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Xaver Stielers Tod – Kapitel 2

Xaver-Stielers-TodRobert Kohlrausch
Xaver Stielers Tod
Kriminalroman
Erschienen 1928 im Josef Ginger Verlag Berlin

Zweites Kapitel

Tief in Gedanken, den Kopf zur Erde gebeugt, ein paar müde Falten um den fest geschlossenen Mund, schritt Xaver Stieler dahin, so ganz unähnlich in seiner Haltung dem von der Menge vergötterten Künstler, dass manch einer stehen blieb und ihm verwundert nachschaute. Wo waren die Kraft, Elastizität, Beweglichkeit geblieben, die den Besitzer dieses ebenmäßig schönen Körpers auf beiden Hälften der Erdkugel berühmt gemacht hatten? Welche Gedankenlast lag so schwer auf seinem Haupt, dass unter ihr das gewohnte Siegeslächeln von seinen Lippen verschwunden war?

Ganz langsam, widerwillig ging er dahin. Einmal blieb er vor einer großen Anschlagtafel stehen, auf der in Riesenbuchstaben sein drittletztes Auftreten im Edentheater angekündigt wurde. Sein Bild prangte darüber, eindringliche Reklame sprach von ihm als erstem Universalkünstler der Welt, von dessen Leistungen die ganze zweite Hälfte des Programms ausgefüllt wurde.

»Schwerer wird es mir doch, als ich gedacht hatte«, sagte Stieler leise vor sich hin. Dann aber hob er den Kopf, seine Gestalt straffte sich. Nun erkannten die Vorübergehenden wieder in ihm den Mann unerreichter Kraft und Energie. Die Carmen-Melodie vor sich hinsummend Auf in den Kampf, Torero, ging er in der wachsenden Dämmerung nun mit festen, raschen Schritten dahin. Das Pflaster klang unter seinem Fuß.

Er machte Halt in einer Straße mit gleichmäßigen Fronten von dicht aneinander gebauten Häusern ohne Vorgarten oder Baumgrün. Das Haus, an dem Stieler für einen Augenblick in die Höhe schaute, bevor er eintrat, war mit allerhand Ornamenten aus Stuck beklebt, worunter ein grinsender Frauenkopf über jedem der Bogenfenster wiederkehrte. Zur lachenden Maske hatten die Nachbarn es darum getauft, ohne daran zu denken, wie sehr dieser Name für manche Bewohnerin dieses Hauses passte.

Mit neuerdings verdüstertem Gesicht stieg Stieler die schon hellerleuchtete, breite Treppe zu dem ersten Stockwerk hinauf. Dort war an der Tür eine blanke Messingtafel, auf der in großen Buchstaben Rosa d’Otranto zu lesen war, darunter hielt ein Reißnagel eine kleine Visitenkarte fest, worauf Afra Baratta geschrieben stand. Stieler drückte den weißen Knopf der elektrischen Glocke, die mit ungewöhnlich starkem, tiefem Klang ertönte.

Gleich darauf ließen kurze, rasche Schritte sich drinnen vernehmen, und in der geöffneten Tür erschien Rosa d’Otranto in eigener, ältlicher Person mit einem zusammengeschrumpften Gesicht, das einem zu weit ins neue Jahr hinüber genommenen Apfel ähnlich war. Man sah es ihr nicht an, dass auch sie vor langer Zeit einmal vom Glanz der Varietébühne verklärt gewesen war. Aber sie hatte sich wirklich zehn Jahre lang, ihre damals mollig hübschen Glieder in rosenfarbenes Trikot gekleidet und ein krampfhaftes Maskenlächeln wie hinein gemeißelt im runden Gesicht, von einem Kunstschützen allabendlich Glaskugeln, Tonpfeifen und Brillantsterne vom Kopf und aus den Händen schießen lassen. Durch einen Unglücksfall Mutter geworden, hatte sie dieser Kunst Lebewohl sagen müssen, weil ihre Figur sich nicht mehr für das rosenfarbene Trikot eignete. Nach einem gescheiterten Versuch mit abgerichteten Schildkröten hatte die Not sie zur Entdeckung einer kleinen, angenehmen Stimme in ihrer Kehle geführt, und sie hatte sich tapfer von Café chantant zu Café chantant durchgesungen, bis ihre Tochter herangewachsen war. Die bildete nun, zur Abwechslung in blaues Trikot gekleidet, mit einer bunten Schar von dressierten Papageien und weißen Kakadus eine gesuchte Nummer der bunten Bretterwelt. Rosa d’Otranto selbst vermietete Zimmer an Größen des Varietés, neuerdings auch des Kinos und sonnte sich im Abglanz ihres Ruhmes. Aus ihrer eigenen Glanzzeit hatte sie nur den schön klingenden Künstlernamen gerettet. Sie hieß in Wahrheit Josefine Fengefisch.

Die Vergangenheit der Besitzerin hatte den Räumen der Wohnung auch ihren Stempel aufgedrückt. Es gab da gleich beim Eintritt viel roten, unechten Samt mit breiten Goldfransen und viele Spiegel mit glatten, dicken Goldrahmen. Die waren über Marmortischchen mit künstlichen Rosensträußen in Alabastervasen einander gegenüber aufgehangen, sodass endlose Perspektiven von Rosensträußen entstanden. Blitzende Wandleuchter waren durch bogenförmig niederhängende Ketten von glitzernden Glasprismen miteinander verbunden. So wirkte der Korridor, breit und hell beleuchtet wie die Treppe, beinahe wie die Dekoration einer Varietébühne.

Rosa d’Otranto zwinkerte Stieler freundlich mit ihren matten Augen an. Durch das jahrelange Maskenlächeln oder durch das Hinstarren in elektrisches Licht hatte sie sich eine Schwäche der Gesichtsmuskeln zugezogen und zwinkerte beständig mit den Augen, wobei ganze Strahlenkränze von kleinen, scharfen Falten aufzuckten. Aber in dem verschrumpelten Apfelgesicht war viel gutmütige Freundlichkeit, als die kleine Dame Stieler begrüßend bei der Hand nahm und ihm leise zuflüsterte: »Unser Barattchen ist heute wieder furchtbar schlechter Laune.«

»Nichts Neues in ihrem Repertoire«, sagte der Künstler, ihr weiteres Reden, wozu sie sehr bereit war, kurz abschneidend, und ging ohne Weiteres auf eine Tür zu, die mit roten Samtvorhängen verziert war. Nach einem ganz kurzen Anklopfen trat er ein, ohne zu beachten, ob ein Herein! von drinnen ihn einlud.

Auch in diesem Zimmer war viel rot, Gold und Glas, jedoch Afra Barattas Gestalt beherrschte den Raum so sehr, dass alles andere daneben verschwand. Noch im Schlangen schillernden Kostüm der Salome lag sie lang ausgestreckt auf einem Diwan, den ein Tigerfell von ungewöhnlicher Größe bedeckte. Sie hatte die linke Hand unter den Kopf gelegt, in der rechten hielt sie eine Zigarette, die das Gemach schon mit einem weichen Duft von türkischem Tabak erfüllt hatte. Das warmgoldene Licht einer großen elektrischen Hängelampe mit gelbseidenem Schleier fiel auf sie herab und streute glitzernden Schimmer auf ihr Kostüm.

Sobald Stieler eintrat, warf die Baratta die Zigarette rasch in ein Messingbecken auf einem runden Rauchtischchen und sprang mit einer aufschnellenden Bewegung empor, durch die sie in leidenschaftlichen Kinoszenen berühmt war.

»Endlich!«, rief sie, mit ausgestreckten Händen ihm entgegengehend.

Als er, ihre Begrüßung nicht beachtend, an ihr vorübersah, verdüsterte sich ihr Gesicht, und ihre Hände sanken schwer herab.

»Ich habe dich erwartet«, sagte sie mit einer dumpfen, von Leidenschaft rauen Stimme. »Heute, gestern, vorgestern. Ich habe gewartet und gehorcht, ob du nicht kämst. Aber es war vergeblich, immer vergeblich.«

»Es ist recht, ich hätte schon vorgestern kommen können und kommen sollen. Ich war feige.« Als ob er dem Zorn über sich selbst Ausdruck verleihen müsste, stieß er einen Stuhl, den er für sich herbeigezogen hatte, fest auf den Boden. »Jawohl, ich war feige.«

»Wieso, warum?«

»Weil ich mich vor dir fürchtete. Vor deinen Szenen. Vor einer Wiederholung alles dessen, was ich hundertfach, tausendfach mit dir durchgemacht habe, und was mich endlich dahin getrieben hat, jetzt um jeden Preis ein Ende zu machen.«

Mit einem dumpfen Schmerzenslaut sank sie, wie wenn die Knie sie nicht mehr trügen, auf den Diwan und krampfte die Finger in das Tigerfell.

»Töte mich!«, schrie sie laut auf. »Töte mich wenigstens gleich, martere mich nicht langsam zu Tode. Wenn du von mir gehst, wenn du mich wirklich verlässt, will ich und kann ich nicht mehr leben. Ohne dich ist mir das Dasein eine Qual …«

»Schreib es dir selber zu, wenn es das ist«, fiel ihr Stieler mit einer lebhaft abwehrenden Bewegung seiner linken Hand ins Wort. »Ich tue das, was geschehen muss und geschehen wird, weil mir mein Dasein durch dich nun schon jahrelang zur Qual geworden ist. Ich habe dich geliebt, niemand weiß es besser als du, so toll und widerstandslos, wie nur ein Mensch überhaupt lieben kann.

Aber du hast …«

»Höre mich doch, Xaver. Ich liebe dich heute wie nur jemals in unserer glücklichsten Zeit. Stoß mich nicht von dir, verlass mich nicht …«

»Lass uns ruhig und vernünftig miteinander reden. Ich kann sie nicht mehr ertragen, diese Theaterszenen. Sie sind es ja hauptsächlich, die mir das Leben an deiner Seite verleidet haben. Wenn ein Mensch dir jemals Beweise von seiner Liebe gegeben hat, bin ich es gewesen. Ich habe meinen Stand, meine Heimat, meine Familie, meine gesicherte Zukunft um deinetwillen aufgegeben.

Ich habe den deutschen Standesherrn gegen den internationalen Varietékünstler vertauscht, nur um dich besitzen zu können. Mein Vater hat mich enterbt, weil ich dich geheiratet habe …«

»Ja, ja, ja, das weiß ich und habe dir dafür mit meiner ganzen wahnsinnigen Liebe gedankt.«

»Du hast recht, wenn du sie wahnsinnig nennst. Was dir Liebe bedeutet, ist ein wildes Feuer, in dem alles verbrennt: Vertrauen, Ruhe, Frieden und Glück. Ich schelte dich nicht, mache dir keine Vorwürfe. Du bist, wie du bist, kein Mensch kann gegen seine Natur. Aber neben dir leben kann und will ich nicht länger.«

Mit einer ihrer schnellenden Bewegungen fuhr sie herum, beugte den Kopf gegen ihn vor. »Wer ist es, die dich mir nimmt?« In ihren Worten war jetzt ein zischender Ton.

»Du selbst bist es, niemand sonst auf der Welt. Wir haben am Anfang unserer Ehe gute, glückliche Zeiten gehabt, doch waren sie leider nur allzu kurz durch deine Schuld. Unsere besten Stunden wurden mir schon damals von deiner wilden, wahnsinnigen Eifersucht getrübt. Ihr allein gib die Schuld an allem, was geschehen ist und geschieht. Auch der geduldigste Mensch erträgt nicht solche täglich sich wiederholende Qual.«

Sie hatte die Ellenbogen auf die Knie gestützt und ihren vorgeschobenen Kopf in die Hände gepresst. Ihre Lippen bewegten sich, als ob sie lautlos redete. Seine Worte klangen ungehört an ihrem Ohr vorüber.

Gleich einem schwirrenden Pfeil kam es jetzt von ihren Lippen: »Wer war die Dame, die du heute gegrüßt hast?«

»Wo? Welche Dame?«

»Verstell dich nicht. Auf dem Platz dort, bei der Salome-Probe.«

»Du gibst mir den Beweis für das, was ich gesagt habe, wenn ein Beweis noch nötig war. Aus jeder noch so harmlosen Begegnung …«

»Harmlos? Du meinst wohl, ich hätte die Dame nicht erkannt? Aber ich habe meine guten Augen, auf die kann ich mich verlassen. Es war die Dame, die vorige Woche bei dir in deiner Wohnung war. Der ich dort begegnet bin, die so verlegen und eilig war, weil ich sie bei dir überrascht hatte …«

»Und wenn sie es war …«

»Sie war es, ich sage dir’s ja, dass ich es weiß. Also war die heutige Begegnung nicht so harmlos, wie du behauptest, nicht umsonst hat es mir einen Stich gegeben, dass ich meinte, laut aufschreien zu müssen, als ich sah, wie du sie dort grüßtest …«

»Also das war der Grund, weshalb du die Probe störtest. Fehlt es dir denn wirklich an jedem Gefühl dafür, wie grenzenlos lächerlich du dich machst?«

»Weiche mir nicht aus. Wer war es? Ich will es wissen! Ich kann es jetzt auch erfahren ohne dich. Seit heute weiß ich, wer es mir sagen kann. Und ich ginge gleich – morgen, um zu hören, was ich wissen will, wenn ich nicht nach Petersburg abreisen müsste, – heute noch. Aber wenn ich wiederkomme, dann sei gewiss …«

»Dass du dich lächerlich machen wirst, wie du es heute tust und hundertmal vorher getan hast. Ich zweifle keinen Augenblick daran. Aber ich bitte dich, lass diese Dame aus dem Spiel. Sie will mir nur Gutes …«

»Gutes? Jawohl! Das Gute, das die Frauen den Männern tun, das die Frauen allein den Männern tun können, das will sie dir. O ja, das war endlich einmal ein wahres Wort von dir nach allen deinen Lügen.«

»Mach mich nicht wild. Ich lüge nicht, ich bin zum Lügen zu stolz. Und ich bin hergekommen, um dir die volle Wahrheit über meine Zukunftspläne zu sagen. Du hast immer noch nicht glauben wollen, dass ich wirklich und ernsthaft an den Abschied von der Bühne dachte, hast es für einen Reklametrick angesehen, der allerdings keineswegs den Reiz der Neuheit mehr hätte. Wie du selbst einmal vorgeschlagen hast, wir sollten der größeren Zugkraft wegen für unverheiratet gelten, demnach also auch keine gemeinsame Wohnung haben, so schien dir mein Plan von der gleichen Rücksicht eingegeben. Die Künstlereitelkeit und Leidenschaft für den Erfolg ist ja mitunter in dir sogar noch größer als die Eifersucht. Ich aber – du hast mich auch in diesem Punkt nie verstanden – habe die Künstlereitelkeit in solchem Sinn niemals gefühlt. Ich habe mein Leben aus Liebe zu dir auf einem neuen, eigenen Boden aufgebaut. Nun du meine Liebe getötet hast, verliert auch dieser Bau seinen Zweck. Mein Leben soll sich wieder in die verlassene Bahn zurückwenden. Ich habe die Hoffnung, dass mein Vater sich mit mir versöhnt, und ich verlange von dir, dass du mir die volle Freiheit wiedergibst, – ich verlange von dir die Zustimmung zur Scheidung oder Trennung.«

»Das ist ja wunderhübsch alles ausgedacht und geordnet«, sagte die Baratta mit erzwungener Kälte. »Wunderhübsch! Nur eins fehlt noch in deiner Darstellung. Zufällig die Hauptsache. Der Grund nämlich, weshalb das alles geschehen soll, weshalb du wieder frei werden möchtest von mir. Ja – ich kenne den Grund, habe diesen Grund heute lebendig mit meinen Augen in Fleisch und Blut gesehen. Ein Weib ist es, dem ich Platz machen soll. Diese Dame, die bei dir in deiner Wohnung war, die du heute mit leuchtenden Augen gegrüßt hast.«

Sie war aufgestanden, während sie sprach, und langsam auf ihn zugekommen, bisher auch in der Bewegung noch beherrscht und erzwungen ruhig. Aber nun packte die Leidenschaft sie gleich einem Wirbelsturm, in dem ihre Glieder wie gepeitscht zitterten. Ihre Stimme klang hoch und schrill, gleich zersplittertem Glas.

»Du hast nur die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Ich gebe dich niemals frei, will von Scheidung oder Trennung nichts wissen. Und bevor ich es mit ansehe, dass dieses Weib an meine Stelle kommt, – verlass dich darauf, – ich töte vorher sie, dich und mich selbst!«

Sein Mund verzog sich mit einem Ausdruck bitteren Ekels. Er antwortete nicht, sondern ging ruhig in eine Ecke des Raumes und nahm von einer dort stehenden Etagere eine kleine Schachtel. Die warf er mit verächtlicher Bewegung auf den Tisch neben dem Diwan und sagte: »Da, nimm eins von deinen berühmten Beruhigungspulvern. Die haben schon öfter geholfen, wenn du mit Selbstmord und Massenmord gedroht hast.«

»Ich will keine Beruhigung. Ich lebe nur in der Leidenschaft, in dieser einen, mein ganzes Wesen erfüllenden Leidenschaft für dich. Du sollst mein sein, und ich will nichts weiter auf der Welt. Selbst meine Kunst ist mir nichts im Vergleich zu dir. Wenn ich dich sehe, wenn ich deinen geliebten Körper fühle …«

Sie hatte seinen Arm erfasst, um ihn an sich zu ziehen. Er schüttelte sie von sich ab mit einer heftigen Bewegung des Widerwillens.

»Lass mich los. Das ist vorbei. Totes macht niemand wieder lebendig. Du hast getötet, was uns verband, nun trage die Folgen. Aber ich sehe, dass es unmöglich ist, vernünftig mit dir zu reden. Ich werde mich von jetzt ab auf schriftlichen Verkehr beschränken. Ein Anwalt wird mir dabei behilflich sein. Lebe wohl!«

»Xaver!« Es war ein Schrei haltloser Verzweiflung, womit sie jetzt an ihm vorüber zur Tür stürzte, beflügelt von ihrer Leidenschaft. Sie warf sich dort vor ihm auf die Knie, hob die Hände mit ineinandergekrampften Fingern, flehend und beschwörend empor. In ihrem gleißenden Schlangengewand, vom dunklen Haar wie von einem zerrissenen, durchsichtigen Mantel umhüllt, Hals, Kopf und Hände funkelnd von schwerem, Blitze streuenden Geschmeide, war sie in diesem Augenblick berauschend schön, und auch ihre Stimme wurde weich und voll durch die Wärme des Gefühls.

»Verlass mich nicht, geh nicht von mir fort. Sieh, du bist mir notwendig zum Leben wie Licht und Luft. Misshandle mich, schlag mich, tritt mich mit Füßen, aber verlass mich nicht. Ich will ja nur dich auf der Welt. Alle die Huldigungen, womit mich die Menschen überschütten, sind mir nichts gegen ein Wort von dir …«

»Quäle mich nicht so bis aufs Blut. Ich habe dir nachgegeben, hundertmal, tausendmal, weil ich Frieden und Eintracht wollte. Du bist aber stets geblieben, die du warst. Jetzt ist es aus. Ich will, kann und mag nicht mehr. Ich habe nur einen Wunsch noch: still unter Menschen zu leben, die mich nicht quälen, in einem friedlichen, behaglichen Heim …«

Gleich einer zum Biss sich aufrichtenden Schlange schnellte sie bei seinen Worten empor. »Ein Heim, das diese Dame dir bereiten soll! Jetzt ist es klar, jetzt ist es heraus …«

»Weib, mache mich nicht rasend. Ein Engel an Geduld müsste toll werden durch dich. O, wenn ich doch nicht hergekommen wäre! Hier bei dir lebt alles wieder auf an Schmerz und Gram, was ich neben dir durchgemacht habe. So fest war mein Vorsatz, ruhig und gleichmütig zu bleiben, aber du machst es mir immer wieder unmöglich, zerrst an meinen Nerven, dass ich meine, sie reißen. Alles an mir zittert und bebt, und gerade jetzt vor meinem Auftreten, wofür ich immer die Kraft von zehn Menschen gebrauche. Wenn ich doch nicht hergekommen wäre zu dir!«

Er ging ein paarmal hin und her in heißer, zorniger Aufregung, zerrte mit seiner Hand am Hemdkragen, als wenn er ihn erstickte. Seine Frau stand einen Augenblick schweigend, starr auf ihn hinschauend. Widerstreitende Gefühle schienen in ihr zu kämpfen. Dann kam ein Schluchzen aus ihrer Brust. »Werde mir nicht krank! Stirb mir nicht! Verlass mich nicht, Xaver!«

Stieler bewegte Kopf und Oberkörper in ärgerlicher Abwehr hin und her. »Lass die schönen Worte. Hilf mir lieber, dass ich ruhig werde für mein Auftreten. Ich darf nicht absagen, darf dem Direktor keine Schwierigkeiten machen, gerade vor dem Schluss der Vorstellungen.«

Er war stehen geblieben, sein Blick war auf die Schachtel gefallen, die seine Hand vorhin auf den kleinen Tisch geworfen hatte. Jetzt hob er sie auf. »Gib mir davon. Du behauptest ja, dass es beruhigt. Ich muss ruhig werden.«

Nun kam lebhafte Bewegung in ihre Gestalt. »Ja, ja, das hilft. Ich gebe dir davon. Leg dich nieder, dann wirkt es umso besser.«

Eilig ging sie zu einer Kommode hinten im Zimmer, und ein leises Klirren von Glas und Wasserflasche klang von dort herüber. Abgewandt von Xaver, der sich auf den Diwan gelegt hatte, bereitete sie den Trank, dann trug sie die weißlich schimmernde Flüssigkeit hinüber.

»Nimm, trink, – in einem Zug trink es hinunter.«

Er tat, wie sie geheißen hatte, nahm und leerte das Glas.

Die Baratta trat an sein Lager und schaute gespannt auf ihn mit einem Gesicht, in dem noch wacher Zorn, Liebe, Spannung und Mitleid miteinander kämpften. In tiefem Schweigen vergingen wohl fünf Minuten.

Dann sagte Stieler: »Ein wenig ruhen will ich noch, dann muss ich fort.«

»Fort, warum? Es ist noch nicht halb sieben, du hast noch beinahe zwei Stunden Zeit, bis du zum Theater musst. Solange bleib ruhig hier bei mir.«

»Das ist nicht möglich, weil ich vor dem Theater noch eine Verabredung habe.«

»Eine Verabredung? Mit wem? Was für eine Verabredung?«

»Du weißt, solche Fragen sind mir unangenehm. Ich will Herr bleiben über mein Tun und Lassen. Also, – noch ein paar Minuten, dann muss ich gehen.«

Sie presste die Lippen gewaltsam aufeinander und schwieg. Ihr vom raschen, heftigen Atem bewegter Körper zeigte, dass neue Leidenschaft in ihr aufgewacht war. Ein Entschluss arbeitete sichtlich in ihr und gab ihr zum Schweigen die Kraft. Auch als sich Xaver nach einer Weile erhob und mit einem freundlichen Dankeswort für ihre Bemühungen um ihn zum Fortgehen rüstete, blieb sie gehalten und wortkarg.

Sobald er jedoch die Tür hinter sich geschlossen hatte, stürzte sie in ihr Schlafzimmer und kam ein paar Augenblicke später in verwandelter Gestalt wieder heraus.

Ein langer, dunkelbrauner Lodenmantel, dessen Kapuze sie sich über den Kopf gezogen hatte, hüllte sie völlig ein, verbarg ihre flimmernde Salome-Tracht und ließ die Theaterfürstin zur nonnenhaft finsteren Erscheinung werden. Mit hastigen, leisen Schritten durcheilte sie des Korridors billige Pracht und schlüpfte, von ihrer Quartiergeberin ungesehen und ungehört, aus der Tür hinaus und über die Treppe zur Straße hinunter.

Die Gegend, in der sie wohnte, war nicht sehr belebt, und bald bog die Gestalt ihres Mannes, den ihr Blick sofort eingeholt hatte, seitwärts in Villenstraßen ein, die noch stiller und menschenleerer zwischen Gärten und Baumreihen dalagen. Auch war hier die Beleuchtung spärlicher als in der Innenstadt. Afra durfte trotzdem nicht nahe herankommen, damit er ihren Schritt nicht vernahm und sich nach ihr umschaute, doch konnte sie sich auf ihre guten Augen verlassen und gab die Männergestalt vor ihr auch in dem tiefen Baumschatten, der den eilig Schreitenden unter den hoch auf gehangenen elektrischen Lampen manchmal umhüllte, nicht frei.

Hier war tiefe Stille ringsum, nur Hundegebell klang mitunter aus einem der Gärten. Auf den schönen Tag war ein schöner Abend gefolgt. Vom klaren Himmel sahen unzählige Sterne mit neugierig hellen Augen durch einen ganz feinen, herbstlichen Dunstschleier herab. Doch Afra hatte mit Gehör für den leisen Klang von des verfolgten Mannes Fuß, nur Blick für seine dunkle Gestalt in der Ferne. Gleich einem bösen Geist schlich sie hinter ihm her, jede Schattendeckung mit geschärften Sinnen suchend und nützend.

Jetzt blieb er stehen, und auch sie hemmte den Schritt im selben Moment, wie plötzlich festgehalten. Xaver stand etwa hundert Schritte von ihr entfernt auf der anderen Seite der Straße vor der eisernen Gittertür eines großen Gartens. Das Gitter setzte sich rechts und links davon auf eine ansehnliche Strecke hin fort, vom zugehörigen Haus war keine Spur zu sehen. Es lag entweder mitten im Garten, unter Bäumen versteckt, oder an einer anderen Straße jenseits des Gartens. Nur ein kleiner Pavillon mit weit vorspringendem Dach unterbrach das Gitter links von der Tür und nicht weit von ihr entfernt.

Afra konnte das erkennen, indem sie nach dem augenblicklichen Stehenbleiben wieder ganz langsam vorwärtsging. Sie durfte das wagen, denn gerade hier war dämmeriger Schatten von tief herabhängenden Zweigen, der die dunkle Gestalt schwarz umhüllte. So kam sie näher heran, konnte hören, dass die Gittertür sich öffnete.

Von einer Glocke vernahm sie nichts, – ein Zeichen, dass der Gekommene drinnen erwartet worden war. Das trieb Afra vorwärts, rasend, besinnungslos, um ein Wort wenigstens aufzufangen, das drüben gesprochen wurde.

Doch die Menschen an der Gittertür waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um einen Blick für die dunkle Gestalt auf der anderen Seite der Straße zu haben. Vernehmlich klang der Ton einer Frauenstimme zu der bebend Lauschende hinüber, der Ton einer tiefen, melodischen Stimme.

»Das ist schön, dass Sie Wort halten. Bitte, kommen Sie herein.«

Das Dunkel des Gartens verschlang die beiden Gestalten, die Gittertür fiel mit einem vorsichtig leisen Klang in ihr Schloss. Afra stürzte vorwärts, dorthin, wo sich ihr gegenüber ein erleuchtetes, mit weißgelbem Vorhang von innen verhülltes Fenster in des Pavillons nächtlich schwarzer Wand hell abzeichnete. Für einer Sekunde Dauer wurde jetzt auf diesem Vorhang, einer Figur im Schattenspiel ähnlich, der Oberkörper, der Kopf einer Frau deutlich sichtbar, um sofort wieder zu verschwinden.

Aber ein Blick darauf hatte genügt, um Afras Leidenschaft zu neuem Sturm aufzupeitschen, sie war gewiss, an der scharf auf dem Vorhang abgemalten Linie des Profils den Kopf der Frau zu erkennen, deren Anblick ihr verhasst war bis in den Tod.

In sinnloser Wut stürzte sie zu der Pforte hinüber und rüttelte vergeblich daran, suchte nach einer Glocke, die sie nicht fand, um dann wieder auf den vorigen Platz zurückzulaufen und ihre geballten Fäuste gegen das helle Fensterviereck im Pavillon hoch erhoben zu schütteln.

Ihr Mantel fiel auseinander, in weißem Schimmer leuchteten die nackten, drohenden Arme mit ihrem Schmuck aus goldenen Reifen durch das ruhige Wechselspiel von Schatten und Licht. So stand sie dort als eine phantastische, wilde Verkörperung von Wut und Rache.

Eine Antwort auf Xaver Stielers Tod – Kapitel 2