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Peter Mair – Klingeln – Eine SF-Kurzgeschichte

Klingeln

Woher kam dieses hohe, unangenehme Klingeln?

Seit die Lichter vor einer Stunde ausgefallen waren, fragte sich Jakob das. Aber er wusste keine Antwort.

Viel mehr als das Klingeln beunruhigte ihn das Fehlen der Sterne im Nautilus Quadranten. Beim letzten Flug existierten hier genug Sterne, um sich daran zu orientieren. Jetzt herrschte vollkommene Dunkelheit.

Was war mit den Sternen passiert? Es gab keine Spur für ihr Verschwinden. Das Messgerät für Restematerie zeigte null.

Hatte er, bevor das Klingeln begann, noch Sterne gesehen? Er erinnerte sich nicht genau, war sich aber sicher, dass es so gewesen war.

Über das Fehlen der Sterne sollte er sich freuen. Keine Sterne bedeuteten keine Raumsheriffpatrouillen. Die Raumsheriffs kontrollierten nur entlang der Sternenrouten. In die dunklen Gebiete wagten sie sich nicht vor.

Dennoch fühlte sich Jakob nicht wohl.

Was, wenn das Dunkel eine Falle der Raumsheriffs war und sie ihn erwischten? Dann würden sie sich nicht die Mühe machen, ihm Handschellen anzulegen, sondern ihm gleich eine Kugel ins Gesicht jagen.

Vielleicht sollte er aus dem Dunkel rausfliegen?

Das war doch eine irrsinnige Idee. Er würde weiter durch den Nautilus Quadranten fliegen. Bisher hatten sie seinen 93er Mercury Frachter nicht geschnappt, und auch diesmal würden sie ihn nicht kriegen. Nicht auf seinem letzten Flug. Nicht mit dem ganzen Floo8 an Bord.

Floo8 ist vor fünfzig Jahren das große Ding gewesen. Damit kurbelten sie auf der Erde das letzte Mal die Wirtschaft an.

»Werde klug und sieh, was andere denken!«, lautete damals der Werbespruch.

Sie verkauften Floo8 als Nahrungsergänzungsmittel, um die Gehirnleistung zu steigern. Man konnte es schlucken, in Wasser auflösen oder einfach durch die Nase einatmen. Das Zeug entpuppte sich als eine wahre Maschine zum Geld drucken.

Jeder wollte klüger werden und die Fähigkeit besitzen, die Gedanken der anderen zu lesen.

Zwei Jahre, nachdem sie das Zeug in den Supermärkten verkauften, bekam die Gelddruckmaschine jedoch eine gewaltige Delle.

Drei Milliarden Menschen sind damals an dem Zeug krepiert. Floo8 dehnte sich langsam in den Gehirnzellen aus, aber es macht nicht einfach »Buummm!«, obwohl das für die Leute, die daran draufgingen, besser gewesen wäre. Aber so funktionierte es nicht.

Erst verwuchsen einzelne Körperteile der Infizierten zu Anomalien. Warum das so war und wie die Erinnerungen der Infizierten damit zusammenhingen, darüber gab es keine Untersuchungen. Niemanden kümmerte das. Auch Jakob wollte nichts darüber wissen. Je weniger er davon wusste, desto geringer war die Chance, sich anzustecken, glaubte Jakob.

Das Dahinsiechen der Infizierten dauerte unterschiedlich lange. Aber es endete bei allen gleich. Die Gehirnzellen dehnten sich so weit aus, bis der Kopf explodierte. Die Meisten vegetierten mit dem Rest ihres Kopfes dann noch ein paar Tage dahin.

Die Investoren kümmerte das nicht groß. Die stritten es einfach ab. Für die war das Ganze gar nicht passiert. Und das Parlament der Union der Erde sah das genauso. Die interessierte nur ihr Gewinn am Floo8.

Es wunderte niemanden, als kurz darauf die Attentate begannen und es später zur Revolution kam. Floo8 wurde verboten, die Menschen entdeckten Dutzende bewohnbare Planeten und brachen zu ihnen auf.

Das hinderte ein paar der Investoren nicht, weiter Floo8 zu produzieren. Nur diesmal benutzen sie das Floo8 nicht, um die Menschen klüger zu machen, sondern um Außerirdische auszurotten und sich ihre Planeten zu krallen. Denn mit ganzen Planeten, die auf einmal niemandem mehr gehörten, konnten sie noch mehr verdienen als mit dem Floo8.

Jakob war einer der Schmuggler, die Floo8 durchs All beförderten. Was immer das Zeug anrichtete – darüber dachte er nicht nach. Hauptsache, er machte dabei seinen Schnitt und musste nicht in einer der Elektronikfabriken schuften. Jeder musste sehen, wo er blieb. War ein Naturgesetz.

Ganz abgesehen davon war er sich mit seinen eins neunzig, den roten Haaren und sommerhimmelblauen Augen zu schade dafür. Er hätte Model werden können oder Schauspieler. Er hatte Angebote. Aber er mochte es nicht, dass ihn Menschen ansahen. Denn mit der Zeit würden es einige bestimmt sehen können. Und es war doch sein Geheimnis.

Hier draußen im All war er allein. Da konnte ihn niemand anstarren. Wenn Jakob mit sich selbst ehrlich war, fuhr er den Frachter nicht wegen des Geldes, sondern wegen seiner Einsamkeit.

Es klingelte wieder. Diesmal lauter.

»Ist da jemand?«, fragte Jakob, wirbelte mit seinem Kommandosessel herum und starrte ins Dunkel des Cockpits.

Nichts rührte sich.

Jakob zog den Laserrevolver, so schnell wie einer der Revolverhelden in den Comics, die er als Kind so gerne gelesen hatte. Er zielte ins Dunkel, wo die Treppe hinunter in den Frachtraum führte.

Im selben Moment erfasste die Welle des Magnetsturms den Frachter. Jakob wurde auf dem Sitz hin und her geworfen wie auf einer Achterbahnfahrt. Der Laserrevolver flog aus seiner Hand, rutschte ins Dunkel und fiel die Treppe hinunter.

Eigenartig, dass es hier Magnetstürme gab. Soweit das Radar zeigte, gab es im Umkreis von Tausenden von Lichtjahren keine Sonnen. Nach Jakobs Erkenntnis war es unmöglich, hier auf einen Magnetsturm zu treffen.

Plötzlich zuckten Blitze. Wiesengrüne Blitze. Erst einer, dann mehr. Bis überall im Weltraum Blitze explodierten.

Jakob wusste, man konnte es nicht vergleichen, dennoch erinnerten ihn die Blitze an ein Wintergewitter voller Polarlichter in seiner Kindheit. Drei Wochen vor Weihnachten ging so ein Gewitter über Innsbruck nieder. Es war an dem Tag, als seine Mutter spurlos verschwand.

Er flüsterte, wie er es immer tat, wenn dieser Tag durch sein Gedächtnis geisterte: »Nicht daran denken! Nicht daran denken!«

Im Schein der wiesengrünen Blitze sah er einen Schwanz, aus dem eigenartige Kugeln wuchsen. Der Schwanz hätte einer Ratte gehören können. Aber er wusste es besser. Er gehörte einem anderen Tier.

Einem Tier, das er bei seinen jugendlichen Streifzügen durch das aufgelassene Museum in Innsbruck immer besuchte. Dieses Tier war sein Glücksbringer.

Jakob war auch an jenem Tag im Museum, als seine Mutter verschwand. Dort bei den ausgestorbenen Tieren verbrachte er damals eine Menge Zeit. Er wusste nicht, warum, aber es machte ihn glücklich, den ausgestopften Beutelwolf zu betrachten. Manchmal streichelte er über sein graugelbes Fell und über die Querstreifen auf seinem Rücken.

Dabei flüsterte er: »Braver Hund! Braver Hund!«

Später gab ihm der Vater die Schuld, dass die Mutter einfach abgehauen war, weil er nicht da war und auf sie aufgepasst hatte. Nur dem Beutelwolf vertraute er an, dass er die Mutter hinunter zum Fluss brachte. Er hoffte, sie würde von alleine reinspringen, aber als sie das nicht tat, musste er etwas nachhelfen. Sie schrie nicht lange und ging bald unter.

Ein Psychologe hätte bestimmt rausgefunden, warum er das getan hatte. Für Jakob reichte als Erklärung der pulsierende nachtschwarze Hass in ihm.

Vielleicht sollte er nach dem Schwanz im Dunkel sehen.

Der Frachter raste mit doppelter Lichtgeschwindigkeit durch den Magnetsturm. Wenn ihm etwas in die Quere kam, sollte er besser am Steuerknüppel sitzen. Und für den Schwanz, der wahrscheinlich eine Raum-Fata-Morgana war, würde er nicht seine Ladung Floo8 riskieren.

Hatte er das Klingeln nicht auch gehört, als Lena verschwand?

Lena?

Von der hatte er sich vor vier Wochen auf dem Raumflughafen in München verabschiedet. Die hing bestimmt bei sich zu Hause mit ihren Freunden ab. Allesamt würden sie über ihre Orchideen labern und wie sehr sie sich Mühe bei ihren Züchtungen gaben. Für etwas anderes als Orchideen kriegen sie ihren Arsch nicht aus dem Sofa.

Diesmal klingelte es so, als würde ein Sturm durch einen Wald voller Windspiele jagen.

»Eine Täuschung«, sagte Jakob.

Das Klingeln war eine Raum-Fata-Morgana. So was kam manchmal vor, wenn man zu lange durchs All flog. Besser, er hätte vor dem Start ein paar Tabletten gegen die Raumkrankheit geschluckt.

Der Sitz neben ihm … War das auch eine Raum-Illusion?

Seine Finger strichen darüber. Der Sitz fühlte sich real an. Aber Jakob hätte wetten können, vor dem Magnetsturm gab es hier keinen zweiten Sitz.

Und da auf dem Boden vor ihm … Was war das?

Vorsichtig berührte er das Ding. Es fühlte sich wie ausgespuckte Zuckerwatte an. Er hob es hoch. Es war schwerer, als er gedacht hatte. Außerdem stank es nach Aas.

Wenn sich Jakob nicht ganz täuschte, hielt er eine Strickjacke hoch. Eine zähe Flüssigkeit rann über die Vorderseite der Jacke. Darin klebten Büschel aschblonder Haare. Er berührte die Flüssigkeit und verrieb sie zwischen seinen Fingern.

Er wusste nicht, warum er sich in dem Augenblick daran erinnerte, wie Lena beim Abschied die Arme nach ihm ausstreckte und ihn anflehte, er solle sie mitnehmen. Auf seiner letzten Fahrt wollte sie dabei sein.

Das klebrige Zeug auf seinen Fingern störte ihn. Er wischte es in den Sitz, der gar nicht da sein sollte. Der Sitz fühlt sich nass an. Und plötzlich hatte er den Geschmack von Eurokupfermünzen in seinem Mund.

Blitze überfluteten das Cockpit mit wiesengrünem Licht, von dem eine eigenartige Kälte ausging. Sie erinnerte ihn an die Winternächte im Museum, in denen er zum Beutelwolf betete, er möge dafür sorgen, dass die Mutter nicht von den Toten zurückkommt.

Für jedes Gebet band er dem Beutelwolf ein Glöckchen um den Schwanz. Es würde ein wunderschönes Geräusch geben, wenn der Beutelwolf so durch die Straßen von Innsbruck lief. Und die Mutter würde gleich erkennen, dass sie sich von den Lebenden fernhalten sollte.

Etwas in ihm wusste, dieses Licht würde für immer bleiben. Alles war wiesengrün. Auch das Wesen, das aus dem Dunkel schwebte, wurde umgeben von einer wiesengrünen Aura.

Er schrie. Er brüllte. Doch das wiesengrüne Licht dämpfte auch das.

Das Wesen aus dem Dunkel besaß dreiviertel von Lenas Gesicht. Der linke, obere Teil ihres Gesichts fehlte, als hätte ihn eine 45er Kugel weggerissen.

»Eine Raum-Fata-Morgana, nichts weiter«, flüsterte Jakob, obwohl er es besser wusste.

Jetzt erinnerte er sich daran. Er hatte Lena mitgenommen. Denn die letzte Fahrt würde ein Spaziergang werden.

Der nasse Sitz, die nasse Wolljacke. Das war Lenas Blut. Sie hatte geblutet, als die Anomalie, ein orchideenblütenförmiges, knöchernes Ding, an den Rändern so scharf wie eine Rasierklinge, aus ihrem Körper wuchs.

Lenas Kopf war ganz nah. Er hätte sie küssen können. Doch in dem Moment explodierte sein Kopf. Die rechte Hälfte davon klatschte auf den Boden.

Statt seiner Schreie hörte Jakob sich selbst klingeln.

Ein letzter menschlicher Gedanke drängte sich durch das Klingeln.

Das Floo8 im Laderaum war ausgetreten und hatte Lena und ihn verseucht.

Jakob blickte mit einem Auge an sich hinunter und lachte und lachte und lachte. Das Klingeln kam von dem knöchernen Beutelwolfschwanz mit den Glöckchen, der aus ihm wuchs.

(pm)