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Der Welt-Detektiv Band 6

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Die sechs schlafenden Jungfrauen 11

Die sechs schlafenden Jungfrauen oder: Der schreckliche Zweikampf
Eine furchtbare Ritter- und Geistergeschichte von Wilhelm Bauberger erzählt
Kapitel 11
Der Wächter des Gartens

Sowohl Alfreds Schicksal als auch das der Sklaven war von nun an erträglich zu nennen, und nichts fehlte unserem Ritter, als das kostbarste Gut – die Freiheit. Indessen fand die reizende Adelma von Zeit zu Zeit Veranlassung, Alfred durch ihre Vertraute, welche Mirza hieß, zu sich kommen zu lassen und sich mit ihm zu unterhalten. Dabei befragte sie ihn über sein deutsches Vaterland, über das Wesen des christlichen Glaubens und seine Familienverhältnisse, und hätte ihm stundenlang zuhören mögen, wenn nicht Vorsicht einen früheren Abbruch geboten hätte. Einen tiefen Eindruck hatte der edle herrliche Mann auf das Herz der feurigen Tochter des Südens gemacht. Aber auch Alfred war von ihrer strahlenden Schönheit entzückt, und wer weiß, was aus seiner Festigkeit geworden wäre, wenn nicht das Engelsbild seiner geliebten Adelgunde ihm stets lebendig vor Augen geschwebt hätte.

Da begegnete unserem Ritter ein Abenteuer, welches ihn unverhofft dem Ziel seiner Wünsche näherte. Er hatte sich einmal von Adelma die Erlaubnis erbeten, den Garten zu verlassen und sich im Freien ergehen zu dürfen. In einem nahen Wäldchen, das vor den Strahlen der Sonne reichlichen Schutz gewährte, lagerte er sich unter einem schattigen Baum und fiel in einen sanften Schlummer. Als er erwachte, blickte er sich befremdet um und sah einen Greis vor sich stehen, dessen weißer Bart bis auf den Gürtel herabhing. Seine Leidenschaften waren tief in seinen Mienen eingeprägt und feurig funkelten noch die dunkeln Augen.

»Wer bist du, Alter?«, fragte Alfred gedehnt.

»Wie du siehst, ein alter Mann?«, war die Antwort, »dem du das Leben zu verdanken hast.«

»Du hast wohl Lust, heute zu spaßen«, meinte der Gartenwächter.

»Hier, überzeuge dich, dass ich Wahrheit redete«, sprach der Alte, und wies mit einem scharfen Messer an Alfreds Seite. Dieser sah hin, und erblickte zu seinem Entsetzen eine furchtbare Schlange, die tot zu seinen Füßen lag.

»Ich danke dir«, sagte Alfred zum Alten.

»Junger Mensch«, warnte jener mit ernster Miene, »sei in allen deinen Handlungen vorsichtig, sonst wird es dir nicht gelingen, dieses Land zu verlassen.«

»Du weißt also, dass ich kein Sarazene bin?«, fragte Alfred.

»O, ich weiß noch mehr«, entgegnete der Alte und verschwand im Gehölz.

Alfred wäre ihm gerne gefolgt, aber es war Zeit zur Heimkehr. Als ihn wenige Tage darauf die Neugierde wieder zu dem Wäldchen getrieben hatte, traf er den Alten am Stamm eines Baumes sitzend.

»Du suchst mich?«, fragte dieser forschend, welche Frage Alfred voll Überraschung bejahte. »So folge mir«, gebot der Greis, und schritt langsam tiefer in das Gehölz. Er sprach kein Wort.

Eine sanfte liebliche Musik ließ sich hören, welche Alfred im Innersten entzückte. Diese gar liebliche Musik drang immer lauter zu Alfreds Ohren, je mehr sie sich einer Felsenwand näherten, die allmählich seinen Augen sich klarer zeigte. Dort angekommen öffnete sich auf ungeahnte Weise ein Felsstück, und Alfreds Augen bot sich nun eine kleine Tropfsteingrotte, an deren Wänden herum sechs liebliche Jünglinge in tiefen Schlaf versunken schienen.

»Blendwerk der Hölle!«, schrie der Erstaunte und stürzte mit diesem Ruf von einem plötzlichen Schwindel ergriffen betäubt zur Erde.

Als Alfred erwachte, tönte die sanfte Musik noch fort.

Der Alte betrachtete ihn lächelnd, winkte mit einem Stab und sprach: »Frevle nicht, edler Ritter! Sei mir tausendmal willkommen, der du diesen Ort hundertjährigen Zaubers zu betreten würdig bist. Du siehst hier sechs Jünglinge leblos vor dir liegen, die zukünftigen Gatten von sechs verwunschenen Jungfrauen, zu deren Erlösung und Erweckung zu neuem Leben du dich verpflichtet hast.«

Alfred glaubte zu träumen und rieb sich wieder die Stirn. »Woher ist dir das Geheimnis von den schlafenden Jungfrauen bekannt?«, fragte er endlich.

»Aus den Sternen«, war des Alten Antwort.

»Wer sind die Jünglinge?«, fragte Alfred weiter, indessen die sechs Jünglinge auf ein Zeichen des Alten aus ihrem Zauberschlaf erwachten.

»Es sind meine Söhne, die mir mein früh dahingeschiedenes Weib hinterließ. Infolge eines ungerechten Schwures bin ich samt meinen Kindern durch Zauberkraft seit hundert Jahren an diesen Ort schmerzlicher Abgeschiedenheit gebannt, und nur am Jahrestag meiner ehemaligen Vermählungsfeier wurde es mir jedes Mal gegönnt, dieselben ins Leben zurückzurufen, während ich sie die übrige Zeit in schmerzlichster Betrachtung und unendlicher Wehmut totscheinend vor mir liegend hatte. Der einzige Trost, der meine Leiden linderte, war mir die Verheißung, dass nach hundert Jahren dieser Zauber gelöst werden soll, und meine Söhne als Gatten von sechs verzauberten Jungfrauen in überglücklicher Ehe die Buße für des Vaters Schuld ersetzt erhielten. Nun ist dieser glückliche Augenblick der Trennung vor euch, liebe Kinder, erschienen. Mein Geist fühlt, dass er jetzt zur Ruhe reif sei. Wir sehen uns jetzt zum letzten Mal. So will es das Kismet. Gebt mir die Hand zum Abschied und folgt in Zukunft diesem Fremdling. Er wird auch euch dann sicher in den Hafen der Ruhe und des Glückes einführen, und, wie ich voraussehe, in den Schoß der christlichen Religion.«

»Vater, warum willst du uns verlassen?«, fragte ein Jüngling wehmütig.

»Ich wiederhole: Es ist der Wille des unergründlichen Schicksals«, antwortete der Alte mit übernatürlicher Begeisterung. Zu Alfred gewendet fuhr er fort: »Eile ins Serail zurück, damit deine lange Entfernung keinen Verdacht errege. Leb wohl und leite meine Kinder auf dem Pfad der Tugend fort.«

Alfred wollte dem Alten die Hand zur Bekräftigung seines Gelöbnisses reichen, dieser aber verschwand in einem weiß leuchtenden Schimmer.