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Der Welt-Detektiv Band 6

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Im fernen Westen – Der junge Auswanderer 1

Der junge Auswanderer
Kapitel 1

Es mögen etwa sechzehn Jahre her sein, da wohnte in einem abgelegenen schwäbischen Dorf eine Schullehrerswitwe namens Johanne Richter mit ihrer Familie, welche aus zwei Söhnen und zwei Töchtern bestand. Sie war schon fünf Jahre verwitwet, hatte nur ein kleines Vermögen, ein Häuschen mit einigen Morgen Acker und Baumgütern und eine kleine Pension. Aber sie wusste doch ihren Kindern durch Lehre und Beispiel eine gute Erziehung zu geben und sie zu wackeren, tüchtigen Menschen heranzubilden. Ihr ältestes Kind war ein Sohn, ein hübscher, strammer, aufgeweckter Junge, an welchem ihr Herz mit besonderer Liebe hing und der der Mutter Liebe mit innigster Wärme erwiderte. Alfred hatte schon früh gute Gaben gezeigt, und sein Vater hatte den ehrgeizigen Plan gehabt, ihn studieren zu lassen und ihn deshalb mit Opfern in die Lateinschule der nahen Amtsstadt geschickt, wo er immer einer der besten Schüler seiner Klasse war. Als aber der Vater starb, war nicht mehr daran zu denken, dass Alfred später die Universität besuchte. Bei den beschränkten Mitteln der Mutter hätte er sogar die Lateinschule nicht länger besuchen können, wenn sich nicht ein wohlhabender Bürger der Stadt erboten hätte, den verwaisten, freundlichen und gesitteten Knaben in sein Haus zu nehmen und ihn auf seine Kosten die Lateinschule bis zur obersten Klasse besuchen zu lassen. So vollendete Alfred seine Erziehung. Als es sich nach seiner Konfirmation um die Wahl eines Berufes handelte, erbot sich ein Bekannter seines Vaters, der Oberamtsgeometer Winkel, ihn in die Lehre zu nehmen und zum Feldmesser heranzubilden, womit Alfred und seine Mutter einverstanden waren. So trat er denn bei Herrn Winkel in die Lehre, war anstellig, tüchtig und manierlich und erwarb sich die Liebe und das Vertrauen seines Lehrherrn, welcher sich an ihm einen sehr brauchbaren und tüchtigen Gehilfen heranzog und Alfred eine schöne Zukunft verhieß.

Frau Richter dankte dem lieben Gott aus Herzensgrund, dass er ihr diese große Sorge abgenommen hatte, und brachte gern das Opfer, dass sie ihren Sohn nur je den zweiten Sonntag sehen durfte, denn das Dorf, worin sie wohnte, lag in den Bergen und war eine gute Meile von der Amtsstadt entfernt. Alfred kam daher gewöhnlich Sonnabend nach Einbruch der Nacht nach Hause und musste am Sonntag vor Abend wieder zu der Amtsstadt zurück. Aber die Mutter hatte ihn dann wenigstens um sich und konnte ihr Auge an ihrem Liebling weiden, der zu einem braven, tüchtigen Jungen heranwuchs und ihr nach Kräften eine Stütze und ein Vorbild für seine Geschwister wurde.

So waren denn die vier Jahre der Lehrzeit beinahe vorüber. Alfred stand in seinem neunzehnten Lebensjahr und sollte im Sommer sein Examen als Feldmesser machen, welchem er mit Freuden, die Mutter aber mit einiger Angst entgegensah, denn danach führte sein Beruf vielleicht Alfred von ihr hinweg und in die Welt hinaus. Es war wieder Frühjahr geworden, und am zweiten Ostertag standen Mutter und Sohn in dem kleinen Obstgarten hinter dem Haus, wo die Kirschen- und Pflaumenbäume blühten, und berieten sich über einige Verbesserungen, welche in Haus und Garten vorzunehmen waren, als der Landbote am Gartenhang vorüberging und in den Obstgarten trat. Er kam so selten in das Haus der Witwe, dass sein Erscheinen diese beinahe erschreckte und Frau Richters Befangenheit noch stieg, als er ihr einen Brief übergab, den sie mit zitternder Hand nahm.

»Du lieber Himmel, von wem kann denn dies kommen?«, rief sie. »Ich kenne die Handschrift nicht, und der Brief muss weit herkommen, denn er hat so viele Stempel.«

»Er kommt aus Amerika, Mutter, aus den Vereinigten Staaten«, erwiderte Alfred nach einem Blick auf die Adresse. »Lass uns hineingehen und sehen, was er enthält!«

»Aus Amerika? Aber ich habe ja keine Freunde und Bekannte dort«, sagte Frau Richter, ins Haus tretend, und setzte sich in der kleinen Wohnstube ans Fenster, um den Brief zu öffnen. »Ich habe meine Brille nicht zur Hand, und die Schrift auf dem dünnen, blauen Papier ist so schwer zu lesen«, sagte sie dann aufgeregt. »Lies du ihn, lieber Alfred. Aber vor allem sag’ mir, von wem er kommt?«

»Er ist mit Christoph Holz unterschrieben«, entgegnete Alfred nach einem Blick auf die Unterschrift. »Wer ist denn dies?«

»Christoph Holz? Ach ja, ich erinnere mich. So hieß der Halbbruder deines seligen Vaters, welcher vor langen Jahren nach Amerika gegangen ist. Wir haben seit vielen Jahren nichts mehr von ihm gehört. Aber was will er denn von uns?«

»Nun ja, ich will dir den Brief vorlesen, dann werden wir es ja erfahren. Also: Holz’ Ranch …«

»Holz’ Ranch! Was ist denn das?«, fiel ihm die Mutter ins Wort.

»Ja, Holz’ Ranch – das muss der Ort sein, wo der Ohm wohnt. Wenn ich nicht irre, heißt Ranch ein Meierhof oder Landgut. Aber lass mich weiter lesen:

Holz’ Ranch, Andrew Jackson City, Colorado,
6.
April 18…

Meine liebe Frau Schwägerin Richter! Es ist schon so lange her, seit ich nicht mehr geschrieben habe, dass ich nicht weiß, ob Sie sich meiner noch erinnern. Ich aber habe die Heimat und die meinen nicht vergessen, so weit wir auch geschieden sind und soviel ich auch in diesem Lande erlebt habe. Ich habe erst vor Kurzem von einem Landsmann erfahren, dass mein Halbbruder Michael Richter tot ist und dass auch keiner meiner übrigen Verwandten mehr lebt. Und so wende ich mich an Sie in der Hoffnung, dass mein Brief Sie und Ihre Kinder gesund antrifft. Was mich anlangt, so bin ich ebenfalls gesund und in guten Verhältnissen, aber ich habe aus zwei Ehen keine Kinder. Meine erste Frau war aus Oberhessen und ist schon über zwölf Jahre tot. Meine Zweite, eine Amerikanerin, ist vor zwei Jahren gestorben, und so bin ich nun ganz allein, denn der einzige Verwandte, welchen ich hier hatte, hat unredlich an mir gehandelt und mein Haus verlassen müssen. So bin ich nun in reiferen Jahren ganz allein und verlassen und möchte gern jemand um mich haben, der mir näher steht. Wenn ich mich recht erinnere, so ist Ihr ältestes Kind ein Sohn. Wenn er noch lebt und zu mir kommen will, so schicken Sie ihn nur, und ich will für ihn sorgen. Wenn er einschlägt, so soll er es gut bei mir haben, und ich werde ihm Vaterstelle vertreten.

Ich schicke ihm hier als Reisegeld einen Kreditbrief auf Tausend Dollar, den er nur bei Gebrüder Stettenheim in Frankfurt vorzuzeigen braucht, damit sie ihm das nötige Reisegeld anweisen. Aber ich möchte, dass er recht bald kommt und jedenfalls noch vor dem Herbst eintreffe, denn im Winter wird mir die Zeit gar so lang. Ich habe ein großes Gut in einer schönen Gegend, mit achthundert Stück Rindvieh und zweihundert Pferden. Es gibt in unserer Gegend eine schöne Jagd auf Büffel, Hirsche und Antilopen, und der Bach, welcher durch meine Ranch fließt, enthält die schönsten Forellen. Ich mache nicht viele Worte und keine großen Versprechungen. Aber wenn der Junge kommt und sich gut aufführt, so ist sein Glück gemacht, denn er soll die schönste Ranch im ganzen westlichen Gebiet und ein hübsches Stück Geld haben.

Bitte, liebe Schwägerin, schreiben Sie mir bald eine Antwort.

Seien Sie herzlich gegrüßt von
Ihrem Schwager Christoph Holz.«

Als Alfred den Brief zu Ende gelesen hatte, holte er tief Atem und sah seine Mutter erwartungsvoll an, weil diese ganz blass geworden war, während ihm das Herz laut pochte.

»Du lieber Himmel, das muss ein großes Gut sein! Achthundert Stück Rindvieh und zweihundert Pferde! Was sagst du dazu, Mutter?«

»Mir tut es leid, dass dieser Brief gekommen ist, Alfred«, erwiderte Frau Richter und drückte ihr Taschentuch an die Augen. »Ich hatte sogleich eine Ahnung, dass er nichts Gutes enthalten werde, als ich ihn in der Hand des Boten sah.«

»Aber wie magst du dich nur davon anfechten lassen, liebe Mutter? Wir brauchen ihn ja gar nicht zu beachten, wenn er dir nicht gefällt«, sagte Alfred und legte zärtlich seinen Arm um den Hals der Mutter.

»Nein, das geht doch auch nicht, denn der Schwager hat es ja doch gut gemeint«, sagte Frau Richter. »Ich fühle, ja ich bin überzeugt davon, dass wir den Brief beachten müssen. Ich fühle, dass du zu dem Schwager gehen und mich verlassen willst … und du bist dann so weit fort … und dun willst also Bauer werden, obwohl du so viel gelernt hast? Du lieber Himmel, was sollen wir tun?«

»Wir wollen zuerst darüber mit Herrn Winkel sprechen, liebe Mutter, er soll uns raten.«

»Ich sag’s ja, du willst gehen und mich verlassen. Ach, Alfred, kannst du das wirklich übers Herz bringen?«

Alfred versuchte seine Mutter nach besten Kräften zu trösten, aber er konnte nicht leugnen, dass ihm der Ruf einleuchtete, welcher an ihn ergangen war. Das Bauernleben lockte ihn nicht, aber der Reiz der Ferme, die Jagd auf Hirsche, Büffel – wirkliche Büffel. Die Antilopen und die Forellen im Bach übten einen merkwürdigen Zauber auf ihn aus. Er hatte ja im Stillen längst von Amerika geträumt, wo die Feldmesser ein gutes Auskommen haben sollten. Am anderen Tag wurde Herr Winkel zurate gezogen. Dieser war Feuer und Flamme vor Bewunderung über die Aussicht, welche sich seinem Zögling darbot. Er meinte, wenn ihm nur auch jemand ein solches Anerbieten für seine Kinder machen würde. Er hatte zehn Kinder, Töchter und Söhne, aber wenn er eine solche Einladung bekäme, so müssten sie alle ihre Bündel schnüren und nach Amerika auswandern, Hinz und Kunz, denn da drüben sei noch der richtige Platz für alle fleißigen Hände und guten Köpfe. Alfred würde Stockprügel verdienen, wenn er diesem Ruf nicht folgte. Dieser Bescheid fiel nun allerdings ganz anders aus, als Mutter Richter erwartet hatte. Aber als auch der Herr Pfarrer, dem man ebenfalls den Fall vorgetragen hatte, und andere besonnene Männer der Meinung des Oberamtsgeometers beitraten, als Herr Winkel nach Frankfurt ging und die Gebrüder Stettenheim aufsuchte und diese erklärten, dass sie von ihrem Hause in New York bereits Nachricht wegen des Kreditbriefs haben, welcher vollkommen in Ordnung sei, und dass ihr New Yorker Haus geschrieben habe, Mister Christoph Holz sei einer der reichsten Grundbesitzer in Colorado und ein sehr angesehener Mann, da überwog die Liebe zu ihrem Sohn und die Fürsorge für sein Wohlergehen alle Bedenken der Mutter, und ihr Herz brachte dem Kind das schmerzliche Opfer, ihn ziehen zu lassen.

Die günstige Auskunft über Onkel Holz steigerte natürlich noch Alfreds berechtigte Aufregung zur Fieberhitze. Während er von sich aus noch gezögert haben würde, ein Anerbieten anzunehmen, welches offenbar seiner Mutter Schmerz bereitete, überzeugte ihn Herr Winkel auf unabweisbare Weise, dass er diesen Ruf schon um der seinen willen annehmen müsse, um der Mutter und den Geschwistern drüben eine bessere Zukunft zu bereiten. So setzte Alfred mit Herrn Winkels Unterstützung seinen Wunsch durch, und die gute Frau Richter wagte nicht länger, ihn zurückzuhalten, damit es nicht aussehe, als ob sie aus Selbstsucht dem Glück ihres Sohnes in den Weg trete. So wurde denn eine Antwort von Mutter und Sohn geschrieben und die Zeit der Abreise in den Juli verlegt, damit Alfred noch etwas Englisch lerne und sich auf seine Reise vorbereite. Das nötige Reisegeld wurde erhoben, ein Platz auf dem Dampfer »Hermann« in Bremen bestellt, und ehe man sich dessen versah, kam die Zeit der Abreise heran. Frau Richter begleitete ihren Sohn bis Bremerhaven. Alfreds Herz war, wie es sich von selbst versteht, von den kühnsten Hoffnungen geschwellt, während die bekümmerte, sorgenvolle Mutter den schneidendsten Kontrast zu ihm bildete. Nicht als ob ihm die Trennung von der Mutter nicht ebenfalls nahe gegangen wäre, allein er redete sich ein, er sei vom Schicksal dazu ausersehen, für seine Mutter und Familie hinüberzugehen, um denselben drüben eine behagliche Stätte zu bereiten. Erst als er an Bord des Hermann seine Mutter zum letzten Mal umarmte, sie die Fallreeptreppe wieder hinabsteigen sah auf den kleinen Dampfer, welcher sie ans Land zurückbringen sollte, als der Hermann sich in Bewegung setzte, um seine Fahrt anzutreten, da fühlte er den vollen Schmerz des Abschieds von den seinen und der deutschen Heimat, deren niedriger Strand ihm bald aus den Augen verschwand. Die Überfahrt nach New Yorck ist schon so oft beschrieben worden, dass wir dieselbe nicht mehr hier zu schildern brauchen. Diese Fahrten haben ja heutzutage nicht mehr den geringsten Reiz der Neuheit, wenn sie nicht mit einem Schiffsbrand, Schiffbruch oder wenigstens mit einem fürchterlichen Orkan verknüpft sind. Der Hermann entging glücklich allen derartigen aufregenden, aber gefährlichen Ereignissen und legte seine Fahrt in guter Zeit zurück. Als endlich das Schiff sicher im Hafen lag, das Lichterschiff an der Langseite anfuhr, um das Gepäck und die Passagiere ans Land zu bringen, und die auf der Überfahrt geschlossenen Freundschaften sich auflösten wie geschmolzenes Wachs, da überkam Alfred ein gar seltsames Gefühl der Einsamkeit und Verlassenheit, denn er wusste ja, dass ihn in New York niemand erwarte, dass er in eine ihm ganz neue Welt trete. Es war ihm ganz besonders schwer ums Herz, als die seitherigen Schiffsgenossen einer nach dem anderen nur mit einem flüchtigen Kopfnicken und

Abschiedsgruß an ihm vorübergingen und nur noch wohl an sich selber dachten. Alfred wusste nicht, wohin er gehen sollte. Er sah sich von zudringlichen Zutreibern und Lohndienern verschiedener Hotels umringt und konnte wohl begreifen, dass es ihm an einer Auswahl nicht fehle. Allein die Schwierigkeit lag für ihn, den Schüchternen und Unerfahrenen, eben darin, seine Wahl zu treffen. Er war schon im Begriff, die Fallreeptreppe hinabzusteigen und das Lichterschiff zu betreten, wohin ihm die meisten seiner Reisegefährten schon vorangegangen waren, als ihn eine fremde Stimme in gebrochenem Deutsch anredete. »Bitte, in welches Hotel werden Sie gehen, mein Herr? Entschuldigen Sie meine Frage, aber Sie scheinen wie ich allein zu sein.«

Alfred schaute sich um und erblickte einen jungen Herrn mit dunklem Haar und Teint, der um einige Jahre älter war als er selbst und in dessen Gesichtszügen, Kleidung und Benehmen er unverkennbar einen geborenen Amerikaner zu erkennen glaubte.

»Ich habe mich noch zu keinem Besonderen entschlossen«, erwiderte Alfred, »aber wie kommt es, dass ich Sie auf der ganzen Überfahrt nicht gesehen habe oder mich wenigstens nicht erinnern kann? Sind Sie all diese Zeit seekrank gewesen?«

Sie waren mittlerweile die Fallreeptreppe hinabgestiegen und standen auf dem kleineren Dampfboot.

»Keineswegs! Krank gewesen? Hahaha, das ist ein guter Einfall!«, versetzte der Fremde. »Rein, mein Herr, ich bin keiner von den Passagieren des Hermann. Ich bin erst diesen Morgen in New York angekommen. Ein Verwandter, der mit dem Hermann eintreffen sollte, ist aber nicht gekommen. Ich bin tief aus dem Binnenland, aus den westlichen Staaten. Als ich Sie nun so allein und wie mir schien unschlüssig dastehen sah, nahm ich mir die Freiheit, Sie anzureden. Ich muss mich entschuldigen, wenn ich als ein ganz Fremder …«

»O, nicht doch, es bedarf durchaus keiner Entschuldigung. Es war sehr freundlich von Ihnen«, wandte Alfred eifrig ein. »Ich bin Ihnen recht dankbar, dass Sie mich angeredet haben, denn ich besann mich eben, an wen ich mich um guten Rat wenden sollte.«

Man hatte Alfred schon daheim und auf dem Schiff vor sogenannten Bauernfängern gewarnt, welche sich den Einwanderern und besonders jungen Leuten in New York und in anderen Hafenstädten anzuschließen suchen sollten. Allein der junge Amerikaner schien kein solcher zu sein, sondern ein anständiger und gebildeter Mann.

»Nun denn«, sagte der Fremde, »wenn Sie keine bessere Empfehlung haben, so kann ich Ihnen mitteilen, dass man mir das Amsden House auf dem Broadway angeraten hat, mit welchem ich auch ganz zufrieden bin. Es ist wohlfeil, was mir passt, denn ich bin nicht reich, – und ruhig.«

»Dann werde ich mich auch für das Amsden House entscheiden«, erwiderte Alfred. »Ich bin auch nicht reich und werde ohnedem nur einen oder zwei Tage in New York bleiben, denn ich gehe nach Colorado.«

»Nach Colorado? Ah, das ist eine weite Reise!«, sagte der Fremde. »Soll ein herrliches Land sein. Ich habe mir schon oft gewünscht, auch einmal dorthin zu gehen. Na, vielleicht verschlägt mich das Schicksal auch einmal dorthin. Aber da sind wir an Land, und ich will nun nach Ihrem Gepäck sehen, wenn Sie nichts dagegen haben. Allein zuvor will ich mich Ihnen vorstellen. Hier ist meine Karte!«

Alfred nahm die ihm dargereichte Visitenkarte und las Mr. Philipp G. Levering.

»Ich habe leider keine Visitenkarte, Herr Levering«, sagte er mit einem leichten Erröten. »Mein Name ist Alfred Richter. Ich komme aus Deutschland und reise nach Andrew Jackson City in Colorado …«

»Nicht weiter, lieber Herr! Es bedarf einer derartigen Erläuterung nicht«, fiel ihm Levering ins Wort. »Es war nur meine Pflicht, mich Ihnen vorzustellen, da ich mich Ihnen gewissermaßen aufgedrängt habe. Aber erwarten Sie mich nun hier, bis ich Ihr Gepäck durch die Douane gebracht habe.«

Alfred war damit wohl zufrieden, denn diesem unliebsamen Geschäft hatte er schon seit einigen Tagen mit Unbehagen entgegengesehen, weil man ihm von den New Yorker Zollbehörden so viel Ungünstiges gesagt hatte. Levering ersparte ihm auch wirklich diese Mühe, gab die Koffer einem Fuhrmann, um sie zum Amsden House zu bringen, und machte Alfred den Vorschlag, lieber zu Fuß zum Broadway zu gehen und sich das Straßenleben etwas anzusehen, als in einem Mietwagen dorthin zu fahren. Alfred willigte gern ein und konnte seinem Glücksstern nicht genug danken, dass dieser ihm einen so gefälligen und nützlichen Gefährten in den Weg geschickt hatte. Das Amsden House war ganz so, wie Herr Levering es beschrieben hatte: ein stilles, behagliches Hotel zweiten oder dritten Ranges, aber durchaus anständig. Die Schlafzimmer waren zwar etwas klein und kahl, aber gewissenhaft reinlich und behaglich. Die Speisekarte war überraschend reich und mannigfaltig, und ehe Alfred eine halbe Stunde in dem Hotel zugebracht hatte, fühlte er sich darin ganz heimisch und wohl. Herr Levering benahm sich ihm gegenüber äußerst taktvoll und hatte ihm so nebenher erzählt, er sei der Sohn eines wohlhabenden Farmers in Illinois, habe mehrere Jahre im Haus eines Verwandten in St. Louis in Missouri gelebt und von dessen Frau, einer Deutschen, und deren Kindern etwas Deutsch gelernt, und trage sich mit dem Gedanken, bei Pickneyville in Illinois eine große Ziegelei zu kaufen. Er sei zu dem Zweck nach New York gekommen, die neuesten Einrichtungen in diesem Gewerbezweig kennenzulernen und einen Oheim in Empfang zu nehmen, welcher von einer Reise nach Europa zurück erwartet werde. Nach dem Diner oder Mittagessen überflog Herr Levering einige Zeitungen und schlug Alfred vor, einige Vergnügungsorte aufzusuchen, wo sie einen heiteren Abend verbringen könnten. Allein Alfred hatte keine Lust dazu, erfühlte sich etwas ermüdet und wollte noch an sein Mütterchen schreiben, um dieser seine glückliche Ankunft zu melden, was Herr Levering ganz natürlich fand und billigte, aber sich doch nicht enthalten konnte, ihn wegen seiner deutschen Gewohnheit, früh zu Bett zu gehen, zu necken.

»Sie werden ja Ihren Brief bald geschrieben haben, und dann könnten wir immerhin uns noch einige vergnügte Stunden machen«, sagte er. »Ich will Sie nicht verführen. Handeln Sie ganz nach Gutdünken. Ich für meinen Teil habe heute Abend noch einige Ausgänge zu machen. Aber für morgen biete ich mich Ihnen mit Vergnügen als Begleiter an, da ich nichts Besseres zu tun habe. Wir wollen dann die Sehenswürdigkeiten von New York miteinander besichtigen: den Hafen, die großen Avenues und endlich den Central Park, von dem Sie wohl schon gehört haben werden und der in seiner Art einzig ist.«

Alfred nahm das Anerbieten dankbar an. Nach dem Tee oder »Supper«, Abendbrot, wie Herr Levering es nannte, verabschiedeten sie sich, beiderseits anscheinend sehr befriedigt von der gemachten neuen Bekanntschaft. Alfred ging auf sein Zimmer, um seinen Brief zu schreiben, während Levering das Hotel verließ, um seinen Abendspaziergang anzutreten.