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Der Welt-Detektiv Band 6

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Im fernen Westen – Der junge Auswanderer 3

Der junge Auswanderer
Kapitel 3

Alfred Richter hatte, wie alle wissbegierigen Jungen, sehr viel über Amerika gehört und gelesen und war einigermaßen bekannt mit den wunderbaren Fortschritten des Landes, mit der ungeheuren Ausdehnung seines Gebiets, mit der fabelhaft anschwellenden Menge seiner Bevölkerung und mit feinen großen Städten. Trotzdem aber sah seine aufgeregte Fantasie sich doch einigermaßen enttäuscht, weil er gar nichts von den Szenen sah, auf welche ihn Der letzte Mohikaner, die Lederstrumpf-Erzählungen und andere Geschichten Coopers vorbereitet hatten. Als er nach einer Reise von tausend englischen Meilen und mehr in St. Louis einen Tag lang anhielt, war er förmlich überrascht, so fern von der Meeresküste eine solche ungeheure Stadt zu finden, welche ebenso rührig und geordnet, aber um so vieles größer war als irgendeine deutsche Stadt, die er gesehen hatte. Vom Fenster des Eisenbahnwagens aus hatte er sich die größte Mühe gegeben, wenigstens ein paar Hirsche oder Klapperschlangen zu sehen. Erst als er St. Louis vielleicht hundert Meilen hinter sich hatte, glaubte er in der Prärie von fern ein paar Büffel zu sehen, welche vielleicht auch nur friedlich weidende Hauskühe waren. Jedenfalls sah er während der ganzen Fahrt mit der Eisenbahn keinen einzigen von jenen edlen Indianern, welche er in den Cooperschen Erzählungen so anziehend geschildert gefunden hatte. Endlich erreichte Alfred Kansas City, wo er den Agenten aufsuchen sollte, an welchen ihn Herr Stettenheim gewiesen und dem dieser bereits telegrafische Nachricht gegeben hatte. Der Agent erwartete ihn daher schon an der Eisenbahn, denn er war zugleich auch der Geschäftsmann von Mister Christoph Holz und hatte von diesem den Auftrag, Alfred mit allem zu versehen, was diesem für seine Ausrüstung nötig war, und ihm zugleich die erforderlichen Ratschläge und Beihilfe zu geben, um die Ranch des Onkels sicher zu erreichen. Alfred musste mindestens einige Tage in Kansas City bleiben, um seine Ausrüstung zu vervollständigen. Der Agent sagte ihm, er habe dann noch vier- oder fünfhundert Meilen weiter mit der Eisenbahn zu reisen und werde dann auf einer gewissen kleinen Station an der Bahn von einem Wagen erwartet, welchen ihm Herr Holz entgegenschicken werde, um ihn vollends zu der Ranch zu bringen.

Der ganze Tag nach Alfreds Ankunft in Kansas City wurde damit verbracht, um unter der Führung des Agenten alle diejenigen Gegenstände einzukaufen, welche er nach Mister Holz’ Anordnungen mitbringen sollte, als da waren: Wollhemden, hohe Stiefel, Sattel und Zaum, Kleider, Hüte und vor allem eine Hinterlader-Büchse, eine Lancaster-Doppelflinte und ein sechsschüssiger Revolver, welchen der Agent für besonders notwendig hielt und der ihm eine etwas beunruhigende Vorstellung von den Zuständen in der Gegend gab, welche er fortan bewohnen sollte. Mehr Freude verursachten ihm die beiden Jagdgewehre, von denen er sich einen ausgiebigen Gebrauch in seinem künftigen Aufenthalt versprach. Die Kunde, dass er nun unterwegs keine größere Stadt mehr treffen würde, ließ es Alfred trotz seiner Sehnsucht, zu der Ranch des Oheims zu kommen, doch geraten erscheinen, noch einen weiteren Rasttag in Kansas City zu machen und vielleicht auf lange Zeit vom zivilisierten und städtischen Leben Abschied zu nehmen. Wie er nun am zweiten Tag nach dem Mittagsmahl ziellos durch die Stadt schleuderte, um sich dieselbe noch einmal in Ruhe anzusehen, begegnete ihm etwas Eigentümliches, was er später für ein lächerliches Missverständnis anzusehen geneigt war und seiner Zerstreutheit zuschrieb. Als er nämlich an einem Hotel oder einem Speisehaus vorüberging und zufällig in den Eingang desselben hineinschaute, begegnete er dem Blick eines Mannes, welcher hinter der Glastür stand. Im Nu schreckte Alfred zusammen, denn er glaubte in dem Mann den Mister Levering erkannt zu haben. Er stutzte nur wenige Minuten, riss dann die Tür auf und trat in den Vorraum oder Flur, sah aber niemand. Vier bis sechs Türen mündeten an verschiedenen Stellen in das Innere des Hauses und würden natürlich jedem, welcher ihm auszuweichen versucht hätte, einen Rückzug gesichert haben. Allein Alfreds Eintritt war dem ersten Anblick des Mannes so rasch gefolgt, dass dieser nicht hätte verschwinden können, wenn er nicht auf seiner Hut gewesen wäre. Allein er war verschwunden, und warum er dies getan und weshalb er Alfred auszuweichen versucht hatte, das war diesem ganz unerklärlich. Während Alfred sich noch mit ganz verblüffter Miene umsah, kam ein farbiger Aufwärter aus einem der entfernteren Zimmer und fragte beim Anblick eines Fremden artig nach dessen Begehren. Der junge Deutsche war im Augenblick verlegen um eine Erklärung. Es gelang ihm aber doch, dem Mann begreiflich zu machen, er habe einen Bekannten hier hinter der Glastür zu sehen gewähnt und suche denselben auf. Der Aufwärter stieß eine Tür auf und sagte: »Hier ist der Salon, wo die Herren immer aus und ein gehen. Ist der Herr nicht hier?«

Alfred sah sich um, aber in dem geräumigen Saal war niemand, der mit dem Gesuchten auch nur die geringste Ähnlichkeit hatte. Als auch der Mann an dem Schanktisch einen Mister Levering nicht zu kennen oder gesehen zu haben versicherte, verließ Alfred das Haus wieder in nicht geringer Verlegenheit darüber, dass er sich so geirrt habe. Der Vorfall hatte ihm die zwei Tage seines Aufenthaltes in New York wieder lebhaft in die Erinnerung zurückgerufen. Er hätte darauf schwören mögen, dass er Herrn Levering leibhaftig gesehen habe, denn das waren seine Augen, seine Züge, seine Größe gewesen. Und doch musste derselbe ja tausend Meilen und mehr von ihm entfernt sein. Allein alles Grübeln über diesen sonderbaren Zwischenfall brachte Alfred doch der Wahrheit nicht näher, und so beendete er denn seine Geschäfte und setzte sich am anderen Morgen wieder auf die Eisenbahn, um die letzte Strecke seiner Reise zurückzulegen. Vierundzwanzig Stunden darauf verließ er den Zug auf einer Station namens Big Turkey Springs als seinem Reiseziel, weil ihn hier der Wagen erwarten sollte, der ihn nach Holz’ Ranch bringen würde. In Kansas City hatte er von einer Stadt sprechen hören, welche man dort Big Turkey Springs City nannte. Allein Alfred konnte hier außer dem hölzernen Stationsgebäude und einigen benachbarten Hütten, welche vielleicht für die Eisenbahnbediensteten errichtet waren, kein einziges Haus entdecken. Er fragte daher einen Mann, der sich soeben ein Priemchen Kautabak in den Mund steckte, dem davonfahrenden Zug nachblickte und der einsame Portier der Station zu sein schien, wo die Stadt denn liege.

Der Mann wandte sich langsam um, betrachtete Alfred, welcher neben seinen Koffern und Paketen stand, und erwiderte nach einigem Besinnen: »Ich schätze, Ihr seid hier im Westen fremd. Ein Britischer vermutlich, nicht wahr?«

»Ein Fremder allerdings, aber ein Deutscher«, versetzte Alfred.

»Dachte ich es doch«, sagte der Mann mit spöttischem Lächeln.

»Ihr seid ein Fremder und kennt nicht einmal eine Stadt im Westen, wenn Ihr darin seid. Dies hier ist Big Turkey Springs City. Diese Ansiedelung ist auf dem besten Weg, eine Stadt zu werden. Ihr seid wohl der junge Dutchman, welcher zu Squire Holz will?«

»Der bin ich«, erwiderte Alfred.

»Ihr werdet erwartet. Es ist ein Mann mit einem Gespann hier herum irgendwo. Er hat auf Euch gewartet … aha, dort ist er!« Und damit stieß er einen seltsamen Ruf aus, welcher aus einiger Entfernung beantwortet wurde, und Alfred sah nun einen Mann hinter einigen Bäumen hervorkommen.

»Das ist der Herr von Holz’ Ranch«, sagte der Portier, auf den Mann deutend, schlenderte weiter, als ob er nun kein weiteres Interesse mehr an der Sache hätte, und überließ es Alfred, sich selber dem anderen vorzustellen.

Als dies geschehen war, sagte der Mann von Holz’ Ranch, auf Alfreds Gepäck deutend. »Ich schätze, das sind wohl Eure Fixings? Wir wollen einige von den Jungen rufen, um sie zum Wagen zu bringen.«

Als Alfred dem Mann folgte, sah er sich auf einem rohen Weg, welcher zu drei oder vier niedrigen hölzernen Hütten oder Shanties führte, wo ein Wagen vom Aussehen einer langen und sehr schmalen Kiste stand, der, wie Alfred richtig vermutet hatte, das Fuhrwerk von Holz’ Ranch war. Sein Begleiter stieß einen Ruf aus, und die Boys, welche aber schon Männer in mittleren Jahren waren, kamen aus einem Stall herbei und schafften nach den Weisungen des Mannes die Fixings auf den Wagen. Dann wurden die Maultiere angespannt, der Kutscher und Alfred stiegen auf den Wagen, und dieser fuhr ohne viele weitere Worte davon.

»Wie weit ist es zu Mister Holz’ Niederlassung?«, fragte Alfred.

»Dreizehn oder vielleicht auch vierzehn englische Meilen«, war die Antwort.

»Liegt sie in der Nähe der Stadt – Andrew Jackson City nämlich?«

»Wohl, ja, ganz nahe«, versetzte der Mann nach einem schlauen Blick auf den Frager.

»Ist die Stadt ein großer Ort?«, fuhr Alfred fort, mit einem Blick auf Big Turkey Springs.

»O ja, ein ziemlich großer. Es ist schon ein bedeutender Ort«, sagte der Fuhrmann mit einem pfiffigen Lächeln, sodass Alfred erst nach einiger Zeit weiterfragte, ob die Stadt auch viele Einwohner zähle.

»Na, es geht an, bis jetzt noch nicht, aber Ihr werdet es ja selbst sehen«, erwiderte der Rosslenker.

Nach einer Fahrt von etwas mehr als zwei Stunden auf einem Weg, welchen nur Fahrgeleise bezeichneten, und durch wellenförmiges Gelände, wie es die Plains oder höher gelegenen Prärien am östlichen Fuß der Felsengebirge zeigen, kam man an einem niedrigen, aber ziemlich geräumigen Bauernhaus vorüber, welches aber noch nicht einmal so bequem und dauerhaft gebaut war, wie die schwäbischen Bauernhäuser in Alfreds Heimat. Ein paar eingezäunte Grundstücke, ein Korral oder Viehhof aus rohen Pfosten und einige braune, niedrige Hütten bildeten die Umgebung des Farmerhauses.

»Hier wohnt Squire Gosport, unser nächster Nachbar«, sagte der Fuhrmann. »In den Shanties von Doby dort hinten wohnen die Mexikaner.« Dabei deutete er mit der Peitsche auf die drei oder vier Hütten, welche anscheinend aus irgendeinem dunklen Lehm erbaut, in Wirklichkeit aber aus lufttrockenen Backsteinen aufgemauert waren, den an der Sonne getrockneten Lehmsteinen, welche man auf Spanisch adobes nennt, was in der Sprache des fernen Westens in doby abgekürzt worden war. Eine Frau mit einigen Kindern erschien unter der Tür einer dieser Hütten, um den Wagen vorüberfahren zu sehen. Das pechschwarze Haar und die braune Hautfarbe von Mutter und Kindern verrieten genugsam ihr mexikanisches Blut. Dies waren die einzigen Menschen, welche Alfred auf dieser Fahrt sah. Kurz darauf fuhr der Wagen durch einen kleinen Fluss und eine kurze Anhöhe hinauf. Nach einer Viertelstunde sah Alfred auf einer Anhöhe ein anderes niedriges, aber langes Haus, welches teils aus Baumstämmen, teils aus Adobes erbaut und von umzäunten Grundstücken, Schuppen und Scheunen, Einfriedigungen und vier oder fünf Shanties umgeben war. In einem großen Korral dicht dabei sah man eine große Herde Rinder, mit welcher sich einige Mexikaner zu schaffen machten. Hinter dem Haus standen einige Obstbäume, und das Ganze machte besonders nach einer solch einfamer Fahrt durch eintöniges Präriegelände einen freundlichen und gastlichen Eindruck.

»Das ist Squire Holz’ Ranch«, sagte der Fuhrmann, »und dort ist Squire Holz selbst.« Dabei deutete er auf einen hochgewachsenem ältlichen Mann, welcher hinter einer Gruppe Bäume hervorkam. Sein ernstes Gesicht war sonnenverbrannt und wettergebräunt, seine stämmige Gestalt sehnig und muskulös, seine Augen streng und blitzend. Er war einfach in groben Wollenstoff gekleidet, trug einen breitkrempigen Schlapphut, hohe Stiefel mit Sporen, einen Revolver und ein großes, breites Bowiemesser im Ledergürtel und eine Büchse auf der Schulter. Ein eigentümlicher Brauch für einen Landmann auf seinem eigenen Gehöft, dachte Alfred.

Unser junger Freund sprang vom Wagen, ging dem Squire entgegen und stellte sich ihm als Alfred Richter vor. Squire Holz schüttelte ihm kräftig die Hand und schaute ihn eine Weile fest und forschend an.

»Sei mir willkommen«, sagte er dann. »In deinem Gesicht und deinen Augen liegt etwas, was mich an meinen verstorbenen Halbbruder erinnert. Wenn du so brav und ehrlich bist wie er, so wünsche ich mir nichts Weiteres, und du sollst es gut bei mir haben. Sieh, dies hier ist Holz’ Ranch. Gott gebe, dass er dir zu einer lieben Heimat werde.«