihr: »Warum nahmst du den Ball meines Sohnes? Wenn du hungrig bist, komme ins Haus, ich will dir zu essen gehen.«

Sie gingen hinein und gaben ihr Fleisch und Fett. Als die Elster sich satt gegessen hatte, trug sie, was übrig blieb, nach Hause, um es ihren Kindern zu geben. Sie pflückte Flechten von Tannen ab und röstete sie. Diese gab sie dann ihren Kindern mit Hirschfett zu essen.

Als sie das Essen verteilte, riefen die Kinder: »Du hast meinem Bruder mehr gegeben, als mir«, und zankten sich.

Der Rabe, der mit im Hause wohnte, und dieses hörte, fragte: »Wovon redet ihr da?«

Die Elster sagte: »O, es ist nichts, die Kinder zanken sich nur.«

Da setzte der Rabe sich wieder ans Feuer und schlummerte. Er blinzelte aber hinüber und sah nun, dass die Kinder Hirschfett aßen. Da sprang er auf und rief: »Woher habt ihr das Fett bekommen?«

Die Alte erzählte nun, dass der Luchs Nahrungsmittel in Hülle und Fülle habe. Dann gingen alle zu den Verlassenen zurück. Der Luchs gab jedem die Vorräte, die er für ihn aufgespeichert hatte, und jagte dann für sie.