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Der Marone – Ein Lager aus Seidenwollenblättern

Thomas Mayne Reid
Der Marone – Erstes Buch
Kapitel 27

Ein Lager aus Seidenwollenblättern

Als Herbert Vaughan von seiner schönen und liebenswürdigen Cousine und zugleich von dem Haus seines gastunfreundlichen Verwandten schied, ging er durch das Gebüsch, das sich am Abhang zur Rechten ausdehnte.

Ungeachtet des in seiner Brust tobenden Sturmes war ihm dennoch eine Überlegung verblieben, die ihn abhielt, die große Allee hinabzugehen. Von einem tiefen Gefühl seiner Demütigung durchdrungen, wünschte er nämlich nicht, irgendeinem der Leute seines Onkels zu begegnen, da die Sklaven selbst um seine Erniedrigung wissen mussten. Noch viel weniger verlangte er aber danach, bei einem langen Gang in der großen Allee von Augen beobachtet zu werden, die aus den Fenstern des großen Hauses auf ihn gerichtet sein möchten.

Als er die Grenzen der Ebene erreichte, übersprang er eine niedrige Mauer, die das Gebüsch von den äußern Feldern trennte, und begann die Abdachung des Bergrückens im Schatten von Pimentwäldern zu ersteigen.

Einige Zeit hindurch hinderten ihn die sich widerstreitenden und alle seine Gefühle aufs Tiefste aufregenden Gemütsbewegungen an jeder Art ruhiger Überlegung. Zwei sehr verschiedene Gefühle waren jedenfalls in seiner Seele durch die beiden Personen entstanden, die er soeben gesehen hatte, so verschieden und einander entgegengesetzt, wie Tag und Nacht, wie Trauer und Freude, ja vielleicht wie Hass und Liebe.

Dieser Widerstreit in seinem Inneren hätte vielleicht noch länger gedauert, wäre die Gelegenheit für unnütze Gefühlserregungen irgend günstig gewesen, allein das war keineswegs der Fall. Der junge Mann fühlte sich zu verlassen und zu freundlos, um sich lediglich leidenschaftlichen Gedanken hinzugeben. Deshalb legte sich der Sturm seiner Seele auch viel früher, als dies sonst wohl der Fall gewesen wäre.

Sein erster Gedanke, nachdem wieder einige Ruhe in seine Seele eingezogen, war nun: »Wohin!« und die Antwort darauf: »Nach Montego Bay.«

Was er dort bei seiner Ankunft machen wollte, war freilich nicht so leicht beantwortet. Er hatte kein Anrecht mehr, sich am Bord des Schiffes aufzuhalten, obgleich die freundlichen Kameraden des Vorderkastells ihn unbezweifelt willkommen heißen würden, um mit ihnen ihre Bunks und ihren Schiffszwieback zu teilen.

Allein Herbert wusste sehr wohl, dass die Gastfreundschaft der Seenymphe nicht von ihnen abhänge, und dass, selbst wenn es der Fall gewesen wäre, dies ihm doch nicht lange nützen könne.

Nach England sofort zurückzukehren, vielleicht sogar mit demselben Schiff, mochte ihm wohl in den Sinn kommen, aber hieran konnte er im Ernst gar nicht denken. Es hatte ihm zwanzig Pfund und seinen letzten Schilling gekostet, um nach Jamaika zu kommen. Es würde dasselbe Geld für seine Rückreise erforderlich gewesen sein. Deshalb konnte dieser Gedanke keinen Augenblick gefasst werden.

Oder kam ihm vielleicht der Gedanke an die Rückkehr gar nicht in den Sinn? Oder wäre er sogar nicht einmal zurückgekehrt, selbst wenn ihm eine freie Rückfahrt angeboten wurde?

Keine dieser Annahmen ist ganz unwahrscheinlich. Ungeachtet der ihm von seinem Onkel widerfahrenen Beleidigung, ungeachtet seiner jetzigen verzweifelten Lage war doch etwas vorhanden, und er selbst wusste kaum was, das ihn abhielt, Jamaika oder auch nur Willkommenberg zu hassen, das doch der Ort seiner größten Enttäuschung und Demütigung gewesen war!

Als er den Kamm der Hügelkette erreicht hatte, wünschte er, bevor er sich in den tiefen, an der anderen Seite des Berges sich ausdehnenden Wald begab, durch die Öffnung der Bäume noch einmal die weißen Mauern und grünen Jalousien von Willkommenberg zu erblicken.

In diesem Blick lag wirklich mehr Bedauern als Zorn, ein gewisser Ausdruck von Bekümmernis, wie er sich wohl auf dem Gesicht des gefallenen Engels kundgegeben haben mag, als er über die goldenen Pfähle des Paradieses danach zurücksah.

Als der junge Mann tiefer in die dunklen Waldschatten eindrang, wurde der Ausdruck seines Gesichtes immer bekümmerter und sorgenvoller.

Er wollte nach Montego Bay, dort ein möglichst bescheidenes Unterkommen suchen und warten, bis sein nur ärmlich ausgestatteter Mantelsack, der nach Willkommenberg gekommen war, ihm wiedergebracht worden sei. Das waren die ersten einfachen Pläne, die sich ihm aufdrangen. Sein Geist wurde noch viel zu sehr von sich einander jagenden leidenschaftlichen Gedanken gefoltert, um auf irgend Weiteres für die Zukunft zu denken.

Er wanderte durch den Wald, ohne gerade viel Acht auf die eingeschlagene Richtung zu geben, und jeder, der ihn gesehen hätte, würde geglaubt haben, dass er seinen Weg verloren habe.

Dies war gerade nicht der Fall. Er wusste, oder vielmehr glaubte zu wissen, dass, wenn er sich zur Linken halte, er auf die Hauptstraße kommen müsse, auf der er zum Eingangstor von Willkommenberg gekommen war. Auf alle Fälle musste er den Fluss finden, über den er damals kam, und diesen folgend, musste er früh genug in die Stadt gelangen können.

Mit dieser festen Überzeugung schritt er in Gedanken vertieft und halb geistesabwesend vorwärts. Allein dieser Zustand dauerte so lange, dass er darüber die Richtung wirklich verlor.

Die Bäume hinderten ihn besonders, die schon niedrig stehende Sonne zu sehen. Aber selbst wenn er sie hätte vollständig sehen können, so hätte ihm dies nur wenig genützt, da er bei dem Ritt nach Willkommenberg die Himmelsrichtung, nach welcher die Bay lag, gar nicht beachtet hatte.

Indes wurde er durch die Entdeckung, dass er seinen rechten Weg verloren habe, nicht gerade sehr aus der Fassung gebracht, und der Gedanke, dass er sich in der Montego Bay nicht viel besser befinden würde, ließ ihn dies wenig bedauern. Er hatte ja nicht die Mittel, sich ein hübsches Zimmer und ein bequemes Bett zu verschaffen, und so mochte er vielleicht kein anderes Unterkommen finden, als das, was er jetzt auch hatte, die ausgebreiteten Zweige einer riesigen Ceiba oder eines Baumwollbaumes.

Während solcher Überlegungen war die Sonne ganz gesunken, denn der Baumwollbaum stand am Rande einer Waldöffnung, wo er den Himmel sehen konnte, und er gewahrte, dass dieser bereits vom Abendrot erfüllt war. Seinen Weg in der Dunkelheit zu finden, wäre vollständig unmöglich gewesen und so beschloss er, für diese Nacht sein Unterkommen unter der gastfreundlichen Ceiba zu suchen.

Auch hatte sie selbst bereits ein Lager für ihn zugerichtet, denn ihre Samenkapseln waren auf ihren Zweigen abgebrochen und die halbbraunen Fasern bedeckten den Boden unter ihr so dicht, dass sie unter dem Prachthimmel einer lauen Sommernacht ein mehr als bequemes und behagliches Lager darboten.

Aber war denn nicht auch ein Abendessen vorhanden? Herbert sah sich um, denn er war wirklich hungrig. Seit dem Frühstück hatte er keinen Bissen gegessen, nur ein Stückchen Matrosenspeck und etwas braunen, harten Schiffszwieback, als er das Schiff verließ.

Deshalb fühlte er schon seit längerer Zeit starken Hunger. Auch hatte er während seiner Wanderschaft sich schon nach Wild umgesehen, da er seine Flinte mit sich führte. Wäre irgendetwas erschienen, so war er ein zu guter Schütze, als dass es hätte entwischen können.

Aber er hatte nichts angetroffen, weder ein Vieh noch einen Vogel. Die Wälder schienen verlassen zu sein wie er selbst.

Nun, da er haltgemacht und nichts Besseres zu tun hatte, stellte er sich auf den Anstand und überwachte die Waldeslichtung vor ihm. Vielleicht mochte sich ein Vogel zeigen, der von einem Baum zum anderen flog oder irgendeine Beute verfolgte. Es war jetzt die Zeit der Eulen und er war hungrig genug, um selbst eine solche zu essen imstande zu sein.

Aber weder eine Eule noch ein Nachtrabe kam ihm zu Gesicht. Seine Aufmerksamkeit wurde jedoch auf einen weit essbareren und schmackhafteren Gegenstand hingezogen, der ihm auch versprach, ihn vollständig von allen Hungerqualen zu befreien.

Dicht bei dem Baumwollbaum stand ein anderer Waldriese, der dem Ersteren an Höhe gleichkam, im Übrigen indes von ihm verschieden war, wie ein Pfeil von einem Bogen. Schlank und gerade aufwärts wie eine Lanze, stieg dieser Riese zu einer Höhe von ungefähr hundert Fuß, zweiglos und glatt wie eine Säule von poliertem Malachit oder Marmor bis zur obersten Spitze, wo grüne, federgleiche, nach außen hin gebogene Zweige überhingen wie ein Kreis überhängender Straußfedern.

Ein Kind hätte den Baum etwa für eine Palme halten mögen, aber Herbert wusste es besser. Er hatte oft genug von dem Gebirgskohl Jamaikas gehört, von der königlichen Areca oredoxia. Er wusste ganz wohl, dass im Mittelpunkt des Kreises jener sich weit erstreckenden Zweige, dass in jener Krone ein Schatz verborgen sei, der sich oftmals köstlicher erwies, als Edelstein und Gold, denn schon oft hatte er ein menschliches Leben gerettet.

Aber wie war dieser Schatz nur zu erlangen? Wie alle Kronen war er hoch, weit über dem Bereich gewöhnlicher Sterblichen. Obwohl jung und kräftig und ein geschickter Kletterer vermochte er doch nicht, das sah er wohl ein, jenen schlankem glatten Schaft zu ersteigen. Ohne eine hundert Fuß lange Leiter würde es unmöglich sein, die Spitze zu erreichen.

Doch sieh! Dieser Baumriese stand nicht allein. Eine große, schwarze Liane, eine gewaltige schmarotzerartige Schlingpflanze, wand sich von der Erde bis zu dessen Krone empor, wo ihre Spitze zwischen die federartigen Zweige eindrang, als wäre sie ein großer, seine Beute verschlingender Drache.

Herbert betrachtete einige Augenblicke dies große Seil, dass sich von der höchsten Spitze der Palme hinabziehend, eine natürliche Leiter zu ihrer Besteigung darbot. Der Hunger trieb ihn zu einem Versuch. So stellte er die Flinte gegen den Stamm der Ceiba und begann hinaufzuklettern.

Ohne allzu große Schwierigkeit erreichte er die Spitze und konnte zwischen die ungeheuer großen Blätter eindringen, von denen jedes mehrere Fuß lang war. Zuletzt konnte er das Jüngste aller dieser Blätter erreichen, das noch in der Knospe eingeschlossen und das Ziel seines Kletterns war.

Mit seinem Messer schnitt er das junge Blatt ab, warf es zusammengewickelt auf die Erde, stieg wieder vom Baum herunter und genoss nun als Abendbrot die rohen, doch süßen und saftigen Schösslinge des Gebirgskohls.

Nach dem Abendbrot sammelte er eine Masse von den zerstreuten Fließen der Seidenbaumwolle, legte sie zwischen zwei der großen pfeilerartigen Wurzeltriebe des mächtigen Baumes und bereitete so für sich ein Lager, worauf er, wären nicht einige bittere Gedanken dazwischen gekommen, wohl ebenso sanft und tief geschlafen wäre, wie auf weichen Gänsefedern oder auf Eiderdaunen.