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Dr. LeStons Kabinett der seltsamen Szenarien

Dr. LeStons Kabinett der seltsamen Szenarien

»Ich weiß schon nicht mehr genau, wie all das, was ich hier zu berichten beabsichtige, eigentlich begonnen hat und kann auch nicht im Geringsten abschätzen, wann dies enden wird. Jedoch befürchte ich, dass ich den Schrecken und meine Verstrickung, in Form etlicher widersinniger Handlungen meinerseits, darin nur äußerst unzureichend für meine Hinterbliebenen beschreiben und erklären kann. Weshalb ich auch auf keinerlei Verständnis oder gar mildtätiger Gnade durch meine durch mich derart geplagten Verwandten oder meine Mitmenschen hoffen kann und werde. Ich vermag es nur alleine hier an dieser Stelle so gut und verständlich wie möglich darzulegen, was mir aber aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gelingen mag, doch die Entscheidung darüber liegt nun nicht mehr in meinen Händen. Denn wenn man mich dereinst mit, von unzähligen Schrotkügelchen, zerschossenem Schädel hier am Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer finden wird, liegt auf diesem dieses Manuskript hier und nichts aber auch rein gar nichts ist noch von Belang für mich oder besser meinen kalten und steifen Körper …«

Auszug aus: Seit ich mich entsinnen kann …

Mit dieser Horror-Kurzgeschichte debütierte am 26. August 2010 Bernar LeSton, damals noch unter seinem Pseudonym Nachtschatten, für den Geisterspiegel. Es folgte am 22. Oktober 2010 die Kurzgeschichte Im Sande verlaufen. Zu jener Zeit wusste ich noch nicht, wer sich dahinter verbirgt. Ob zufällig oder nicht: Das erste Zusammentreffen gab es auf dem MarburgCon 2014 im Bürgerhaus von Niederweimar. Während dieses Events erfuhr ich in einem interessanten Gespräch mit Bernar, dass ihm gerade das Schreiben von Kurzgeschichten aufgrund ihrer geringen Komplexität im Aufbau und den wenigen Handlungsebenen fasziniert. Dass Bernar schreiben kann, stellt er mit 45 skurrilen Kurzgeschichten in Dr. LeStons Kabinett der seltsamen Szenarien, herausgegeben von Peter Emmerich, unter Beweis.

Das Buch

Peter Emmerich (Hrsg.)
Dr. LeStons Kabinett der seltsamen Szenarien
Kurzgeschichtensammlung, Taschenbuch, CreateSpace Independent Publishing Platform, Juli 2015, 172 Seiten, 8,95 Euro, ISBN 9781514219157, Cover und Cover-Layout: Beate Rocholz
Kurzinhalt:
45 skurrile Häppchen
am Tellerrand der Realität, gewürzt mit einer Prise Phantastik und einem herzhaften Schuss des Unglaublichen!
Wenn Der beschworene Schreiber nur Verlorene Wortlosigkeit hervorbringt
und Der Schatten des bösen Füllers den Schreibfluss beeinträchtigt …
Wenn Schüsse, die nach hinten losgingen, trotzdem Mitten ins Schwarze trafen
und Der letzte Schluck auch Das Ende eines Rufmords heraufbeschwor …
Wenn Die Zeit vergeht wie das Leben
und Sie noch Zu jung zum Sterben sind …
… dann könnte eine Soirée im Kabinett des Dr. LeSton ganz nach Ihrem Geschmack sein.

Der Autor

Der 1965 geborene Bernar LeSton ist da zuhause, von wo aus er stets den Park der Freifrau Wilhelmine von Verna im Auge hat. Die eigenwillige Adlige erwarb sich zu Lebzeiten bereits einen zwiespältigen Ruf, wegen dem sich inzwischen unzählige Geschichten um sie und diese verwunschene Grünanlage ranken. Es fehlte gerade, dass sich dort heute noch des Nachts Feen, Geister und Kobolde herumtrieben.

So ganz glauben mag der passionierte Nachtportier diesen Märchen und Legenden beim Schreiben seiner Kürzest- und Kurzgeschichten nicht.

Doch was, wenn er sich irrte und die Aussage eines weisen Mannes zuträfe, dass man bei jeglicher Skepsis getrost ein Quäntchen für den Glauben an das Unwahrscheinliche bereithalten sollte, damit man am Ende nicht gar noch vom Okkulten überrascht würde. Das könnte ja durchaus verheerend enden, oder?

2010 begann Bernar LeSton seine schreiberische Aufarbeitung mit dem Thema, seit Anfang 2013 veröffentlicht er mit wachsendem Interesse in Anthologien und wagt sich nun im nächsten Schritt an eigene Lesungen. Zeitgleich arbeitet er an seinem ersten Roman, der eine Mischung aus Western und Steampunk mit einem Hauch gotischen Horrors würzt. Die Geschichte spielt im Neuf-Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts – jedoch in einem Paralleluniversum – und trägt die Züge der amerikanischen Pulp-Romane der 1930er Jahre.


Leseproben

Ein neuer Anfang?

Der Autor hatte sich bereits die ganze Nacht und den halben Tag damit herumgeplagt, nicht zu wissen, was er als Nächstes schreiben sollte.

Plötzlich begannen die Ideen zu sprudeln, die ersten Worte flogen ihm wie von Zauberhand zu und erfreut begann er niederzuschreiben, was ihm in den Sinn kam.

Ein paar Protagonisten klopften munter an seiner Schädeldecke an und er öffnete ihnen bereitwillig Tür und Tor, um sie einzulassen. Ebenso verfuhr er mit den Antagonisten, die gleichsam in Scharen herbeigeeilt kamen und mir nichts, dir nichts in seinen Kopf hineinspazierten.

Dort ließen sie sich häuslich nieder und begannen zügig die Gegend zu erkunden. Aber nicht alle Orte, die der Autor erfunden hatte, waren ihnen angenehm genug. So begannen sie, immer mehr an der eigens für sie erschaffenen Welt zu verändern. Da der Schreibende jedoch ein Mensch mit einem regen Interesse an Ruhe war und sich nichts sehnlicher wünschte, als dass sie hier friedlich zusammenleben mochten, sah er großzügig darüber hinweg und schrieb hurtig weiter.

Nach der Einführung der Charaktere, mit denen alles begonnen hatte, wrang er sich nun die Handlung aus dem Gehirn und alles schien in bester Ordnung zu sein.

So entwickelte sich die Geschichte prächtig weiter, aber plötzlich war dies den Romanfiguren nicht mehr genug. Jetzt kamen sie damit an, dass alles, was sich ihr Schöpfer vorzustellen in der Lage war, zu sehr an den Haaren herbeigezogen klang. Es war den Herrschaften schlicht und ergreifend zu fantastisch geworden.

Sie wären ja hier nicht bei Jules Verne oder Karl May, erdreisteten sie sich dem Autor erbost mitzuteilen. Und kein einziges neues Detail, welches dieser ihnen andichten wollte, fand nunmehr ihre Zustimmung. Als Ersatz-Passepartout oder Winnetou für Arme würden sie in der Welt der Literatur zurückbleiben, wo jedes Kind sie auslachen oder zumindest als schlechten Witz ansehen würde.

Dies sei nicht das Los, welches ihnen vom Schicksal vorbestimmt sei, riefen sie voller Bitternis.

Nein, nein. Niemals!

Der Schreiber ihrer Geschichten überdachte die Worte der von ihm erschaffenen Figuren. Natürlich war er über ihre Reaktion nicht erfreut, aber konnte er ihnen böse sein?

Nein. Nein. Natürlich nicht!

Und als ihn einige besonders vertrauensvolle Hauptcharaktere zu einem Frieden stiftenden Gespräch in vertrauter Runde mit Kaffee und Kuchen einluden, war er sehr froh darüber. Der Schöpfer der Romanfiguren war von solch offener Art und Weise, wie die vormals murrenden Charaktere nun auf ihn zugingen, völlig ergriffen. Da keimte Hoffnung in ihm auf, obschon er seine Romanfiguren auf immer verloren geglaubt hatte. Flugs verging der Nachmittag in bester Laune mit schmackhaftem Kuchen, Tee oder Kaffee und bei interessanten Gesprächen über spannende Themen.

In der Zwischenzeit brachen die üblen Burschen, die verschrobenen Gestalten und die grobmotorischen Gehilfen der großen Antagonisten die Aktenschränke des Autors auf, die voller Schnapsideen, Vorplanungen und bereits fertiger Charakterbögen waren, und warfen sie allesamt in die Mitte seines Arbeitszimmers. Hasserfüllte Blicke begleiteten die Bewegungen ihres Anführers, als er aus der Innentasche seines Mantels eine Schachtel Streichhölzer kramte. Dann schüttelte er sie und die wild gewordene Meute um ihn herum schrie und brüllte wegen all des Ramsches, der da vor ihnen lag, vor Abscheu auf.

Der Mann im schwarzen Mantel schob die Schachtel auf, fischte eines der langen Hölzchen heraus und riss es an. Sofort loderte es auf und fiel, begleitet von aufbrandendem Jubel mitten in den Papierhaufen. Auf der Stelle glimmte es dort und es roch nach verbrannten Seiten. Das Knacken und Knistern, welches den traurigen Moment untermalte, verstärkte die Freude über ihren vermeintlichen Sieg. Doch so einfach, wie die aufmüpfigen Charaktere es sich vorgestellt hatten, war es leider nicht.

Ein dünner Mann, der im Kreis ganz hinten stand, begann zu wimmern. Ein anderer, der sich auf der gegenüberliegenden Seite befand, heulte auf und eine kleine Frau, die tausend Augen hatte, schrie wie am Spieß.

Eine Gestalt nach der anderen fing Feuer. Selbst die, welche sich weit von dem brennenden Haufen entfernt befanden, in dem die hingeworfenen Ideen des Autors verglühten. Mancher Charakter, schon fast bis zur Unkenntlichkeit versengt, versuchte sich mit Gewalt einen Fluchtweg zu bahnen. Aber keiner von ihnen kam weiter als bis zur offenen Tür, durch die bereits der Duft der Freiheit zu wehen schien. Je näher ihr die Fliehenden kamen, desto rascher gingen sie in Flammen auf.

Sekunden später war der ganze Spuk vorbei.

Der große Haufen Blätter war verschwunden und die erfundenen Figuren und Geschichten des Schreibers ebenso.

Etliche Hundert Schritt entfernt saß der Autor noch immer am Tisch. Nur mehr allein und mit traurigen Augen, deren Tränen nicht einmal dazu gereicht hätten, um wenigstens seine Lieblingsfigur zu retten.

Also leerte der Buchstabenverdreher, Silbenverknüpfer und Wortjongleur schweigend seine Tasse Tee, stand auf und ging davon …

***

Nach einem erfrischenden Spaziergang durch ein reinigendes Sommergewitter kam der Autor frohen Mutes wieder zuhause an und betrat den Ort der Tragödie. Ein schwarzer Fleck auf dem Teppich inmitten seines Arbeitszimmers zeugte noch immer von der ungeheuerlichen Tat, die hier verübt worden war. Er sah ihn mit zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen an, während er langsam um ihn herumschritt.

Dabei schob er achtlos die Schubladen seines großen Aktenschrankes zu und blieb hinter seinem Schreibtisch stehen. Er schüttelte den Kopf, drehte sich um und setzte sich in den Sessel. Sein Blick ging nach draußen auf die grüne Anhöhe, welche sich in einiger Entfernung von der sie umgebenden Ebene abhob und auf der er eben jenen Tisch erblickte, an dem er zuvor noch beim Tee gesessen hatte.

Gespenstische Stille herrschte für einen Augenblick, bis ein Zischen erklang, das von einem angerissenen Streichholz herrührte. Mit diesem entzündete der Autor die Kerzen auf seinem Schreibplatz. Er blies es aus und ließ es achtlos in den leeren Papierkorb fallen.

Die Flammen der Dochte loderten erst, dann brannten sie ganz ruhig, während der Mann mit dem Part und dem Zylinder die Schachtel in der Innentasche seines schwarzen Mantels verschwinden ließ, aus der er sie heute schon das zweite Mal gezogen hatte.

Ein befreites Lächeln huschte über seine spröden Lippen bei dem Gedanken, dass er wieder ganz von vorne beginnen konnte …


Amouröse Eskapaden

Ich schlich mich leise neben Raffaela und ihren schlafenden Körper. Zur Hälfte war er von der blassen Seidendecke verborgen, durch die sich alle prägnanten Körperstellen deutlich abzeichneten. Dabei hob und senkte sich die dünne Decke sacht zum sanften Wogen ihres Busens, als meine Augen plötzlich von etwas anderem angezogen wurden …

Ich wollte gerade meine Sachen anziehen, hielt nun aber inne. Ich ging, nur in meine Unterkleidung gehüllt, zu dem kleinen Kasten hinüber, der aus lauter Gitterstäben bestand. Unwillkürlich dachte ich an einen Käfig, in dem man für gewöhnlich Vögel hielt, aber hier irrte ich.

Ein felliges Etwas schaute mich aus einem kleinen Häuschen aus Holz an. Es war so groß wie meine Hand und sah sich vorsichtig um. Dabei hatte es nicht wirklich Augen für mich, sondern schnupperte, dass seine Schnurbarthaare wackelten.

Es schien etwas zu riechen, dass ihm wohl angenehm war und vertrauen einflößte. So viel, dass es sich trotz meiner Anwesenheit aus seinem schützenden Versteck hervorwagte.

Zuerst dachte ich an etwas Fressbares, aber sogleich entdeckte ich, was das kleine Tierchen wirklich scharfmachte. Ein kleineres Exemplar dieser Gattung, welches mich an eine besondere Mäuseart oder gar eine Rattenvariante, die mir bislang unbekannt geblieben war, erinnerte. Jedenfalls schien sie den bis dato wenig regsamen Burschen zu befeuern und brachte ihn ganz aus dem Häuschen, wo er nochmals kurz innehielt. Dann huschte er merklich aufgeregt zu seiner Genossin hinüber, die sich sichtlich darüber zu freuen schien, nicht mehr alleine in einem Palast in Venedig sitzen zu müssen.

Da ging mein Blick kurz zurück zur Nichte des Dogen und ich musste mit einem süffisanten Lächeln daran denken, was wir selbst vor Stunden zusammen miteinander geteilt hatten. Dann ließ ich meine Augen wieder auf dem drolligen Pärchen ruhen, die sich abzuschnüffeln begannen.

Würden sie unserem Beispiel folgen?, dachte ich voller Neugierde so bei mir.

Wahrscheinlich hatte man sie deshalb sogar in diesem Gefängnis aus Menschenhand zusammengesteckt. Sicher mit Absicht, damit genau das geschah, was ich nun mit eigenen Augen erblicken sollte, als sie sich zu umkreisen begannen.

Das kleinere Exemplar der beiden Nager machte sich dabei ganz flach, während das größere dagegen sein Fell sträubte, was es noch buschiger aussehen ließ. Das Männchen posierte und ich kam nicht umhin, dabei an uns Menschen denken zu müssen, die wir ja als Krone der Schöpfung galten. Dennoch taten wir Ähnliches. Kamen uns natürlich erhabener vor, solange man sich nicht allzu sehr von der Obrigkeit der Kirche und ihrem langen Strafenkatalog einschüchtern ließ.

Ich konnte diese Erhabenheit aber zumeist bei meinesgleichen nicht entdecken, denn wir waren oftmals hemmungslos in unserem Handeln und konnten auf der anderen Seite sehr verspielt erotisch bis tolldreist verrückt dabei sein. Entsprechend dem himmlischen Wesen, das unser Werben und Kosen dahin erhörte, dass es für alle beteiligten zum höchsten Gipfel der Lust reichte.

Die beiden Wesen vor mir taten jedenfalls, was ihnen von der Natur gegeben zu sein schien. Ich sah fasziniert zu und konnte mir eine gewisse Erregung nicht verhehlen.

Abermals glitt mein Blick zurück zur holden Raffaela, die schlief oder nur so tat? Sollten mich die possierlichen Tierchen wirklich nur dazu verleiten, völlig gierig über das blutjunge Mädchen herzufallen?

Schließlich war mir ja nicht als einzigem Liebenden auf der weiten Welt der Wesenszug der List gegeben, oder? Falls es eine war, dann hatte sie gewirkt, denn ich schlich mich zu ihr hinüber und ließ die beiden Verführer in ihrem Spiel der Triebe zurück.

Meine Aufmerksamkeit wurde nun anderswo benötigt. Da schlug sie ihre verschlafenen Augen auf, deren rehbraune Färbung mich erneut schier aus der Fassung brachten, wie schon vor wenigen Stunden auf dem Fest, dass ihr Onkel für sie, als seine Nichte, gegeben hatte. Dort waren wir uns schließlich auch das erste Mal begegnet und sofort war ich Feuer und Flamme für sie. Ihr graziler Körper, das blasse Antlitz und ihre Augen waren mehr als ich zu ertragen in der Lage war. Ich musste versuchen in ihr Bett zu gelangen. Wenn auch der Gedanke, dass es im Palast des Dogen und mit dem beinahe erwachsenen Kinde geschehen sollte, selbst mich ein wenig verunsicherte. Ich war ja kein völlig abgebrühter Ganove, sondern ein menschgewordener Liebesbote, der sich die Bestäubung der Damenwelt zum Ziel auserkoren hatte.

Diesem selbst gesteckten Anspruch kam ich schließlich auch in meinem reifen Alter noch nach.

***

Das verschmitzte Lächeln des gut aussehenden Abenteurers Giacomo Casanova verhieß, dass er beim Jahre später stattfindenden Betrachten eines Hamsterkäfigs und dem Geschehen darin ein gewisses Amüsement empfand. Auch wenn ihm die Erinnerung an seine Verhaftung damals im Palast des Dogen von Venedig weniger angenehm haften blieb. Außerdem entkam er Monate später den Bleikammern doch wieder.


Schreibfluss

Warum meldete sich Thomas Rain nicht? Nicht, dass ich die letzten Tage nur auf etwas Wichtiges von ihm gewartet hätte, aber als sein Kollege und Freund macht man sich automatisch so seine Gedanken. Alles andere wäre nicht das, was ich mir unter einer langjährigen Freundschaft vorstelle.

Eventuell war er krank und schlief die meiste Zeit des Tages. Da Thomas alleine lebte, beschloss ich, einfach bei ihm vorbeizufahren. Schließlich lag sein Apartment in Manhattan unweit von meinem, sodass ich gegen Abend etwas früher das Verlagshaus verließ, in dem wir beide arbeiteten. Thomas als Autor und ich als Lektor, der auf das neue Manuskript wartete, was nicht so recht fertig werden wollte. Natürlich saß mir deswegen auch Bill Saunders – unser Verleger und der Eigentümer des Verlags in Personalunion – im Nacken.

Als ich schließlich die Untergrundbahn in der 86. Straße in Richtung Columbus Avenue verließ, zog ich schon den Ersatzschlüssel zu Thomas’ Wohnung aus der Tasche meines Trenchcoats und hastete die wenigen Meter bis zum Eingang des Gebäudes mit der Nummer 517, in dem mein Freund lebte. Die graue Wolkendecke, die schon seit Tagen über dem Big Apple hing, hatte ihre Schleusen bereits vor wenigen Stunden geöffnet und versuchte fortan, die Menschen, die in ihm lebten, mit aller Gewalt fortzuspülen. Und selbst, wenn die Mehrheit der New Yorker daran vielleicht zu glauben begann. Gelingen würde dies nie. Wir New Yorker waren schon immer zäher als wir aussehen.

Mit diesen Gedanken nahm ich die Treppe, um in die 5. Etage zu gelangen, und verließ sie in einen schlecht beleuchteten Gang. Ich konnte zwar nicht viel in dem schummrigen Licht sehen, dass die wenigen Lampen warfen, die noch funktionierten, war aber zum Glück schon oft genug hier gewesen, um die Wohnungstür zum Apartment meines Freundes auch so zu finden.

Zuerst klingelte ich und wartete einen Augenblick ab, ob sich nicht doch etwas hinter seiner Tür tat. Außerdem hatte ich immer noch die Hoffnung, dass er mir antworten oder sogar selbst öffnen würde. Als jedoch nichts geschah, klopfte ich obendrein, bevor ich mir mit dem Nachschlüssel selbst öffnete.

»Thomas? Hey, Junge?«, rief ich, obwohl ich eigentlich keine Antwort erwartete. Und natürlich kam auch keine.

So schloss ich die Tür, nachdem ich eingetreten war, und schaltete das Licht an, um mich im Flur genauer umsehen zu können, der bislang im Dunklen gelegen hatte.

Nachdem mir hier nichts Ungewöhnliches aufgefallen war, arbeitete ich mich Zimmer um Zimmer durch Thomas’ Wohnung. Küche, Wohn- und Badezimmer erbrachten ebenfalls keine Hinweise auf den Verbleib meines Freundes, sodass ich immer unruhiger wurde. Blieben nur noch sein Arbeitszimmer und der Schlafraum. Ich entschied mich für Ersteres, weil es auf dem Weg zu seinem Schlafzimmer lag und dessen Tür zudem offen stand.

Und dort fand ich Thomas endlich. Er saß vor seinem Netbook, das ganz leise vor sich hinsummte.

Irgendwie sah er steif aus und starrte unentwegt – obwohl ich ihn angesprochen hatte, während ich eintrat – vor sich hin.

Seine Augen blickten direkt auf den kleinen Bildschirm und seine Finger ruhten noch wenige Millimeter über der Tastatur seines Rechners.

Ich stupste ihn leicht an seiner rechten Schulter an, doch er reagierte nicht. Selbst als ich dies an seinem linken Unterarm wiederholte, tat sich nichts. Schließlich versuchte ich festzustellen, ob er noch atmete und sein Herz schlug, aber es war bereits zu spät. Mein Freund Thomas Rain war tot!

***

Nachdem ich einen Augenblick gebraucht hatte, um das Unweigerliche zu akzeptieren, erhob ich mich und ging in sein Wohnzimmer. Hier goss ich mir zuerst einen Scotch ein, den ich in seinem Andenken und in kleinen Schlucken trank. Dann nahm ich das Telefon zur Hand und wählte die Nummer des nächsten Police Departments.

Es dauerte weitere zwei Gläser seines Whiskeys, bevor sie mit einem Leichenbeschauer eintrafen. Ich führte sie zu meinem Freund und wartete dann gespannt ab, was sie sagen würden. Dabei vertrieb ich mir die Zeit, indem ich las, was Thomas zuletzt geschrieben hatte:

»Einige Tage reizen einfach mehr zum Schreiben, andere wiederum nicht. Was für einen Tag man schlussendlich erwischt, kann man eigentlich immer erst dann sagen, wenn er vorbei ist. Dann sieht man nämlich genau, was man geschrieben hat und in welche Richtung das Schreiben einen führt.

So wie jetzt, als die Worte einer Quelle gleich hervorsprudeln. Plätschern sachte in dem noch schmalen Bett des Bächleins, zu dem es sich entwickelt hat, entlang. Verbreitern sich zu einem Fluss, ergießen sich in einen Strom und reißen mich mitsamt meinen Ideen dermaßen mit, dass mir kaum Zeit zum schreiberischen Mithalten bleibt. Schneller und schneller fliegen meine Finger über die Tasten des Netbooks, sodass es für einen heimlichen Beobachter mit ungeübtem Blick wie ein Flackern über der Tastatur wirken muss. Namen, Gegenstände und Orte entspringen meinem Geist und finden ihren Weg über meine Finger auf den Bildschirm und damit auf die Festplatte des Rechners.

Mein Atem geht schnell und schneller und der Schweiß läuft mir übers Gesicht. Ich wische ihn flüchtig mit dem Stoff meines Ärmels beiseite und tippe wie ein Wahnsinniger weiter – Buchstabe für Buchstabe, Silbe für Silbe und Wort für Wort – vor mich hin. Der Schreibfluss hat sich zu einem gewaltigen Strudel entwickelt, der mich unaufhörlich an Bootstegen, Abwasserrohren und Schiffsanlegestellen vorbei immer weiter Richtung Meer treibt. Talsperren, Staustufen und andere Hindernisse unterschiedlichster Art überwinde ich, weil er uns einfach darüber hinwegspült. Ich stürze, schlage auf das tiefer liegende Wasser des Stromes auf, tauche darin unter. Halte schließlich die Luft an und glaube darin zu ertrinken, so stark ist der Sog manches Mal, der tief unter der Oberfläche des reißenden Flusses lauert.

Ich frage mich indes, wie viele Schriftsteller diesem Monstrum mit den unzähligen Tentakeln, das hier schon seit Äonen vor sich hin brütet, bereits zum Opfer gefallen sein müssen.

Hunderte?

Doch ich werde nicht dazugehören! Denkend regt sich Widerstand in mir. Mit wenigen starken Schwimmstößen kann ich mich durch die glasklare Grenze zwischen warmem Licht und kühlem Nass katapultieren. So schnappe ich nach Luft und mir wird bewusst, während ich sie in Hülle und Fülle finde, dass ich auf dem Wasser allen Lebens weiterhin Fahrt aufnehme. Ich muss weiter strampeln … schreiben, tippen, flüchtige Gedanken in die Tastatur brennen.

Noch habe ich nicht verloren, während ich kurz untergetaucht bin. Also fülle ich meine pumpenden Lungen mit warmer Sommerluft, insgeheim darauf hoffend, dass sie der Kühle des Flusswassers, das meine Glieder umgibt, etwas entgegenzusetzen hat, und ich so weiter bis zum Ende durchhalten kann. Von daher werde ich mir mit jedem weiteren Atemzug, der mich vom Beginn meines Seins bis hierher getragen hat, sicherer, es zu schaffen und das große Ziel, nämlich die Mündung ins Meer der Wörter, zu erreichen. Ich hole noch einmal alles aus mir und meinen schmerzenden Armen und Beinen heraus und versuche, immer wieder mein Gesicht seitlich aus dem Wasser zu drehen, um zu atmen …

… atmen …

… atmen! …

… ATME!!!

Dann ist es vorbei und ich weiß, auch wenn es mehr einem Gefühl aus meinem tiefsten Inneren entspricht, dass dies endgültig ist. Ich habe verloren und das so kurz vor dem Ziel. Ich schwamm zwar in die Mündung des Meeres hinein und viel schneller, als ich mir das bis dato hatte vorstellen können – jedoch nicht mehr mit eigener Kraft. Denn das erledigte unbarmherzig der Strom ohne mein weiteres Zutun …«

Zuerst war ich ziemlich überrascht, als ich zu Ende gelesen hatte. Dann allerdings legte sich dies, weil ich nur zu gut wusste, was mein Freund und Kollege sonst so schrieb und über das Schreiben erzählte, wenn es ihm wieder einmal nicht so gut ging.

Meine Kinnlade sollte aber herunterklappen, als der Gerichtsmediziner Thomas’ Körper in einen schwarzen Leichensack legen wollte und dabei aus seinem Mund ein Schwall Wasser lief. Grüne Fäden waren darin, die sich bei der Obduktion als Seetang herausstellten. Zudem wies das Wasser, welches man auch in den Lungen meines Freundes fand, einen hohen Anteil Meersalz auf. Es gab keinen Zweifel, dass es sich um Salzwasser handelte. Allerdings konnte nicht geklärt werden, wie es in ihn gelangt war. Am Ende verwarf man die abstrusesten Theorien, die sich die pathologische Abteilung des Police Departments zusammenreimte, als unbegründet und haltlos.

Mich hatte man natürlich einige Zeit im Verdacht und ich wurde dazu auch mehrfach verhört oder angehört, wie sie es nannten. Aber schließlich ließen sich diese Behauptungen alle nicht beweisen, weshalb ich wieder freikam.

Natürlich könnte ich ihnen sagen, was ich darüber weiß, aber ob mir das jemals jemand glauben würde?


Veröffentlichung der Leseproben mit freundlicher Genehmigung des Autors