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Die Totenhand – Teil 17

Die-TotenhandDumas-Le Prince
Die Totenhand

Fortsetzung von Der Graf von Monte Christo von Alexander Dumas
Erster Band
Kapitel 17 – Der Kranz

Acht Tage nach dem Gespräch zwischen Vampa und Benedetto hätte man an Eugenie d’Armilly ein träumerisches Wesen bemerken können, welches auf ihre Stirn einen leisen Schatten der Trauer warf. Luise hatte schon zuweilen bemerkt, dass Eugenie ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit die Einsamkeit aufsuchte und allein zu sein wünschte. In solchen Augenblicken rann eine Träne über die Wange der Sängerin; ein offenbares Zeichen, dass irgendein geheimnisvolles oder großes Ereignis in ihrem inneren Leben vorgegangen war. Luise strebte vergebens, diese Träne durch einen Kuss zu trocknen. Es folgte der Ersten eine Zweite, wie um die großmütige Freundin Eugenies zu benachrichtigen, dass die Ursache, welche die Tränen hervorrief, nicht durch die Liebkosungen und die Zuneigung einer Freundin gestört werden könnte.

An einem der Abende, an welche Eugenie die Gesellschaft Luises floh und die Einsamkeit aufsuchte, hatte sie sich melancholisch und träumerisch an das Fenster ihres Gemaches gesetzt und blickte nachdenklich und zerstreut den letzten Strahlen der Sonne nach, welche allmählich die Hauptstadt der christlichen Welt in Schatten versenkte, indem sie sich um die majestätische Kuppel des Petersdoms zu einer Feuergarbe zu vereinigen schien. Von Zeit zu Zeit hob ein leichter Seufzer ihre Brust, und zwei Tränen zitterten in den dichten Wimpern ihrer schönen Augen wie zwei Tropfen Tau in dem Kelche einer Blume.

Luise war in das Zimmer getreten, ohne dass Eugenie es bemerkte. Schon seit einigen Minuten betrachtete sie ihre Freundin mit besorgter Teilnahme und suchte aus ihren Bewegungen, ihrer schmachtenden Haltung zu erraten, was sie seit einigen Tagen argwöhnte. Dann trat sie bis zu Eugenie heran, lehnte sich leicht über deren Schulter, drückte ihr einen Kuss auf die Stirne und flüsterte: »Mein Herzchen!«

»Luise!«, erwiderte Eugenie zusammenfahrend, während ihre Tränen flossen.

»Du atmetest wohl in dieser berauschenden Luft Italiens das süße Gift der Corinna oder des Tasso, nicht wahr, meine zärtliche Freundin?«, fragte Luise.

»Ach, soll ich denn Geheimnisse vor dir haben, Luise? Ich überzeugte mich soeben selbst, dass das, was ich empfinde, kein bloßes Spiel der Einbildungskraft ist!«

»Und das Gefühl, welches kein bloßes Spiel der Einbildungskraft ist, tut dir weh, weil es über deinem Willen steht. Es wirft einen Schatten der Trauer auf deine sonst so heitere, entschlossene Stirn, Eugenie!«

»Du sprichst die Wahrheit! Ja, das Gefühl steht über meinem Willen, es triumphiert über denselben, wie ich selbst über andere Gefühle zu triumphieren wusste, die mich hätten beherrschen sollen. O, erinnerst du dich wohl noch, wie ich mich über die törichten Versuchungen einer plötzlichen allgewaltigen Liebe lustig machte, deren Geständnisse auf dich wie auf mich herabregneten? Erinnerst du dich, mit welchem ungläubigen und spöttischen Lächeln ich auf alle die Seufzer antwortete, welche die auf uns gerichteten verliebten Blicke begleiteten? Erinnerst du dich jener Zeit, frei von Kummer und Sorgen, wo meine Seele von dem Tribut frei zu sein glaubte, zu dessen Zahlung alle auf dieser Welt verurteilt sind? O, ich bin im Grunde ebenso wie alle andern Frauen – ich beginne zu leiden – weil ich zu lieben beginne.«

»Ich ehre dein Leiden, meine Teure, und ich biete dir ein Freundesherz, um deine Seufzer und deine Klagen aufzunehmen!«

»Ich nehme es an, Luise. Ich nehme es an und danke dir dafür«, antwortete Eugenie, indem sie ihr die Hand drückte und sie mit Küssen bedeckte. »Ich fühle nicht die Kraft, dir die Empfindung zu gestehen, die mich beherrschte. Du hast sie erraten – jetzt höre mich an.«

Sie blieb einen Augenblick still und nachdenkend, als wollte sie ihre Gedanken sammeln und den Bericht ordnen, den sie zu geben im Begriff stand.

Endlich begann sie: »Du hattest mir empfohlen, wenn ich auf der Szene bin, nie auf einen einzelnen Mann meine Blicke zu richten, sondern sie stets über das Orchester und das Parterre hingleiten zu lassen, ohne mich zu bemühen, irgendjemand zu unterscheiden und zu erkennen, als ob diese ganze Menge sich in großer Entfernung von der Rampe befände. Deinen Rat habe ich befolgt. Mir gegenüber sah ich ein zahlreiches Auditorium und ich bemerkte es nur, unbestimmt, wie man eine schwarze Wolke bemerkt, die zu unsern Füßen hinzieht, wenn wir uns auf dem Gipfel eines hohen Felsens befinden. Eines Abends aber war dort ein Mann, der sich über diese tobende und enorme Masse erhob. Auf der Stirn dieses Mannes glänzten Geist und Schönheit. Seine Augen schössen Flammen, die mich verzehrten, mich verbrannten, mich wahnsinnig machten! Als die Beifallsrufe ausbrachen, blieb dieser Mann regungslos, aber sein Blick allein schien mir mehr als die tausend jubelnden Lippen zu sagen, die mich hervorriefen! Von jenem Abend an hörte das Gesicht dieses Mannes nicht auf, sich mir zu zeigen. Stets an demselben Platze, stets mit demselben Ausdruck, stets mit demselben Blitzen in den Augen, stets mit derselben Gewalt über mich, Luise. Und wer ist er? Mein Gott, wer ist er? Was kümmert es mich! Er ist ein Mann, den ich liebe, ein Mann, der mir ein heißes und wahres Gefühl einflößt, welches ich nicht aus dem Herzen zu reißen vermag!«

Wieder entstand ein Augenblick des Schweigens, währenddessen Eugenie ihr Gesicht in die Hände barg und schluchzte.

Luise richtete einen Blick voll Besorgnis auf ihre Freundin und ihre Lippen flüsterten leise, als wollten sie das Wort aussprechen: Unglückselige!

»Und du kennst diesen Menschen nicht, meine Eugenie?«, fragte sie endlich.

»Ich habe es dir schon gesagt. Nein, ich kenne ihn nicht. Ich weiß nur, dass er Herr aller meiner Gedanken ist, von dem ersten Augenblick an, wo ich ihn sah. Wer weiß, ob er mir nicht schon seit längerer Zeit folgte, ohne dass ich es bemerkte? Ach, Luise, meine gute Luise, ich, die ich das Wort verachtete, welches für die Männer erfunden zu sein scheint, um ihre Torheiten zu bezeichnen, das Wort Liebe, welches beständig auf den Lippen aller Männer und aller Frauen der Mode schwebt, ich habe es jetzt nicht nur auf den Lippen, sondern in dem Herzen wohnt nur das Gefühl, welches dieses Wort ausspricht! Ich bin ebenso gewöhnlich wie jedes andere Mädchen meines Alters!«

»Du täuschst dich, Eugenie. Ein junges Mädchen deines Alters kann nicht so fühlen, wie du jetzt fühlst! Diese innige Leidenschaft, die in deinem Herzen unter dem glühenden Blicke eines Mannes entstanden ist und sich entwickelt hat, wird dir mehr Poesie verleihen, wird dir neue Reize gewähren, weil sie dich über dich selbst erhebt, wenn man so sprechen kann. Indes müssen wir die Dinge so betrachten, wie sie in der Welt sind. Erinnere dich, dass die einfache Tatsache, einen Mann die Herrschaft kennen zu lassen, die er über den Geist eines Weibes ausübt, ehe dieses seinen Charakter gründlich kennt, die Quelle großer Unglücksfälle sein kann, Eugenie.«

»O, er wird nie die Kraft und die Gewalt des Gefühles kennenlernen, das er mir einflößte!«, rief Eugenie stolz.

»Vielleicht!«, murmelte Luise.

In diesem Augenblick meldete ihnen Frau Aspasia, dass der Theaterwagen gekommen sei, sie in das Schauspielhaus zu holen.

Eugenie trocknete die Augen, die noch von der köstlichen Feuchtigkeit erfüllt waren, welche die Liebe durch eine ihrer überspannten Launen über die Rosen einer jungfräulichen Stirn ergießt. Sie warf den Schal über die Schultern, ging die Treppe, begleitet von Luise, hinab, und stieg in den Wagen, der sogleich abfuhr.

Sobald sie den Fuß auf die Szene gesetzt hatte, ging Eugenie zum Vorhang, der sie den Augen des Publikums entzog. Dort blieb sie einige Augenblicke vor der Scheidewand stehen und schien über das Verlangen triumphieren zu wollen, welches sie antrieb, das Publikum durch die Öffnung in dem Vorhang zu überblicken. Aber ihr Verlangen trug den Sieg davon und sie schritt vorwärts. Luise folgte ihr und stellte sich stumm und regungslos an ihre Seite.

Ein leichtes Zittern erfasste den Körper Eugenies. Ihr Busen wogte, und ihre Lippen öffneten sich, um einen leisen Schrei hervorzulassen.

»Er ist da!«, flüsterte die junge schöne Künstlerin. »Er ist da, aufrechtstehend auf der Galerie und schießt seine leidenschaftlichen Blicke auf mich. Sage mir, ist das nicht eine Torheit?«, fuhr sie fort, indem sie sich zu Luise wendete, »mich durch den Blick eines Mannes besiegen zu lassen, eines Mannes, den ich nicht kenne, den ich kaum gesehen habe, ohne auch nur den Ton seiner Stimme gehört zu haben? Ach, er ist aber auch wirklich ausgezeichnet schön! Sein braunes Gesicht, sein Bart, schwarz wie Ebenholz, tragen den Stempel der Kraft! Seine großen Augen zeugen von Verstand und drücken zugleich den Adel und den Stolz seines Charakters aus! Sieh hin, Luise, sieh, wie edel und schön er ist. Wie kalt und verächtlich er auf das Parterre herabzublicken scheint, das ihn umgibt, für ihn aber tausend Meilen weit entfernt ist.«

Luise wollte antworten, aber der Pfiff des Regisseurs, welcher das Signal Die Bühne frei! gab, hinderte sie, den Mann zu betrachten, den Eugenie ihr mit so viel Enthusiasmus schilderte. Die beiden Freundinnen traten in die Kulissen zurück und hörten mit einer gewissen Aufregung die ersten Klänge des Orchesters, welches die Symphonie der Ouvertüre begann.

Es war die letzte Vorstellung der Semiramis und das Theater auch in allen seinen Räumen mit Zuschauern gefüllt.

Eugenie sang diesen Abend noch besser als gewöhnlich. Aber ihr Blick, der sonst stolz und geringschätzig über das Parterre hinglitt, ohne auf die Blicke zu achten, welche den ihren zu haschen trachteten, schien sich auf eine bestimmte Person zu heften und zu sagen, dass diese Person der Erwählte ihrer leidenschaftlichen Seele sei.

In dem Augenblick, als das Theater zu Ende ging, flog ein prachtvoller Kranz, geschleudert von einer unsichtbaren Hand, durch die Luft und fiel zu Füßen Eugenies nieder, die ihn aufhob und küsste, wie dies Brauch ist.

Der Vorhang fiel unter tobendem Beifallsgeschrei, welches allmählich verstummte, wie der Enthusiasmus den kalten Erläuterungen der Kritik Platz macht.

Dieser Kranz, den Eugenie empfangen hatte und auf welchem der Name Luises zu fehlen schien, war reicher und glänzender, als irgendeiner von denen, welche ihr bisher geboten wurden.

»In der Tat«, sagte Luise, indem sie den Kranz betrachtete, ohne den geringsten Schein der Eifersucht anmerken zu lassen, sondern vielmehr voll Entzücken, »ein Prinz allein kann den Gedanken gehabt haben, dir diesen Kranz zu bieten, in welchem Gold und Diamanten miteinander wetteifern!«

»Vielleicht ist es das Geschenk irgendeiner jener Verbindungen, welche sich gewöhnlich zu diesem Zweck bilden«, flüsterte Eugenie, deren Einbildungskraft indes weit davon entfernt war, diese Hypothese zuzugeben. Denn sobald sie sich allein sah, küsste sie leidenschaftlich die Bänder und Blumen, zwischen denen ihre zitternde Hand einen Gegenstand suchte, dessen Vorhandensein sie ahnte.

Sie täuschte sich nicht! Ein kleines, sorgfältig zusammengefaltetes und zwischen den Blumen verstecktes Papier zeigte sich den Blicken Eugenies, die es begierig ergriff, um es zu öffnen und zu lesen. Eine leichte Röte bedeckte ihre Wangen, und ihre Arme sanken herab, ohne dass sie die Kraft, noch die Kühnheit hatte, die verliebte Epistel bis zu der Höhe ihrer Augen zu erheben. Aber das Verlangen ihrer Seele triumphierte über die keusche Furcht des jungen Mädchens, und sie las das folgende Billet:

Signora!
Das erste Mal, als ich Sie sah, fühlte ich mich ergriffen und bezaubert, gleich dem ganzen Auditorium, das mich umgab und welches Sie durch den kräftigen Ausdruck Ihres Blickes und Ihres Genies fesselten! Ich glaubte, der Eindruck, den ich empfand, sei einfach der, welchen Sie auf die übrigen Zuschauer hervorgebracht hatten. Ich suchte ihn mir zu verhehlen und sogar ihn zu vergessen.
Alle meine Bemühungen waren fruchtlos.
Ihr Bild verfolgte mich ohne Unterlass, und ich erkannte, dass in meinem Herzen durch das bezaubernde Bild etwas Wirkliches und Wahres erweckt worden sei.
Jetzt gibt es keinen Augenblick mehr, in welchem ich nicht an Sie denke, und ich treibe den Wahnsinn so weit, Ihnen eine Erklärung zu machen, wie Sie – ich zweifle nicht daran – bereits Tausende empfangen haben, aber die nicht, wie die meisten jener andern, bloß durch die Lippen diktiert wird.
Signora, in der Dunkelheit und dem Schweigen lebt ein Mann, der Sie aus dem Grunde seiner Seele liebt, der Sie anbetet, und der gegen ein einziges Wort aus ihrem Munde eine Ewigkeit der Qualen annehmen würde!