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Im Goldlande Kalifornien 10

Sophie Wörishöffer
Im Goldlande Kalifornien
Fahrten und Schicksale Gold suchender Auswanderer
Zeitgemäß gekürzt von A. Flügel um 1930

Kapitel 4

Am nächsten Mittag war die gesamte erwachsene Einwohnerschaft von Räuberstadt auf dem mittleren freien Platz versammelt.

Ein Ausrufer mit einer Glocke hatte sie am frühen Morgen hierher beordert, und jeder Einzelne wartete der Dinge, die da kommen sollten.

Um zwei Uhr erschien Semen und wurde mit lautem Hurra begrüßt. »Wir sind alle gekommen«, rief ihm jemand entgegen. »Dein Volk ist versammelt, König Semen.«

Der Mann mit dem durchdringenden Blick lächelte zufrieden. Er bestieg einen etwas erhöhten Punkt, übersah die Menge und sagte: »Ich grüße euch, Kameraden! Unsere Stadt wird zwar ›Stadt‹ genannt, aber diese Bezeichnung verdient sie nicht. Hier baut sich einer eine Holzbaracke, dort einer ein Zelt, während der Dritte unter freiem Himmel schläft. Jeder hackt nach Gold, wo es ihm beliebt, wie sich die Raubvögel versammeln, wo sie eine Beute wittern. Straßen oder auch nur die einfachsten Wege sind unbekannt, tiefe Gruben wechseln mit Anhöhen, staubige Strecken mit Sümpfen. Das Wasser muss aus ziemlicher Entfernung herbeigeholt werden, und von frischem Gemüse oder Früchten gibt es keine Spur. Wir tragen die roten Hemden, bis sie uns in Fetzen von den Schultern fallen. Wir waschen uns selten und lassen Haar und Bart wachsen, wie der Zufall es will. Unsere Füße sind nackt, die Köpfe mit allen möglichen alten Lappen, Matten und Stücken von Baumrinde bedeckt. Nicht etwa, weil wir zu arm wären, um uns anständig zu kleiden -behüte! Es sind ja Hunderttausende in unseren Taschen – wohl aber, weil uns das Gefühl für den Anstand, für Ordnung und Sauberkeit vollständig verloren gegangen ist. Wir schämen uns vor nichts und vor niemand, und das ist der Anfang zum Untergang. Wollen wir da nicht zuerst bei uns selbst anfangen, ehe wir weitere Einrichtungen treffen?«

»Natürlich, natürlich! Man muss Wagen und Pferde anschaffen, um mit San Francisco eine ständige Verbindung zu unterhalten. Wöchentlich einmal lässt man sich alles Nötige hierherkommen.«

»Und errichtet so etwas wie ein Postamt. Alle Briefe nimmt der Bote mit, und die für uns eintreffenden Sendungen bringt er wieder hierher zurück.«

Ein Jauchzen brach sich Bahn.

»Briefe! – Ein Postamt! Semen, kannst du zaubern?«

Aber etliche Goldgräber murrten unverhüllt. »Soll es nicht auch eine Polizei geben, Semen? Eine Stunde, in der man dies nicht tun und jenes nicht unterlaufen darf? Dann hätte man ja das alte Europa mit allen seinen Plagen glücklich wieder zur Stelle.«

»Und bekäme am Ende über Nacht auch gar noch Steuern und Abgaben als Angebinde!«

»So schweigt doch, Leute! Hört ihr denn wirklich schon einmal von einem Gemeinwesen ohne Steuern?«

»Sicherlich nicht. Eine Stadtkasse soll heute noch gegründet werden.«

Das geschah denn auch. Mit großer Stimmenmehrheit wurde die Gründung beschlossen. Auch stellte man sofort die Höhe des wöchentlichen Beitrages fest.

»Tausend Dollar schenke ich freiwillig«, sagte Semen.

»Ich auch!«

»Und wir! Es sollen Gärten, grüne Felder und Wiesen angelegt werden. Ich will Tauben und Hühner sehen, Schafe, Ziegen, Rinder!«

»Und wisst ihr, was wir sonst noch gründen?«

»Man baut zunächst eine Kirche. Ich schenke den inneren Schmuck.«

»Und ich das Holz. In einem Haus muss an Wochentagen Schule gehalten werden.«

»Den Pfarrer hätten wir ja schon. Salomon Marks, willst du den Posten als Prediger und Lehrer übernehmen?«

»Mitbürger«, sagte dieser voller Freude, »ich nehme euer großmütiges Anerbieten mit Vergnügen an. Aber der sonntägliche Gottesdienst und der Unterricht der wenigen vorhandenen Kinder können meine Zeit nicht ausfüllen. Ich bitte euch also, mir auch die Verwaltung des neuen Postamts zu übertragen.«

»Sicherlich. Die Sache ist beschlossen.«

»Ich danke Ihnen, Mitbürger! Ich danke Ihnen tausendmal!«

Semen sah mit Befriedigung auf seine Zuhörer. »Soweit wäre also alles geordnet.« Er zog aus der Tasche ein Buch. »In der Erwartung, dass meine sämtlichen Vorschläge angenommen würden, habe ich deren Inhalt zu Papier gebracht«, sagte er. »Jetzt werde ich euch nochmals alles vorlesen.«

Als das geschehen war, sah er im Kreis umher. »Möge jeder von euch das Protokoll unterzeichnen, meine Freunde. Wir können dann sogleich aus unserer Mitte den Kassierer wählen und auch die beiden Boten, die zwischen hier und San Francisco den wöchentlichen Dienst versehen sollen. Ein Stationshaus auf halbem Wege müssen wir diesen Leuten erbauen.«

»Du denkst doch an alles, Semen! Gib her die Feder!«

Sie drängten sich, in ungeschlachten, oft wenig lesbaren Zügen ihre Namen auf die Seiten des Buches zu setzen. Nur wenige schlugen sich, während die übrigen unterzeichneten, heimlich seitwärts in die Büsche, erbost und grollend, weil es ihnen schien, als solle jetzt die Freiheit in Ketten geschnürt und das Recht an allen Ecken und Enden geschmälert werden. Als Davidoff und Nikita an die Reihe kamen, das Schriftstück zu unterzeichnen, weigerten sie sich.

»Was kümmern mich die zukünftigen Verhältnisse dieser Stadt?« grollte der Alte.

»Aber du und dein Sohn seid doch so gut wie alle übrigen Bürger und Bewohner derselben«, versetzte Semen. Ein halb ärgerlicher, halb fragender Blick traf den seinen. »Weil du uns zwingst, hier wider unseren Willen zu bleiben«, war die Antwort. »Wer gibt dir das Recht, uns festzuhalten, Semen?«

»Die Sache mit dir und deinem Sohn war verdächtig. Da im Krieg alles Verdächtige Beobachtung erfordert, habe ich euch beide gezwungen, einstweilen noch vierzehn Tage unter Bewachung zu bleiben. Dann wird ein Wagen euch nach San Francisco bringen, von wo aus ihr den weiteren Weg nach Europa antreten könnt.«

Davidoff schlug mit der geballten Rechten in die flache linke Hand. »Das will ich nicht!«, kreischte er. »Du darfst mir kein Hindernis in den Weg legen, wenn ich es vorziehe, heute schon fortzugehen.«

Semen wandte sich ab, ohne den erbitterten Mann einer weiteren Antwort zu würdigen. Die Versammlung war auseinandergegangen, und nur noch wenige Leute beeilten sich, ihre Namen der Liste hinzuzufügen. Dann ging Semen zum Lazarett, um nach den Verwundeten zu sehen, während Davidoff und Nikita in ihren Holzverschlag zurückkehrten.

Der Alte warf sich auf das Strohlager und schlug die Hände vor das Gesicht. Aus seiner Brust drang ein lautes Ächzen und Stöhnen. Nikita ging an die Arbeit, weil er von seinem geizigen Vater nie Taschengeld erhielt und doch den Spielhäusern nicht fernbleiben mochte. Der Alte dagegen wälzte sich ruhelos auf dem Lager hin und her, Feuer im Kopf und im Herze.

»Bewacht!«

Er wurde bewacht! Eines Tages stand vor der Tür ein Wagen. Man sagte ihm: Jetzt steige hinauf, du musst fort! Dann blieb das Gold hier, und wer es dereinst auch finden mochte -ihm war es ganz gewiss verloren.

Davidoff ächzte vor Qual. Nein, nein, er durfte sich von hier nicht entfernen, er musste scheinbar seinen Entschluss ändern und den weiteren Verlauf der Dinge abwarten, er musste besonders Semens Verdacht zu entkräften suchen.

Etwas mehr Ruhe kam in seine Seele. Am anderen Morgen wanderte er auf den Arbeitsplatz hinaus. Die Pfanne schien ihm heute hundert Pfund schwer. Ihr Gewicht drückte ihn schier zu Boden.

Fast alle Miner arbeiteten an diesem Nachmittag zum ersten Mal wieder draußen in den Gruben. Bisher hatten sie den Virginiern und denen aus Hängestadt geholfen, dem zerstörten Ort ein Ansehen zu geben und besonders eine Anzahl von Blockhäusern zu erbauen. König Semen hatte Holz gekauft. Er wollte der Stadt die öffentlichen Gebäude schenken und außerdem für sich und die einen ein großes Familienhaus erbauen. Da kam auch schon aus San Francisco ein hochbeladener Wagen mit Fahnenstangen, Flaggen, Kochöfen, Möbeln und Geräten, mit Stoffen, lebendem Geflügel und Sämereien, alles, da die Hound vertrieben waren, heiß begehrt und verkauft, ehe noch alle Einwohner erfahren hatten, dass es überhaupt vorhanden sei.

Der Händler schmunzelte sehr vergnügt. In San Francisco lagen zwei große Schiffe, die aus New York gekommen waren, um den Goldgräbern alle möglichen Bedarfsartikel zuzuführen. Schon in sechs bis acht Tagen konnte neue Zufuhr am Platz sein.

Noch ehe der Abend hereinbrach, war das Haus des neu erwählten Geistlichen der Stadt im Bau vollendet, und Salomon Marks hatte in aller Form davon Besitz ergriffen. Die Bewohner der Stadt sahen mit lebhaftem Vergnügen auf ihr neu geschaffenes Werk. »Wenn erst die Kirche danebensteht«, meinte einer, »wird das Ganze einen sehr stattlichen Eindruck machen.«

»Bis zum Sonntag könnte sie wohl fertig sein, ihr Leute?«

»Hm – wenn einige Männer mehr zugreifen.«

»Ich!«, meldete sich jemand. »Und ich! Und ich!«

»Mein Sohn und ich möchten gern helfen!«

Die Umstehenden schüttelten die Köpfe. »Du, Davidoff? Aber wolltest du nicht abreisen? War dir nicht das Leben in Räuberstadt völlig zuwider?«

Der Alte wandte in seiner scheuen Weise den Blick. »Ich habe mich mit Semen Kinski verständigt«, sagte er. »Ich bleibe hier.«

Etliche lachten ihm gerade ins Gesicht. »Und nun musst du gleich beim Kirchenbau helfen und zahlst Beiträge in die Gemeindekasse?«

Davidoff schwieg und ging an die Arbeit.

Semen bemerkte unter den Umstehenden seinen Bruder und winkte ihn zu sich heran. »Ist dir irgendetwas Unliebsames begegnet?«, fragte er. »Du siehst so traurig aus.«

»Ich möchte nur wissen, ob sich Arsa wieder bei Felsing befindet. Beide haben heute wieder nicht gearbeitet.«

Semen nickte. »Lass das nur gut sein, Kasimir, das wird sich ändern. Felsing soll erfahren, dass es hier für Windbeutel keine Stätte gibt. Doch möchtest du nicht ein wenig mit mir hinab zum Flussufer gehen?

Kasimir willigte ein.

Vor den langsam dahinschreitenden Männern lag der breite, von hohem Schilf umsäumte Fluss, an dessen flacheren, sandigen Nebenarmen die Goldwäscher unten in der Stadt ihre mühsame Arbeit betrieben. Hier oben wuchsen die grünen Wälder im ungestörten Frieden empor. Uralte, zum Teil ganz schrägliegende Weiden neigten sich über den Wasserspiegel herein und schaukelten im Abendwind ihre weiß schimmernden Laubkronen. Einen dieser Stämme hatte Semen ins Auge gefasst.

»Dort drüben der graue hohle Riese behütet einen Teil meiner Schätze«, flüsterte er. »Freilich nur den geringeren.«

»Hast du, seit wir hier sind, schon einmal Nachschau gehalten, Semen?«

»Natürlich! Womit wären sonst das Holz und so manches andere bezahlt? Komm nur, ich will dir meine Niederlage vollwichtiger Goldkörner einmal zeigen! Später sollst du dann auch den Hauptvorrat sehen.«

»Wollen wir denn heute Abend das Gold mit nach Hause nehmen?«

»Teilweise, ja. Ich will diesem Felsing zweimal hunderttausend Taler geben, um die er mich bat.«

»Das Geld ist weggeworfen, Semen.«

»Hm – wer weiß? Ein guter Kern steckt doch in dem Schlingel. Aber selbst wenn die Summe verloren ginge, so macht das ja nicht sonderlich viel aus. Im zweiten Behälter stecken noch Millionen.«

Kinski antwortete nicht. Er half seinem Bruder, den verwitterten Baumstamm zu erklettern und sah dann, wie Semen ein zusammengelegtes Büffelfell aus einer Höhlung in der Krone hervorzog und mit lächelndem Blick ihm zunickte.

»Alles wohl verwahrt, Kasimir. Kannst du fangen?«

Statt der Antwort hob Kinski die zusammengelegten Hände empor, und in der nächsten Minute flog ihm ein großer, runder Ballen entgegen. Ein buntscheckiges Wolfsfell, stramm angefüllt mit Goldkörnern, war am oberen Ende zusammengebunden und barg in seiner Mitte den goldenen Schatz.

Zehn solcher Bündel warf Semen herab. »Das ist genug für heute«, rief er vom Baum her dem anderen zu.

»Liegt denn wirklich noch mehr da oben versteckt?«

»Hoho! Der Stamm ist gefüllt bis zum Boden!«

Und Semen sprang, nachdem er das kostbare Nest wieder gut verdeckt hatte, gewandt zu Boden. »Du nimmst fünf Beutel«, sagte er, »und ich ebenso viele. Begleite mich jetzt in die Berge, da liegt der größere Vorrat.«

»In den Bergen?«, fragte Kinski. »Also ganz an der anderen Seite der Stadt?«

»Natürlich. Sollte mir das eine geraubt werden, so blieb doch das andere.«

Sie gingen am Flussufer dahin, und dann, nachdem das Gold ins Wohnhaus gebracht worden war, durch den herrlichen Abend bis zu den Bergen, deren höchste Spitzen das Sonnengold noch umspielte, während die tieferen Partien bereits im Schatten lagen.

Schweigend gingen die beiden Männer weiter in die verschlungenen Pfade des Gebirges hinein. Hier herrschten Dunkelheit und Stille. Semen hatte eine kleine Blendlaterne mitgebracht. Diese entzündete er nun.

»Hier ist es!«, sagte er, indem er endlich aufatmend stehen blieb und einen Felsblock mit ausgestreckter Hand berührte. »Ich habe ein Kreuz hineingeritzt. Siehst du es?«

Sein Bruder nickte.

Semen hob die Lampe und schlug das verhüllende Blech ganz zurück. »Komm, Kasimir, du musst helfen, der Stein ist schwer – dafür sollst du dich im Gold baden, sollst …«

»Ach, Semen, wenn du schweigen wolltest!«

Mit vereinten Kräften wurde der Stein hinweggewälzt, und nun fielen die Strahlen der Laterne auf einen dunklen, ziemlich niedrigen Eingang. Semen ging voraus.

»Komm, Kasimir, es ist nirgends ein Hindernis!«

Aber dann, schon nach Sekunden, tönte aus dem Innern der Höhle der Schreckensruf: »Mein Gott, mein Gott, was ist das?«

Kinski stand hinter seinem Bruder und nahm aus dessen sinkender Hand die Laterne. »Ach, Semen, Semen, ist denn das Gold gestohlen?«

»Fort«, bebte es über des Beraubten Lippen. »Fort! Mein Gott, wer mag das Geheimnis entdeckt haben?«

Als der erste lähmende Schreck überwunden war, sagte Semen gepresst: »So muss ich wieder von vorne anfangen! Das ist ein schwerer Schlag. Aber er darf mich nicht zu Boden werfen. Meine Pläne sollen trotzdem zur Ausführung kommen.«

»Wir alle werden dir beistehen«, tröstete Kasimir, »das Gemeinwesen hebt sich von Tag zu Tag, und im allerschlimmsten Fall erleiden doch deine Hoffnungen höchstens einen kurzen Aufschub.«

Semen wiegte zweifelnd den Kopf. »So wie in den Tagen des ersten Anfanges wird die Ausbeute nie werden«, antwortete er. »Unter meinen Körnern befanden sich Stücke von Faustgröße. Das ist auf immer dahin. Komm, wir haben hier nichts mehr zu suchen. Morgen mit Sonnenaufgang siehst du mich bei der Arbeit. Ich werde mit Schaufel und Pfanne neu beginnen.«

»Darf ich dir einen Rat geben?«, fragte Kasimir.

»Nun?«

»Lass uns das Gold aus dem Weidenbaum ganz herausholen und mit nach Hause nehmen. Es könnte sonst vielleicht auch noch gestohlen werden.«

»Du hast recht«, entgegnete Semen.

Sie gingen zurück. Es wurde Abend, bis der ganze Goldschatz aus dem Baum gehoben war.

Als sie sich schwer beladen der Stadt näherten, lag der Ort tot und dunkel da. Kein Licht brannte mehr in den Häusern, selbst die Musik der Spielsäle schwieg. Ein kühler Wind fuhr über das Wasser und ließ die beiden Männer fröstelnd zusammenschauern.

»Ich glaube, dass noch einige Vorsicht geboten ist«, flüsterte Semen.

Er ging voraus und sah hinter jedes Zelt, jede Baracke – es regte sich nichts. Dann, als keine Gefahr drohte, nahmen beide Brüder das schwere Bündel und trugen es ohne eine Störung nach Hause.

Am anderen Morgen sahen die Goldgräber den Mann, den sie König Semen nannten, mit Hacke und Pfanne bei der Arbeit. Er hatte sich durch die gewohnten vier Pflöcke ein Gebiet abgegrenzt und für seinen Bruder, Arsa, Boris und Dubois die gleiche Anordnung getroffen. Rings im weiten Halbrund zogen sich diese Arbeitsplätze an der Außenseite der Bergwand dahin.

Semen war außerordentlich blass und ernst. »Es ist doch schwer«, sagte er, »so gleichsam mit einem Ruck an den Anfang des Weges zurückgeworfen zu werden. Ich hatte ans Ausruhen gedacht – nicht von der Arbeit, aber von der Sorge.«

Dann nahm er wieder das Wort. »Arsa ist noch nicht zu sehen.«

Kinski erstickte einen Seufzer. »Und ebenso wenig dieser Windbeutel von Felsing«, fügte er hinzu. »Sechs Hasen haben die beiden gestern Abend erlegt und einen stattlichen Hirsch. Das ist so recht Arsas Herzensneigung, alles nach Belieben einzurichten und ganz besonders recht lange zu schlafen.«

Semen lächelte ruhig. »Mit Felsing werde ich reden«, sagte er dann.

Als er und sein Bruder zum Frühstück nach Hause gingen, lag der junge Hamburger im Schatten der Wand auf einer Decke und rauchte eine Zigarre. Dabei drehte er gelegentlich einen Spieß, an dem Frau Kinski den gespickten Hirschziemer briet. Außerdem erzählte er Schnurren, bei denen seine Zuhörer laut lachten.

Arsa pflückte Trauben von den Stielen, immer gewissenhaft die schönsten Früchte in den Mund und die minderwertigen in den Suppentopf.

»Heute Abend gehen wir wieder auf die Jagd«, rief er gerade, als Semen durch sein Erscheinen die Gemütlichkeit des kleinen Kreises störte.

Ein ironischer Blick traf ihn und den jungen Hamburger, der sogleich aufsprang und eine minder lässige Haltung annahm.

»Ich möchte wirklich nicht stören«, sagte Semen in unverkennbar spöttischem Ton.

»Sechs Hasen, Onkel!«, rief Arsa. »Sieh dir die Beute nur einmal an!«

»Das hat noch Zeit, mein Junge. Vorerst möchte ich mit Herrn Felsing eine kurze Unterredung haben.«

Der junge Hamburger warf die Zigarre weg. »Ich stehe Ihnen zu Diensten, Mister Kinski«, sagte er.

Semen nickte. »Vielleicht setzen wir uns drüben auf die Bank«, fuhr er fort.

Felsing fühlte, dass ein Unwetter im Anzug sei. Er schwieg, bis der Goldgräber das Wort ergriff.

»Es wird Zeit, Ihnen gegenüber mein gegebenes Versprechen zu erfüllen, Herr Felsing«, begann Semen. »Sie sollen das versprochene Gold im Wert von zweimal hunderttausend Talern heute noch erhalten, aber ich stelle zuvor einige Bedingungen.«

»So nennen Sie mir diese ohne Umschweife, Sir.«

»Das werde ich, obwohl allerdings der Ton, in dem Sie das verlangen, etwas Befremdendes hat. Und so hören Sie mich denn, Herr Felsing! Sie müssen von dieser Stunde an die regelmäßige Arbeit in den Minen beginnen, müssen wie alle übrigen Bewohner der Stadt ihre Steuern bezahlen und sich den Gesetzen unterwerfen. Wollen Sie das?«

Felsings Augen funkelten. »Letzteres erscheint mir selbstverständlich«, antwortete er im abweisenden Ton.

»Und wie wollen Sie es mit der Arbeit in den Minen halten?«

»Von Arbeit in den Minen kann bei mir keine Rede sein. Mein Vorhaben ist, wie ich Ihnen früher schon sagte, ein Geschäft zu gründen.«

»Ein Spielhaus natürlich?«

»Das ist wohl lediglich meine eigene Sache, Sir.«

Semen erhob sich. »Da haben Sie recht, Herr Felsing«, sagte er. »Bis morgen Abend lasse ich Ihnen Zeit, sich das alles ruhig zu überlegen. Sie arbeiten in den Minen, und ich leihe Ihnen die Summe, deren Sie bedürfen, oder aber Sie ziehen es vor, auf das gute Glück hin weiter zu leben, und dann allerdings haben wir beide miteinander nichts zu schaffen.«

Semen Kinski ging fort, ohne sich weiter umzusehen.

Am anderen Morgen arbeitete Semen wieder in den Minen. Arsa war auch dabei. Unter der Hacke hervor rieselten kleine, runde Körner, erst nur wenige, dann immer mehr. Es glitzerte goldig im Sonnenschein, die Flut wuchs. Als Arsa mit schnellem Ruck das halb abgetrennte Felsstück losbrach, da war die »Tasche«, das Nest mit den kostbaren Eiern, bloßgelegt.

Alles Blut schoss in Arsas Gesicht. »Oh!«, stammelte er. »Oh!«

Semen fuhr mit der Hand unter die Goldkörner. »Wenig gerechnet fünftausend Dollar!«, sagte er. »Der Wert ist dein alleiniges Eigentum, mein Junge.«

Die Worte scheuchten plötzlich den Zauber, der Arsas Seele während einiger Minuten umfangen gehalten hatte. »Sein Eigentum?« Ach, der Vater würde ja das Geld in Verwahrung nehmen und ihm selbst keinerlei Verfügungsrecht gestatten, das wusste er nur zu gut.

Wieder schwieg er, nun sogar mit rebellischen Gedanken kämpfend. Es gab in Räuberstadt so manchen Burschen, der, nicht älter als er selbst, ganz auf eigene Faust hierher gekommen war und dem kein Sterblicher Gesetze vorschrieb. Weshalb sollte ihm denn weniger Freiheit zuteilwerden?

Sein Onkel ließ ihn nicht von sich. Nach dem Abendessen ging er mit ihm aus, um einige Jagdgewehre zu kaufen, und dann erst konnte Arsa entschlüpfen. Das Gold hatte natürlich sein Vater an sich genommen und verwahrt.

Voller Verdruss spähte unser Freund umher. Wo war Felsing? Aber dieser schien verschwunden. Selbst in den Spielhäusern suchte ihn Arsa vergeblich. Niemand hatte den jungen Leichtfuß gesehen.

Arsa empfand eine geheime Unruhe. Ob Paul der ungastlichen Stadt für immer den Rücken kehren und sich einer anderen Kolonie zuwenden wollte?

Hätte er seinen Freund gesehen, so würden ihm derartige schwarze Gedanken nicht gekommen sein. Felsing lag währenddessen am Flussufer im Gras und rauchte behaglich eine Zigarre.

Arsa hatte den ganzen Tag vergeblich gehofft, dass ihm sein Vater von dem reichen Fund wenigstens einen kleinen Teil zur Verfügung stellen werde. Es war aber nichts dergleichen geschehen. Er ging wie immer ohne Geld umher, und während andere, vielleicht noch längere, die Taschen voll von schimmernden Goldstücken mit sich trugen, besaß er selbst keinen Dollar, um Tabak zu kaufen.

Am Abend machte er sich auf, um seinen Freund wenigstens für einige Augenblick wiederzusehen. Vielleicht ging Felsing ganz von hier fort – und dann wusste Arsa noch nicht, was geschah.

Gegen elf Uhr, als alles im Haus schlief, erhob er sich von seinem Lager und begab sich auf die Suche nach dem Freund. Gewiss finde ich ihn in einem der Spielhäuser, dachte er. Und richtig! Schon im nächsten fand er ihn. Auf dem Tisch drehte sich knarrend ein rundes Brett, und hinter diesem saß ein Mann, der mit habgierigem Gesichtsausdruck die jedesmaligen Schwingungen beobachtete. »Rot!«, tönte es von seinen blutlosen Lippen, und dann wieder: »Schwarz!« Entweder zog er die Einsätze der Spieler an sich oder er bezahlte selbst, Letzteres immer mit einem Murmeln, das nicht sehr freundlich klang.

Tausende, ja Zehntausende gingen hier im Verlaufe weniger Minuten aus einer Hand in die andere.

Und da, ganz am unteren Ende des Tisches, saß Felsing. Sein hübsches Gesicht glühte vor Aufregung, seine Hand schien zu zittern. Ihm wurde eben ein bedeutender Gewinn ausgezahlt. Er hatte nicht weniger als drei Haufen Gold vor sich auf dem Tisch liegen.

»Da bist du ja«, lächelte Felsing, indem er Arsa die Hand entgegenstreckte. »Setz mit mir auf die rote Karte, Arsa, sie hat Glück.«

Unser Freund schüttelte den Kopf: »Ich will nicht spielen, Paul.«

»Weshalb nicht, Junge? Ich leihe dir Gold, soviel du nur wünschst. Schnell, wir müssen unseren Einsatz machen.«

Arsa hatte seinen Platz in der Reihe neben dem jungen Hamburger erhalten, er wusste selbst nicht wie. Jetzt bezahlte Felsing den doppelten Einsatz, die rote Karte gewann, und der Bankhalter schob mit sauersüßer Miene den Gewinn über den Tisch.

»Zweihundert Dollar, Sir.«

Felsing teilte die Summe in zwei Hälften. »Hier, Arsa, hundert Dollar gehören dir.«

»Was?«

»Natürlich. Ich habe ja für dich mit eingesetzt.«

Und dann nahm er im Augenblick von unserem Freund keine Notiz mehr. Schon wieder wurde ihm ein bedeutender Gewinn ausgezahlt. Sein Gesicht glänzte vor Vergnügen.

»Vorwärts, Arsa«, sagte er. »Lass doch die Leute nicht sehen, wie sehr du noch Neuling bist.«

Arsa wechselte die Farbe. Seine Eitelkeit war an ihrer empfindlichsten Stelle berührt worden.

»Hundert Dollar für Rot!«, rief er.

»Bravo!«, flüsterte Felsing.

Rot gewann, und wieder klirrten die Münzen vor Arsas Platz auf dem Tisch.

»Jetzt Farbe wechseln«, raunte ihm Felsing zu, indem er auf Schwarz setzte.

»Nein, ich bleibe bei Rot.«

Die Scheibe drehte sich. Rot hatte gewonnen. Felsing erbleichte. »Ein erster Fehlschlag«, sagte er halblaut. »Dann wieder Rot.«

»Dann setze ich auf Schwarz.«

Schwarz gewann. In wenigen Minuten lagen Tausende vor Arsa aufgestapelt. Er gewann und gewann, während Felsing immer mehr verlor. »Paul«, sagte Arsa mit unsicherer Stimme, »es scheint, als brächte ich dir Unglück.«

»Ach, Unsinn! Aber letzt gilt’s! Ich will die Bank sprengen!«

»Paul, überlege, was du tust.« Es klang beklommen.

Ein Kopfschütteln antwortete Arsa. »Was gibt es da zu überlegen? Wer nicht wagt, gewinnt auch nicht.«

»Aber du könntest auf einen Schlag ruiniert werden.«

»Dann leihst du mir von dem deinen. Vorwärts!«

Der Einsatz wurde bezahlt, und dann erklang die Stimme des Bankhalters. »Schwarz hat verloren!«

»Ah! Verloren!«

Es sah aus, als wolle Felsing aufspringen und den Bankhalter zu Boden schlagen, aber nur wenige Sekunden lang, dann mäßigte er sich und sank mit einem erzwungenen Lächeln in seinen Stuhl zurück und spielte weiter und verlor und verlor. Ohne viel zu fragen, riss er Arsas Gewinn an sich und suchte mit dessen Hilfe das Glück zu zwingen. Allein es nutzte nichts. Bald war der letzte Cent vertan.

»Leihe mir Gold«, hauchte Felsing.

»Wenn es möglich wäre – gewiss!«

»Möglich«, Felsing lachte höhnisch auf. »Möglich, wo du heute eine ›Tasche‹ gefunden hast – das Bold gehört dir – und wenn dein Vater es dir auch abgenommen hat. Hole es! Sei kein Kind! Du schleichst nach Hause. Alle schlafen doch – und du nimmst das Gold. Nichts einfacher als das!«

Arsa wurde blass und rot. »Und wenn mein Vater erwachen sollte, was dann?«

Felsing lächelte in einer Weise, die den Betörten mehr reizte als stundenlanges Reden.

Arsa blickte zur Seite. Dann fragte er zögernd: »Bleibst du hier, bis ich zurückkomme?«

»Selbstverständlich. Verlasse dich darauf.«

Sie wechselten noch einen Händedruck, und dann eilte Arsa schnellen Schrittes davon. In wenigen Minuten hatte er den Weg zurückgelegt. Er schlüpfte in das Haus und glitt nahe an die Lagerstätte des Vaters. Kinski schlief ganz fest. Einen Augenblick schwankte Arsa. Sekundenlang schien es, als warne ihn ein guter Geist. Sollte er wirklich das Gold nehmen?

Aber Felsings Lächeln! – – Und schon fuhr die Hand in den Kasten hinein, in dem sein Vater das Gold aufbewahrte. Lauter einzelne Beutel aus Fellen! Das war Onkel Semens Gold. Er wusste es. Die tastenden Hände ergriffen den Rand eines Filzhutes, sie tauchten tiefer und fanden im Innern das gesuchte Gold. Arsa drückte den formlosen Filz zusammen, schlich aus der Tür und eilte in den Spielsaal zu Felsing zurück. »Nun, Arsa, hast du das Gold?«

»Hier ist es, Paul.«

»Gib her, Kind! Du bist ein lieber Junge!«

Er stopfte so eilig die Körner in seine Taschen, dass rechts und links das edle Metall zu Boden fiel. »Jetzt komm, Arsa. Du wirst sehen, dass ich nach einer Viertelstunde in der Lage bin, dir dein Kapital zurückzuzahlen.«

»Das glaubst du, Paul?«

»Davon bin ich fest überzeugt.«

Und weiter ging das Spiel. Höher und höher wurden die Einsätze, immer höher häufte sich das Gold vor des Bankhalters Platz. Immer leerer wurde Felsings Tasche.

Nichts mehr da – kein einziges Goldkorn. Auch das Letzte verloren! Zähneknirschend sprang Felsing empor und suchte nach einem Gegenstand, um ihn dem Bankhalter ins Gesicht zu schleudern. Andere sprangen dazwischen, ein wüster Lärm entstand. Es währte nicht lange, so wurden Paul und Arsa auf die Straße gedrängt.

Felsing hatte die Hände vor das Gesicht gepresst.

Er weinte. »Auf Wiedersehen, Kleiner«, keuchte er, »der Bankhalter – dieser Schuft – aber ich kaufe ihn mir noch – er soll … er soll …« Ein Drohen in die leere Luft vervollständigte den abgebrochenen Satz.

Wie Feuer rann es durch Arsas Adern, als er heimschlich. Sein Herz pochte sehr laut. Ob die seinen noch schliefen? Im Osten tagte es schon. In einer Stunde waren die Eifrigsten der Goldgräber, waren der Vater und Semen schon bei der Arbeit.

Vorsichtig öffnete Arsa die eingeklinkte Tür, schlüpfte in die Kammer, in der Jegor und Ossip schliefen. Er warf sich neben ihnen auf das Stroh.

Als sein Vater später kam, ihn zu wecken, kehrte er das Gesicht gegen die Wand. Geschlafen hatte er noch keine Sekunde.