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Shane Flannigan 4 – Schatten der Vergangenheit

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Schatten der Vergangenheit

Ihre Hände waren auf dem Rücken gebunden. Mit tränenverschleierten Augen sah sie in die Menschenmenge, die gebannt auf die Hinrichtung wartete. Der Vollstreckung eines Gerichtsurteiles beizuwohnen, war stets eine Sensation, eine Frau hängen zu sehen, war etwas ganz Besonderes. Nur sie alleine wusste, dass sie unschuldig war. Sie hatte sich in ihr Schicksal ergeben. Niemand würde sie jetzt noch retten. Das Gericht hatte das Urteil verkündet, der Sheriff musste es vollstrecken. Er mied den direkten Blickkontakt mit ihr. Er gehörte zu denen, die nicht einverstanden waren, mit dem, was hier ablief. Die Worte, die der Pater betete, drangen nicht bis zu ihr durch. Am liebsten hätte sie ihn angeschrien, er solle verschwinden, doch ihr Mund blieb stumm. Der Sheriff legte die Schlinge um ihren Hals. Rau schabte der Strick über ihre Haut. Die Menge johlte. Ergeben schloss sie die Augen.

Victoria bewegte ihre Hände. Vorsichtig. Sie waren nicht gefesselt. Langsam kam sie ins Jetzt zurück. Es war ein Traum gewesen, ein schrecklicher Traum. Die Tränen, die sie wegwischte, waren real. Sie hatte im Schlaf geweint.

 

Draußen war es noch dunkel, zu früh, um aufzustehen. Mit einem Ruck setzte sie sich hoch und legte Kopf auf die angewinkelten Beine. Tränen rannen über ihr Gesicht. Der Traum war eine Botschaft. Die Vergangenheit hatte sie eingeholt. Manchmal hatte sie vage daran gedacht, dass alte Geschichten ans Tageslicht kommen konnten, doch nie wirklich daran geglaubt. Es war so lange her und vor allem, weit, weit weg geschehen. Im Grunde viel zu weit weg, um Menschen von damals zu begegnen. Eine Mischung aus Angst und Verbitterung kroch schleichend in ihr hoch und ließ sie nicht mehr los. Sie wälzte sich hin und her, bis sie sich schließlich erhob. An Schlaf war nicht mehr zu denken.

 

Hinter jeder Ecke, hinter jedem Baum vermutete sie den Rächer aus ihrem alten Leben. Seit drei Tagen konnte sie an nichts anderes mehr denken. Die zahlreichen Versuche, sich einzureden, dass ein alberner Traum keine Bedeutung hätte, misslangen.

Sie hatte großen Spaß beim Fest in Coldwater gehabt, bis zu dem Augenblick, wo sie dem Fremden gegenübergestanden hatte. So wie sie ihn, hatte er auch sie erkannt. Aber so etwas war schier unmöglich. Die wochenlange Überfahrt auf einem überladenen Schiff, unmenschliche Bedingungen in den Lagern am Hafen, wo für viele Auswanderer, die auf ein besseres Leben hofften der Traum bereits zerplatzte … All das und noch viel mehr lag zwischen dem, was früher einmal gewesen war und jetzt. Einer Person von damals zu begegnen war einfach unglaublich. Schlichtweg undenkbar. Aber trotzdem war es geschehen. Warum hatte der Sheriff sie nicht bereits verhaftet? Vielleicht wusste er, dass er keine Berechtigung dazu hatte. Es gab in diesem Land keinen Steckbrief von ihr. Ihren Nachnamen hatte sie bei ihrer Ankunft geändert. Und weshalb sollte er einem Fremden Glauben schenken? Die Angst blieb trotzdem. Wie eine Marionette verrichtete sie ihre Arbeit.

Jahrelang hatte sie gehofft, Herrin der Ranch zu werden, doch Horacio Foster hatte sich sehr distanziert verhalten. Zuerst war Victoria in ihrem Stolz gekränkt gewesen, doch irgendwann hatte sie es verstanden. Der Rancher hatte seiner verstorbenen Frau so sehr nachgetrauert, obwohl sie schon zwei Jahre tot gewesen war, als Victoria hier ankam, dass er keine andere Frau heiraten wollte. Dass er Victoria nicht zu seiner Geliebten machte, war eine Respekthaltung ihr gegenüber. Sie hatten sich geschätzt und waren in Freundschaft verbunden gewesen. Der angebliche Tod von Shane, seinem Ziehsohn, hatte ihn sehr getroffen. Bis zuletzt hatte er gehofft, dass Shane eines Tages durch die Tür treten würde. Victoria vermutete, dass Shane in seinem Charakter so war, wie es sich Horacio für seinen leiblichen Sohn gewünscht hatte. Gabe war anders gewesen. Auf der einen Seite unbekümmert, auf der anderen Seite manchmal unbeherrscht, wenn etwas nicht in seinem Sinne verlief. Sein Schicksal hieß Stella, die ihn in ihren Fängen hielt und zum Hampelmann machte. Sie war eine kalte, egoistische Person, die Victoria spüren ließ, dass sie nur eine Dienstbotin war.

In den 14 Jahren, in denen Victoria auf der Double F Ranch arbeitete, hatte es ihr an nichts gefehlt. Ihre Freundschaft zu Horacio machte sie sich durch Männerbekanntschaften nicht zunichte, obwohl es an Verehrern und Gelegenheiten nie gemangelt hatte. Inzwischen war sie 31 und noch immer eine hübsche Frau. Sie war nicht dumm und hätte ihre Stellung nie für einen Cowboy aufgegeben. Eine Frau musste stets an ihre finanzielle Absicherung denken. Seit Horacios Tod dachte sie mehr denn je darüber nach. Eines Tages würde Shane eine Frau nach Hause bringen, und Victoria musste ihren Platz räumen.

Sie hatte den Reiter nicht gehört, erst seine Stimme schreckte sie auf, als sie über den Hof ging.

»Hätte nie gedacht, dass ich dir eines Tages begegne. So ein Zufall.«

Victoria schluckte mehrmals, bevor sie ihre Sprache wiederfand. »Tut mir leid, Sie müssen mich verwechseln. Ich kenne Sie nicht.« Sie versuchte ihrer Stimme einen festen Klang zu geben.

Der Mann in abgerissener Kleidung lachte. »Bist du hier die Rancherin? Weiß dein Mann, welche Schlampe er sich in sein Bett geholt hat?«

Victoria ballte die Hände zu Fäusten. Mehr aus Furcht als aus Zorn. »Verlassen Sie sofort das Land der Double F Ranch, bevor die Cowboys Sie verjagen«, forderte Victoria mit lauter Stimme.

»Wir sehen uns wieder«, sagte er, während er sein Pferd unsanft wendete und antrieb.

Wie erstarrt blickte sie ihm hinterher. Sein Lachen glaubte sie noch zu hören, als er nur noch als kleiner Punkt erkennbar war.

»Wer war das?«, fragte Shane, der aus der Scheune kam.

»Wer?« Victoria starrte noch immer dorthin, wo der Reiter verschwunden war.

»Der Reiter. Was wollte er?«

»Der Reiter?« Sie zwang sich, ihre Augen von der Stelle abzuwenden und Shane anzublicken. »Ein Fremder, der sich nach dem Weg erkundigt hat.« Sie wusste selbst, dass es wenig überzeugend klang.

Sie ließ den verdutzten Shane stehen und wandte sich ab, um in das Haus zu gehen.

»Noch zwei Reiter.« Shanes Worte jagten Schauer über ihren Rücken.

Sie begann zu zittern und fühlte, wie Tränen in ihre Augenwinkel traten. Jetzt war es soweit. Sie musste alle Kraft aufwenden, um sich umzudrehen, um dem Unvermeidlichen entgegenzutreten. Dass sich der Sheriff nicht unter den Reitern befand, machte ihre Sorgen nicht kleiner. Der eine war Anwalt Timothy Hartman aus Coldwater, fast so schlimm wie ein Gesetzeshüter. Den anderen kannte sie ebenfalls. Sie hatte ihn beim Fest kennengelernt.

»Mr. Hartman, freut mich, Sie zu sehen. Was führt Sie zu mir? Steigen Sie doch ab.« Shane begrüßte ihn mit Handschlag, als der Anwalt vor ihm stand.

»Mr. Flannigan, darf ich Ihnen meinen Onkel, Ciril Moreland aus Silverton vorstellen. Er weilt gerade zu Besuch bei mir.«

Nach der Begrüßung mit Shane trat der graumelierte, fein gekleidete Mann auf Victoria zu.

»Miss Whitely, es ist mir eine große Ehre.« Er nahm ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf, ohne dass seine Lippen ihre Haut berührten.

Victoria war perplex. Sie kannte dies aus den Kreisen, in denen sie früher gearbeitet hatte, doch nie hatte das jemand bei ihr getan.

»Bitte verzeihen Sie, dass ich wie ein Blizzard heranstürme. Leider habe ich Sie beim Fest nicht mehr gesehen.«

Victoria hatte mehrmals mit diesem feinen Herrn getanzt, ehe sie den anderen sah. Danach war ihr die Lust am Feiern vergangen und sie hatte das Fest verlassen. Ciril Moreland war Anwalt wie sein Neffe und genau das war es, was Victoria in ihrer jetzigen Situation Angst machte.

»Die Gelegenheit hat sich leider nicht ergeben, in Coldwater einen leichten Wagen zu mieten, um Sie zu einer Ausfahrt einzuladen. So musste ich den Picknickkorb auf das Pferd packen. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie meine Einladung annehmen.«

Zuerst die Begegnung mit der Vergangenheit und nun die Einladung des Anwalts. Victoria versuchte sich elegant aus dieser Situation herauszuziehen, doch es fehlten ihr die Worte. Der Mann war wirklich sympathisch, doch gerade jetzt kam er ungelegen. Und Shane stand ihr nicht gerade hilfreich zur Seite.

»Wenn Sie mit einem einfachen Wagen zufrieden sind, kann ich gerne aushelfen.« Shane grinste, als hätte er einen dummen Jungenstreich ausgeheckt. »Heute ist Sonntag und diesen Tag sollten wir genießen. Ich esse in der Stadt, also musst du dich um mich nicht sorgen, Victoria.«

Am liebsten hätte sie ihm einen bitterbösen Blick zugeworfen, doch in Anwesenheit von Onkel und Neffe unterließ sie das.

»Das ist wirklich sehr großzügig von Ihnen, Mr. Flannigan.« Ciril nickte zufrieden.

»Ich spanne den Wagen sofort an. Mr. Hartman, ich würde Sie gern in der Stadt auf einen Drink einladen.« Die Männer nickten sich alle im Einverständnis zu. Sie verschwendeten keinen Gedanken daran, dass Victoria möglicherweise nicht einverstanden war.

 

Der Tag mit Ciril Moreland war wunderbar gewesen. Noch schöner wäre es allerdings gewesen, wenn ihre Gedanken sich nicht ständig um den Fremden drehten und die Frage, ob er etwas im Schilde führte. Victoria hätte sich so gern bei einem Fachmann erkundigt, doch sie wollte nicht, dass Ciril schlecht von ihr dachte. Er hatte ihr gekonnt den Hof gemacht, war ein vollendeter Gentleman und hatte sie nie bedrängt. Es hätte so schön sein können. So viele Jahre hatte sie in Frieden gelebt. Manchmal war sie einsam gewesen, doch im Großen und Ganzen hatte sie es gut getroffen.

Die nächste Hiobsbotschaft erreichte sie am nächsten Morgen durch Shane.

»Victoria, Mr. Hartman bat mich, dir auszurichten, heute Nachmittag zu ihm zu kommen. Auf meine Frage, warum er dir das gestern nicht selbst sagte, meinte er, dass habe er erst gestern nach seinem Besuch bei uns erfahren.«

Victoria erstarrte. Sie war zu keinerlei Regung fähig.

»Was ist los?«, fragte Shane, während er sein Frühstück vertilgte.

Sie öffnete den Mund um etwas zu sagen, doch kein Wort kam aus ihrer Kehle. Sie nahm auf dem Stuhl Platz, weil sie Angst hatte, ihre Knie würden nachgeben.

»Victoria, du siehst aus, als hättest du eine Todesnachricht erhalten. Ist mit Moreland etwas geschehen?«

»Eine Todesnachricht. Ja, so etwas Ähnliches.« Sie stütze sich auf den Tisch, um sich zu erheben.

Shane kam zu ihr und drückte sie nieder. Dann schob er seinen Stuhl neben sie. »Hey, wir kennen uns schon so lang. Vertraust du mir nicht?«

»Das ist es ja gerade. Ich werde dein Vertrauen verlieren«, flüsterte sie mit erstickter Stimme.

»Nein, das wirst du nicht.«

»Meine Vergangenheit hat mich eingeholt.«

»Erzähl mir davon. Dann entscheiden wir gemeinsam, wie wir vorgehen.«

Victoria atmete tief durch, setzte zum Sprechen an und stoppte. Aufmunternd tätschelte Shane ihren Arm.

»Ich bin in Österreich aufgewachsen, in einem Land, das sehr weit entfernt liegt«, begann Victoria ihre Erzählung. »Meine Familie stand im Dienste eines Grafen. Schon als Kind habe ich im Haushalt der Gräfin gearbeitet. Es ist üblich, na ja …« Sie überlegte, wie sie das am besten formulieren sollte. »Es ist wie bei den Sklavenhaltern, die Herr über ihre Neger waren. Die Mädchen und Frauen …« Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, ob er verstand.

»Ich weiß, was du meinst«, sagte er leise.

»Eines Tages war der Herr sehr grob zu mir«, flüsterte sie beschämt. »Es war auf dem Heuboden. Es war wirklich keine Absicht, doch bei dem Gerangel ist er durch die Luke gestürzt. Ich wollte ihn nicht töten. Ich war in Panik, wusste nicht, was ich tun sollte. Einer Dienstmagd hätte man nie geglaubt. Nur zu gern hätte mich die Herrin am Galgen hängen gesehen.«

Shane störte ihre Sprachpause nicht. Nach einer Weile des Schweigens sprach sie weiter. »Der Reiter, der gestern auf die Ranch kam, war für mich kein Unbekannter. Es war der Sohn des Grafen. Ich glaube, er hat das Unglück damals beobachtet. Ich bin nach Deutschland geflohen, hab das Reisegeld für die Schifffahrt zusammengespart und bin wochenlang über das Meer gefahren. Ich hätte niemals gedacht, dass mich hier jemand findet.« Sie war den Tränen nahe.

»Wegen dem, was damals geschehen ist, kann dich hier niemand belangen. Niemand macht sich die Mühe, eine lange Schifffahrt zu machen, um in der Vergangenheit zu graben.«

»Aber er hat mich gefunden und führt irgendetwas im Schilde.«

»Ja, das mag sein«, antwortete Shane. »Vertraust du mir?«

Victoria nickte.

»Gut. Dann lass uns in die Stadt fahren. Während du zum Anwalt gehst, rede ich mit Sheriff Chambers.«

Als Victoria erschrocken aufschrie, beruhigte er sie. »Keine Bange. Wie gesagt, das ist in einem weit entfernten Land geschehen. Der Sheriff ist mein Freund. Vertrau mir.«

Zögernd nickte sie.

 

Shane brachte Victoria bis zum Haus des Anwalts, ging ins Sheriff Office und erzählte Alan ihre Geschichte.

»Diese Nachricht erhielt ich vor wenigen Minuten.« Sheriff Chambers reichte Shane ein Stück Papier.

»Wer hat dir das gebracht?«, wollte Shane wissen.

»Ein Botenjunge. Bevor ich ihn fragen konnte, wer ihm das aufgetragen hat, war er wie der Wind weg.«

»Was hält dich davon ab, Hartman aufzusuchen?«

»Dein Bericht. Na los, komm endlich«, verlangte Alan.

Als auf sein Pochen niemand öffnete, betrat der Sheriff einfach das Haus des Anwalts. Shane folgte ihm. Ihre Rufe blieben unbeantwortet. Im Arbeitszimmer stand Victoria leichenblass und hielt sich am Schreibtisch fest.

»Ich weiß, wie es aussieht, doch ich war es nicht«, flüsterte sie stockend.

Chambers eilte zu den am Boden Liegenden. Shane betrachtete Victoria, die sich wie eine Ertrinkende am Tisch festklammerte, in der Hoffnung, ein Wunder möge sie retten. Er wusste, dass sie Horacio gefallen hatte, doch sie hätte nie den Platz seiner verstorbenen Frau in seinem Herzen einnehmen können. Es musste sehr schwer für sie gewesen sein, in seinem Haus zu arbeiten, mit der kleinen Hoffnung, sein Herz eines Tages doch noch erobern zu können. Sie reichte ihm gerade mal bis zur Brust. Ihr rundliches Gesicht hatte weiche Züge, ihr dunkles Haar trug sie stets straff hochgesteckt. Sie war eine schöne Frau.

Alans Stimme riss Shane aus seinen Gedanken. »Er ist tot, kann noch nicht lange her sein, ist noch warm. Messerstich.«

»Ich bin eingetreten, als niemand öffnete. Er hat gestöhnt«, flüsterte Victoria.

»Was ist hier los?« Ciril Moreland trat ein. Als er seinen Neffen am Boden liegen sah, stürzte er zu ihm. »Wer hat das getan?« Mit eisigem Blick sah er sie alle der Reihe nach an. »Sheriff«, bellte er, als er keine Antwort erhielt. »Miss Whitely, was haben Sie damit zu tun?«, fragte er mit weicherer Stimme.«

Victoria antwortete nicht, ihre Lippen bebten.

»Miss Whitely ist der Schlüssel«, antwortete Chambers. »Möglicherweise«, ergänzte er.

»Ich versteh nicht ganz.« Moreland sah ihn unverständlich an.

»Wir treffen uns in meinem Office. Ich geb dem Coroner Bescheid, dann komm ich nach«, ordnete Chambers an. »Und zu niemanden ein Wort, verstanden?«

 

Wenige Minuten später erschien der Sheriff in seinem Office. Schweigend setzte er sich in seinen Stuhl und gebot den anderen zu warten. Moreland war über sein Verhalten ungehalten.

»Was gedenken Sie zu unternehmen, Sheriff?« Moreland saß neben Victoria vor Chambers Schreibtisch.

»Wenn ich nicht falsch liege, wird bald was geschehen.«

»Das ist eine Mutmaßung und zeugt keinerlei von Ihrer Kompetenz als Gesetzeshüter. Ich verlange, dass Sie aktiv werden.« Morelands Ausdrucksweise war die eines gebildeten Mannes.

Nach einer halben Stunde etwa erhob sich Moreland sichtlich zornig. Gerade als er zu einer heftigen Tirade ansetzen wollte, pochte es an die Tür.

Auf Chambers »Come in« trat ein Mann ein. Victoria erschrak.

»Sheriff, es ist meine Bürgerpflicht, Ihnen Mitteilung zu machen, auch wenn ich kein Bürger dieser schönen Stadt bin.«

»So, was haben Sie denn mitzuteilen?«, fragte Chambers neugierig.

»Ich hörte eben, dass ein Anwalt namens Thomas Hartman ermordet worden ist. Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen zu sagen, dass ich eine Person in das Haus des Besagten hineingehen gesehen habe.«

»Es ist gut, dass es so gesetzestreue Menschen gibt«, lobte der Sheriff. »Können Sie diese Person beschreiben?«

»Nicht nur das, Scheriff. Diese Person ist sogar in diesen Räumlichkeiten anwesend.« Ein diabolisches Grinsen zog sich über die Lippen des Fremden. »Diese … Frau sah ich in das Haus gehen, zu der Zeit, als die Tat geschehen sein muss.« Er zeigte anklagend auf Victoria.

»Was?« Ciril Moreland sprang erschrocken von seinem Stuhl hoch.

»Wie heißen Sie?«, fragte Chambers.

»Ich bitte höflich um Verzeihung.« Der Mann reckte sein Kinn. »Hermann von Alden. Ich entstamme einem alten Adelsgeschlecht aus Österreich.« Er neigte gönnerhaft kurz den Kopf.

»Ist mir scheißegal, von wo Sie stammen«, antwortete der Sheriff mit harter Stimme. »Ich sag Ihnen mal, wie ich die Sache sehe. Ein eigenartiger Zufall wollte es, dass Sie der Frau begegnen, die vor vielen Jahren für Ihre Familie gearbeitet hat. Sie machen Sie für den Tod Ihres Vaters verantwortlich. Ich sag Ihnen mal, was ich von Männern halte, die glauben, ihre Angestellten …« er hüstelte verlegen, als ihm bewusst wurde, dass Victoria zugegen war. »Die Nachricht, die angeblich vom Anwalt stammt.« Chambers kramte aus seiner Tasche ein Papier, faltete es auseinander und las vor: »Sheriff, ich erwarte Sie unverzüglich in meinem Office. Herzlichst Timothy Hartman.« Chambers sah den Fremden an. »So hätte er mich nie angesprochen, doch das konnten Sie nicht wissen, nicht wahr?«

Alle Freundlichkeit wich aus dem Gesicht des Mannes, dem man an der Kleidung weder Vornehmheit noch ein altes Adelsgeschlecht ansah. Hinter ihm glitt Shane vorbei und verstellte ihm den Weg durch die Tür nach draußen.

»Sie ist schuld, dass meine Mutter mein Erbe verschacherte.« Anklagend zeigte er mit dem Finger auf Victoria. »Wäre sie nicht gewesen, würde mein Vater noch leben.«

»Aus Rache haben Sie einen fremden Menschen ermordet?«, fragte der Sheriff verblüfft.

»Der Plan war todsicher.« Zwischen zusammengebissenen Zähnen presste er undeutlich hervor: »Sie sollte wegen Mordes hängen.«

»Ich weiß nicht, wie Sie Hartman dazu gebracht haben, Miss Whitely einzuladen. Sie haben es so eingefädelt, dass ich Miss Whitely bei dem ermordeten Anwalt finde und sie des Mordes verdächtige.« Chambers schüttelte ungläubig den Kopf. »Bleiben Sie ruhig stehen. Ich durchsuche Sie, ob Sie die Mordwaffe eingesteckt haben.«

Alden bebte vor Zorn am ganzen Körper. Sein Adamsapfel schwoll an, sein Gesicht glühte dunkelrot. »Meine Mutter hat gebüßt, diese Schlampe wird ebenfalls sterben«, brüllte er und stürzte sich auf Victoria.

Bevor er sie erreichen konnte, stellte sich Moreland ihm in den Weg und hieb ihm beide Fäuste in den Leib.

 

Im Gefängnis drehte Alden vollends durch. Er schrie und tobte unentwegt. Bevor ihm der Prozess gemacht werden konnte, wurde er vom Sheriff erschossen, als Alden ihm die Waffe entwenden wollte.

Shane war sich im Klaren, dass er sich bald nach einer neuen Haushälterin umschauen musste. Noch war nicht geklärt, ob Ciril weiterhin in Silverton wohnen blieb, oder die Kanzlei seines Neffen übernahm. Er freute sich von ganzem Herzen für Victoria, die endlich ein Zuhause gefunden hatte.