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Wolfram von Bärenburg – Teil 5

Wolfram von Bärenburg, genannt der Erzteufel
Der verwegenste Raubritter und schrecklichste Mörder, ein Scheusal des Mittelalters, von der Hölle ausgespien zum Verderben der Menschen
Eine haarsträubende Schauergeschichte aus den furchtbaren Zeiten des Faustrechts und des heimlichen Gerichts der heiligen Feme aus dem Jahr 1860
Kapitel 5

Der Schutzengel

Die beiden Novizen durften nicht mit der Äbtissin, den übrigen Nonnen und den eingeladenen Ritterdamen an der Fremdentafel speisen, sondern mussten ihr Mahl in der Zelle ihrer Meisterin verzehren. Diese hielt es nicht für ratsam, die Schwestern nochmals von ihren Eltern Abschied nehmen zu lassen und führte sie daher nach dem Essen in den Klostergarten, der von einer hohen Mauer umgeben und gegen Süden nur durch einen schmalen Landweg getrennt war, an einen kleinen See grenzte, zu welchem aus dem Garten eine eisenbeschlagene Pforte führte. Den Schlüssel zu dieser besaß der außerhalb unter anderen Dienstleuten eine eigene Hütte bewohnende Klosterfischer. An Tagen, wo man den Fischer nicht benötigte, war dieses Pförtlein von innen verschlossen. Dies war an diesem Festtag nicht der Fall, da der Fischer öfter zum See musste, um je nach der wachsenden Menge der Gäste wiederholt benötigte Fische in die Küche zu liefern.

Die Novizenmeisterin ging mit den beiden Schwestern lange Zeit in dem großen Garten spazieren, unterhielt sich aber mit den beiden unbeliebten Mädchen kaum und wurde bald so müde, dass sie mit ihnen in eine dichte Jasminlaube trat, um auszuruhen. Veronika und Elsbeth mussten ebenfalls Platz nehmen und aus den gepflückten Blumen Sträuße für das Bild der Schutzheiligen des Klosters oder ihren Betten winden. Während sie mit leiser Stimme ein geistliches Lied sangen, wurde die Alte von einem festen Schlaf befallen. Dies bemerkend nickten sich die beiden Schwestern zu und verließen leise die Laube.

In einiger Entfernung sagte Veronika zu ihrer Schwester: »Weil wir nun unsere böse Meisterin vom Halse haben, muss ich dir sagen, was mein Herz seit einigen Tagen so lebhaft bestürmt.«

»Nun, das wäre?«

»Nichts weniger als die Flucht aus dem Kloster, welcher Vorsatz in mir von Tag zu Tag immer stärker wird, seitdem ich jüngst so lebhaft geträumt hatte.«

»Und was hast du geträumt?«

»Es war vor etlichen Tagen, als uns abends die Novizenmeisterin so feindselig gegenübertrat und mir sogar derbe Züchtigung androhte. Mit schwerem düsteren Gemüt suchte ich an diesem Abend mein Schlafgemach auf. Lange konnte ich nicht einschlafen, bis endlich, kaum entschlummert eine jugendliche Gestalt im Traum erschien, mich auf die Stirn küsste, und sprach: »Fliehe aus diesen Mauern, die deiner Zukunft nicht bestimmt sind.«

»Ich erwachte, überdachte den Rest der Nacht diesen sonderbaren Traum und konnte die Milde und Sanftmut der Gestalt, die ich durchaus für meinen Schutzengel halte, nicht mehr aus dem Sinn bringen.«

»Sonderbar! Wenn es nur kein falscher Schutzengel war, der dich zu der Sünde verleiten wollte, aus dem Kloster zu entfliehen.«

»Für uns ist es keine Sünde, weil wir keine Nonnen, durch keinen Eid, durch kein Gelübde, gebunden sind. Wie unsere guten Eltern uns zu jeder Zeit aus dem Kloster wieder abholen können, so steht es auch uns frei, es zu verlassen. Ja, es ist sogar unsere Pflicht, dem Befehl des heiligen Schutzengels zu gehorchen.«

»Du kannst recht haben, Schwester! Aber wie wird es uns möglich sein, unbemerkt aus dem Kloster zu kommen?«

»Nichts leichter als das. Ich habe vorhin gesehen, dass die Pforte zum See nur angelehnt ist. Wir schlüpfen hinaus, machen den Fischernachen los und fahren quer hinüber bis zum Wald. Dort geben wir dem Nachen einen Stoß, und der Wind wird ihn dann schon in den See hinaustreiben, wo ihn der Fischer wieder holen mag. Steuern und Rudern können wir auch, wir haben es ja auf dem großen Weiher der väterlichen Burg oft genug versucht.«

»Was tun wir aber im Wald?«

»Zu den Eltern heimgehen.«

»Kennst du den Weg zu unserer Burg?«

»Nein, wir erfragen ihn schon.«

»Aber die Eltern werden darüber verärgert sein, dass wir entflohen sind und uns wieder in das Kloster zurückbringen, wo uns schwere Strafe erwartet.«

»Fürchte dich nicht! Wir sagen Vater und Mutter, wie hart die Novizenmeisterin mit uns umging und dass unser Schutzengel uns angeordnet hat, aus dem Kloster zu fliehen.«

»Nun gut, lass uns fliehen! Ich fände es gut, wenn wir auch die gute Schwester Angelika mitnehmen könnten, die im Kloster aus Gottes Barmherzigkeit aufgenommen wurde, schwere Arbeiten verrichten muss, übel behandelt wird und uns gegenüber immer so herzensgut war.«

»Wir können sie jetzt nicht mehr aufsuchen. Komm, folge mir schnell, bevor unsere Alte erwacht, sonst ist unsere Flucht vereitelt!«

Beide Schwestern flohen über den Rasen hinter der Laube, worin ihre Zuchtmeisterin noch immer fest schlief, und waren der Pforte, die ihnen die Freiheit bringen sollte, schon sehr nahe, als sie Ruderschläge vernahmen. Stieß jemand mit dem Nachen vom Ufer ab, so blieben die beiden Schwestern Gefangene, vielleicht für immer. Doch nein! Hinter einer Rosenhecke kauernd hörten sie, wie der eiserne Kettenring des Nachens in den Hacken des Pfostens am Ufer eingehängt wurde. Gleich darauf trat der Klosterfischer Lorenz in den Garten, ein mit köstlichen Fischen gefülltes Tragnetz in der Hand, nachträglich von der Küchenmeisterin für die Abendtafel bestellt. Nichts Arges denkend ließ er die Tür halb offen. Diesen Moment nutzten die Schwestern aus, sprangen flink zur Pforte hinaus, machten den Nachen los und ruderten schnell davon, durch den Trost beruhigt, dass der immer durstige Lorenz die Küche gewiss nicht verlassen würde, ohne zuvor sich mit einem Becher Wein und einigen Speiseresten der Mittagsfesttafel gelabt zu haben.

Glücklich erreichten die Fliehenden das jenseitige Ufer, ohne dass sie vom Seerand des Klosters aus von einem Späher erblickt wurden.

Sie gingen tiefer in den stillen Wald hinein, ruhten sich unter einer großen, schattigen Buche aus, tupften sich den Schweiß von der Stirn und verzehrten zwei Stückchen Kuchen, welche sie, wie üblich bei Festtafeln, in die Taschen gesteckt hatten.

»Es ist höchste Zeit, dass wir weitergehen«, sagte Veronika aufstehend, »sonst wird es dunkel im Wald, und wir sehen keinen Pfad mehr.«

»Aber in welche Richtung sollen wir gehen?«, erwiderte Elsbeth, gleichfalls sich erhebend.

»So weit ich mich erinnere, liegt unsere Burg hinter der oberen Seite des Sees. Wir gehen also immer am Ufer des Sees aufwärts, jedoch immer waldeinwärts, um vom Kloster aus nicht gesehen, verfolgt und eingeholt zu werden. Ich denke, dass wir spätestens in zwei Stunden bei unsern lieben Eltern sind.«

»Gehen wir!«

Die beiden Schwestern mochten etwa eine halbe Stunde weit gegangen sein, ab und zu durch Dornensträucher, die sie umgehen mussten, von ihrem Pfad abgekommen, als plötzlich zwei wild aussehende Männer mit Jagdspießen in den Händen vor ihnen standen und über ihr weithin gellendes Angstgeschrei lachten.

»Ei, ei, zwei recht hübsche Klosterjungfern, die entwischt sind! Wie wird sich unser Herr, Ritter Wolfram, freuen, wenn wir ihm zwei so liebliche Waldtäubchen, die seine Lieblingsspeise sind, von der Jagd heimbringen!«

Sie brachen bei diesen Worten in ein höhnisches Gelächter aus. Jeder von ihnen fasste eine der beiden Schwestern ans Handgelenk, um sie ungeachtet ihres Sträubens, Weinens und unaufhörlichen heftigen Schreiens in die Bärenburg zu schleppen, für diesen seltenen Fang mit einer reichen Belohnung rechnend.