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Der Burggeist

Die-Geister-Erstes-BuchChristoph Wilhelm Meißner
Die Geister
Erster Band
Berlin 1805, bei Oehmigke jun., überarbeitet 2015

Der Burggeist
(nach einer Volkssage)

Im Jahr 1688 ging ein armer Schuhmacher in F . . . . g in das benachbarte Städtchen S . . . Sein Weg führte ihn dicht vor den Ruinen eines alten Schlosses vorbei, von welchem er schon so viele abenteuerliche und seltsame Dinge hatte erzählen hören. Er beschloss also dieses merkwürdige Gebäude her dieser Gelegenheit etwas genauer in Augenschein zu nehmen.

Er stieg daher hinauf, durchkroch alle Winkel desselben und bemerkte endlich eine Treppe, welche, wie er glaubte, in einen Keller führte. Seine Neugier spornte ihn an, auch diesen nicht ununtersucht zu lassen. Er stieg mutig hinunter und fand, dass er sich nicht geirrt hatte. Es war wirklich ein Keller, in welchen die Sonne durch eine Öffnung gerade so viel Licht hineinwarf, dass er jeden Gegenstand genau erkennen konnte.

Zu beiden Seiten des Kellers lagen 18 Fässer. Die zwei vordersten wären mit Hähnen versehen. Dem Meister kam die Lust an, den Wein zu versuchen. Er drehte also den Hahn und wurde mit Erstaunen gewahr, dass wirklich Wein wie Öl in das darunter stehende Gefäß floss. Es ärgerte ihn, dass er kein Geschirr bei sich hatte, worin er seiner Frau und seinen Kindern etwas von diesem Labetrunk mitbringen konnte. Er zweifelte nicht, dass dieser Wein für ihn bestimmt sei, und dachte daher nur auf Mittel, wie er ihn auf eine gute Art nach Hause schaffen könnte. Nachdem er seinen Durst gestillt hatte, setzte er seinen Marsch nach dem bestimmten Ort fort, kaufte sich daselbst nach verrichteten Geschäften zwei große irdene Flaschen nebst einem Trichter und wandelte dann noch vor Untergang der Sonne mit diesem Apparat mutig auf das Schloss zurück.

Hier fand er noch alles in der Ordnung, wie er es verlassen hatte. Er füllte daher ungesäumt seine Flaschen und wollte bereits mit seiner Ladung den Keller wieder verlassen, als er an der Treppe einen alten Mann in einem kurzen, schwarzen Rock, langen Bart, kahlen Kopf und ledernen Käppchen an einem Tischgen sitzen sah, der eine Schiefertafel vor sich liegen hatte, und dem Anschein nach in einer sehr wichtigen Rechnung begriffen war.

Dem guten Bürger sank jetzt auf einmal der Mut, und er hätte gern seine Flaschen zurückgelassen, hätte er nur auf eine gute Manier ungesehen wieder aus dem Keller entwischen können. Allein dazu sah er gar keine Möglichkeit, denn der Alte hatte sich gerade so gesetzt, dass der Bürger, wollte er ja zu entfliehen suchen, Gefahr lief, ihn über den Haufen zu stoßen.

Er hielt also für das Beste, den Alten wegen seines Diebstahls um Verzeihung zu bitten und ihn dahin zu vermögen, dass er ihn ungehindert gehen lasse. Dies tat er denn auch. Er warf sich vor ihm auf die Knie und versicherte ihn, dass er sich in seinem Leben nicht wieder nach seinem Wein gelüsten lassen wolle, wenn er ihn nur dieses Mal ungestraft zu seiner Frau und seinen Kindern zurückziehen ließe.

Der Alte schien das sehr aufzunehmen.

»Komm, so oft du willst, und du sollst bekommen, so viel dir und den Deinen Not tut!«, sagte er lächelnd und verschwand.

Dem Bürger wurde es auf einmal ganz leicht um die Brust. Er eilte mit seiner Bürde so schnell er konnte davon und kam glücklich damit bei seiner Frau an, der er das ganze Abenteuer genau erzählte.

Diese wollte zwar anfangs durchaus nicht von dem mitgebrachten Wein trinken. Als sie aber sah, dass ihr Mann sich in diesem edlen Saft so gütlich tat, schwanden zuletzt ihre Bedenklichkeiten. Sie tat ihrem Gatten Bescheid und fand diesen Labetrunk für ihren Gaumen so behaglich, dass sie beinahe in die Versuchung geraten wäre, ein Gläschen auf die Gesundheit des Gebers dieses Guten zu trinken.

Der gute Meister war nicht karg mit seinem Wein. Er hatte die Versicherung, dass er so oft wiederkommen durfte, so oft seine Flaschen geleert sein würden, und wusste sich dieser Erlaubnis so gut zu bedienen, dass selten eine Woche verstrich, wo er nicht zu dem Keller wanderte und seine Flaschen von Neuem füllte.

So verstrich ein ganzes Jahr. Er tat sich mit seiner Familie immer sehr gütlich, und seine Flaschen glichen dem nie versiegenden Ölkrug der Witwe im Evangelium. Endlich war er so töricht und bewirtete auch ein paar seiner Nachbarn mit dem Wein, den er, nach der Vorschrift des Alten, doch nur mit seiner Familie verzehren sollte.

Die Nachbarn ließen sich den Wein auch recht wohl schmecken und konnten sich nicht genug darüber wundern, dass der arme Schuster ihnen ein Glas Wein vorsetzen kannte, desgleichen in der ganzen Gegend keiner zu bekommen war, und der wegen seiner außerordentlichen Güte auf einer fürstlichen Tafel aufgesetzt zu werden verdiente. Sie sahen einander bedenklich an und kamen endlich auf die Vermutung: Nachbar Schuster mochte wohl durchreisende Fuhrleute beherbergen, und statt der Zahlung Wein nehmen, oder wohl gar ohne ihr Wissen sie darum betrügen.

Da nun insgemein die nächsten Nachbarn auch die nächsten Feinde zu sein pflegen, so darf man sich wohl nicht wundern, wenn der gastfreie Wirt schon des anderen Tages mit Frau und Kindern aufs Rathaus geholt wurde, um anzuzeigen, wie er zu dem Wein gekommen sei.

Man befragte ihn scharf und drang so sehr in ihn, dass er, ob er gleich einsah, dass es nunmehr mit seinem Weinholen wohl ein Ende haben würde, sich endlich doch genötigt sah, sein Abenteuer mit allen Umständen der neugierigen Obrigkeit zu entdecken.

Die ehrsamen Mitglieder des edlen Rates schüttelten ob dieser Erzählung die wohlweisen und großperückten Köpfe, noch mehr aber über den Wein selbst, den sie als ein Corpus Delicti nach echtem Gerichtsgebrauch aufs Rathaus hatte holen lassen und so vortrefflich fanden, dass sie einhellig versicherten, sie könnten sich nicht entsinnen, ihn je so gut getrunken zu haben. Der Geschuldigte musste seine Aussage eidlich erhärten und erhielt, weil der Hochedle Rat auch seiner werten Familie gern diesen Labetrunk zu kosten geben wollte, – die gerichtliche Aufgabe noch einmal mit seinen Flaschen auf das Schloss zu gehen und den dort gezapften Wein statt der aufgelaufenen Gerichtskosten auf das Rathaus zu liefern.

Ob nun gleich unser Schuster im Voraus sah, dass seine Mühe dieses Mal vergeblich sein würde, so musste er, wollte er sich den Rat nicht zum Feind machen, notgedrungen dem Befehl gehorchen.

Er kam glücklich auf dem Schloss an und fand zu seiner innigen Freude noch alles im vorigen Stand. Er stieg eilig hinunter in den Keller, füllte in der Geschwindigkeit seine Flaschen und wollte sich eben wieder zurück begeben, als er mit Schrecken unfern der Treppe den nämlichen alten Mann erblickte, den er hier schon einmal gefunden hatte.

Er saß abermals an einem kleinen Tisch und war, wie das erste Mal, mit Rechnen beschäftigt. Allein die Rechnung schien diesmal beendet zu sein, denn kaum hatte sich der erschrockene Bürger umgekehrt, so stand der alte Mann auf, durchstrich alle auf der Tafel befindlichen Zahlen mit einem Kreuz, ging zu einem kleinen Kasten. öffnete ihn und nahm stillschweigend 30 Goldstücke heraus, wovon jedes in der Größe eines Laubtalers war, und warf sie sodann dem Meister in den Hut.

Letzterer wunderte sich über die Freigebigkeit seines Wohltäters und dankte schon dem Himmel, dass er so glücklich von seiner Furcht befreit werde, als Ersterer den Stuhl, worauf er vorher gesessen hatte, in die Mitte des Kellers setzte, eine große Rute hervorzog, und dem Bürger durch Mienen zu verstehen gab, dass er seinen Rücken entblößen und sodann sich bequemen möchte, sich auf den vor ihm stehenden Stuhl zu setzen.

Der Bürger bat seinen Wohltäter auf den Knien, ihm nur diesmal zu verzeihen. Allein er war unerbittlich und fasste ihn, da er sich durchaus nicht einer so kindischen Behandlung unterwerfen wollte, beim Kopf, kleidete ihn aus, stauchte ihn auf den Stuhl und zerhieb ihn mit der ziemlich starken Rute den Rücken dergestalt, dass das Blut daran herunter rann.

»Nun geh«, sagte er nach vollbrachter Exekution, »und lass dich, so lieb dir dein Leben ist, nie wieder hier blicken! Du hättest eigentlich für deinen Ungehorsam, dass du, meinem Verbot ungeachtet, auch Fremden von deinem Wein zu trinken gegeben, eine nach härtere Bestrafung verdient. Allein um deiner Frau und deiner Kinder willen mag es sein Bewenden dabei haben. Den Wein und das Geld nimm mit. Ersteren liefere dem Rat ab, Letzteres aber behalte für dich, und wende es ja wohl an, willst du nicht mehr Schaden, als Nutzen davon haben. Geh! Und lass dich nie wieder gelüsten, hierher zu kommen!«

Der Alte verschwand, und der Gegeißelte zog, so gut er konnte, seine Kleider wieder über den gepeitschten Rücken und trat dann, mit seinem Gold und Wein versehen, gemach seinen Rückweg an.

Seine Frau kam ihm bis in die Tür entgegen, merkte aber bald aus seinem finsteren Gesicht, dass ihm etwas Widriges begegnet sein müsse. Sie fragte ihn um die Ursache, konnte aber lange nichts von ihm erfahren. Endlich erzählte er ihr offenherzig, wie übel ihm seine Gastfreiheit bekommen sei, und zeigte ihr zu mehrerer Bekräftigung seinen blutigen Rücken, auf welchem die lateinischen Buchstaben H.M.C.T. sehr deutlich zu lesen waren.

Nun konnte freilich die gute Frau nicht länger an der Wahrheit dieser traurigen Geschichte zweifeln. Sie bezeigte ihn herzliches Mitleid und riet ihm, den leidenden Teil seines Körpers ein wenig von dem mitgebrachten Wein zu waschen. Allein dieser, dem die Worte seines ehemaligen Wohltäters noch sehr deutlich in den Ohren klangen, trug Bedenken, seiner Obrigkeit etwas zu entziehen, und lieferte den Wein so ab, wie er ihn erhalten hatte. Er ermangelte auch nicht bei dieser Gelegenheit dem Hochedlen Rat zu erzählen, wie teuer ihm der Wein zu stehen gekommen sei, und machte dadurch die Neugierde dieser Herren so rege, dass sie endlich sogar den Wunsch äußerten, ihnen doch die auf seinem Rücken befindlichen Hieroglyphen besehen zu lassen.

Unser Meister ließ sich hierzu bereitwillig finden, und der Hochweise Rat staunte nicht wenig, als er die vier Buchstaben erblickte. Allein keiner war so glücklich ihren verborgenen Sinn zu erraten, ausgenommen der Herr Actuarius, der ein starker Diplomatiker war, und in einer sehr gelehrten Rede bewies, dass die vier Buchstaben nichts mehr und nichts weniger anzeigen könnten, als die so bekannten lateinischen Worte: Hodie Mihi, Cras Tibi, die man auf so vielen Leichensteinen eingehauen fände, und auf gut Deutsch »Heute an mir, morgen an dir« hießen.

So wenig diese Auslegungen den übrigen Gliedern des Hochedlen Rats auch in die Köpfe wollte, so war doch keiner so unbescheiden, den Herrn Actuarius eines anderen überführen zu wollen. Man nahm sie als richtig an, und schien sich übrigens wenig darum zu bekümmern, was wohl der wahre Sinn dieser merkwürdigen Worte sein möchte.

Der Bürger wurde entlassen, der Wein aber zurückbehalten.

Vier Wochen nachher war neue Bürgermeisterwahl. Da es nun hierbei immer feierlich herzugehen pflegt, so war wohl nichts natürlicher, als dass erwähnter Wein bis dahin aufgehoben wurde.

Der Tag erschien, und die Feierlichkeiten nahmen ihren Anfang. Alles, was nur in etwas zur Familie der Ratsglieder gehörte, wurde zum Schmaus eingeladen. Man setzte sich zu Tisch und ließ sich die aufgetragenen Gerichte recht wohl schmecken. Besonders aber mundete der Wein, und sein Lob strömte von allen Zungen. Die besten Weinkenner versicherten, dass er den Nierensteiner und Johannisberger weit übertreffe, und der gestrenge Herr Exkonsul bedauerte nichts mehr, als dass er dem Bürger nichts aufgelegt hatte, statt zwei Flaschen, zwei Stückfässer von diesem edlen Rebensaft zu füllen.

Die Gesellschaft ging erst spät und größtenteils wohl bezecht auseinander. Fast jeder fühlte beim Hinweggehen die Füße ungleich leichter als den Kopf, und selbst der gestrenge Herr Exkonsul war davon nicht ausgenommen. Er schlich sich daher ganz still an den Häusern weg, konnte aber, trotz alles Suchens, seine Wohnung nicht finden. Dies fiel ihm auf. Er erinnerte sich, oft mehr getrunken zu haben, und doch nicht in diese Verlegenheit gekommen zu sein. Er war daher völlig der Meinung, es müsse heute damit seine besondere Bewandtnis haben.

Indessen gab er die Hoffnung nicht auf, sich endlich doch zurechtzufinden. Er wankte aus einer Straße in die andere und kam endlich an ein Haus, das ihm ganz unbekannt war, und in dessen Unterstube er noch ein brennendes Licht sah. Ohne Bedenken klopfte er an und fragte den Mann, der zum Fenster heraus sah, ob er nicht so gut sein und ihn nach Hause führen wolle. Dieser war auch gleich bereitwillig dazu. er nahm den Herrn Bürgermeister unter den Arm, führte ihn die Straße auf, die Straße ab und öffnete endlich die Tür eines Hauses, das, so viel der benebelte Herr Bürgermeister in der Dunkelheit erkennen konnte, seiner Wohnung ziemlich ähnlich sah. Allein kaum hatte er den Fuß über die Schwelle gesetzt, so bemerkte er beim Schein einer brennenden Lampe, dass ihn sein Führer irregeleitet hatte. Er befand sich in einem Gewölbe, das rundum mit Weinfässern umgeben war, und in dessen Mitte ein alter Mann an einem Fass lehnte, der gerade so aussah, wie jener Bewohner des Bergschlosses von dem ehrlichen Schuster beschrieben worden war. Sein kurzes Haar sträubte sich mächtig unter der großen, schön gepuderten Perücke empor. Seine Einbildung stellte ihm des Meisters zerhauenen Rücken sehr lebhaft vor die Augen. Er ahnte gleiche Behandlung und würde sich gewiss eilig wieder entfernt haben, hätte er nicht die Tür sehr sorgfältig hinter sich zuschließen hören. Er sah sich also gezwungen, zu erwarten, was man mit ihm vornehmen werde. Der Alte ließ ihn auch nicht lange in dieser bänglichen Ungewissheit. Er holte eine Rute hervor, die noch etwas wichtiger zu sein schien als jene, von der die Spuren noch immer sehr deutlich auf des Schusters Rücken zu sehen waren, und gab sodann dem am ganzen Leib zitternden Bürgermeister durch Zeichen zu verstehen, dass er geruhen möge, seinen Rücken zu entblößen und sich sodann über das am Boden liegende Weinfass zu legen. Man kann sich denken, dass der Herr Bürgermeister gegen ein solches Verfahren möglichst protestierte und appellierte; allein es half ihm nichts. Er musste sich dem Willen des Burggeistes unterwerfen, und erhielt eine noch reichlichere Portion Streiche, als weiland der Schuster erhalten hatte.

Ja, der Geist war mit dieser Rache noch nicht einmal zufrieden. Er spundete den jämmerlich zerhauenen Herrn Bürgermeister auch noch in ein leeres Weinfass und ließ ihn darin zwei volle Tage fasten.

Die übrigen Personen, welche von dem auf dem Bergschloss gezapften Wein getrunken hatten, bekamen sämtlich einen ungewöhnlich starken Ausschlag.