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Antonia Hodgson – Das Teufelsloch

Der Debütroman der Autorin  Antonia Hodgson Das Teufelsloch ist ein Genremix, welcher letztendlich der phantastischen Literatur des 21. Jahrhunderts zuzuordnen ist. Ihr Roman verbindet Elemente von Horror, Mystery und Crime mit gut recherchierten historischen Fakten.
Das Teufelsloch beschäftigt sich mit allem anderen als mit einer ruhigen, friedlichen Zeit. Die Autorin führt den Leser nach London Anno Domini 1727 und erlebt, wie der Protagonist Tom Hawkins aus seinem Himmel des Kartenspiels, der Bordelle und Kaffeehäuser in die Hölle eines Schuldnergefängnisses fällt. Das Marshalsea ist eine grausame Welt für sich, mit einfachen Regeln: Diejenigen, welche mithilfe der Familie oder Freunde ein wenig Geld auftreiben können, genießen das »Privileg« des Überlebens und müssen nicht in Elend verhungern oder an Krankheiten sterben. Denjenigen, die zu fliehen versuchen, erwartet ein grausames Schicksal, welches in den Händen des unbarmherzigen Gefängnisdirektors und seiner Kumpane liegt. Das Problem dabei besteht darin, dass sich Tom Hawkins bisher nie an Regeln halten brauchte – auch nicht an einfachen. Der jüngste grausame Mord an einem Schuldner, Captain Roberts bringt weiteren Terror in das Gefängnis. Während die schöne Witwe des Captains nach Gerechtigkeit schreit, richtet sich der Verdacht nur auf einen: auf den schlitzohrigen und rätselhaften Samuel Fleet. Manche nennen Fleet einen Teufel, ein Mann, den man unter allen Umständen meiden sollte. Doch Tom Hawkins muss mit ihm eine Zelle teilen. Und Toms Entscheidung ist klar – die Wahrheit über den Mord herauszufinden oder als Nächster zu sterben.

Als ein verworrenes Geheimnis, eine schillernde Evokation von London im frühen 18. Jahrhundert ist Das Teufelsloch ein Debütroman voller Intrigen und Spannung.

Das Buch

Antonia Hodgson
Das Teufelsloch

Historischer Roman, Hardcover, Knaur, München, August 2014, 496 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 9783426653456, Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München, Coverabbildung: FinePic®, München / © Neil Denham / Trevillion Images
Kurzinhalt:
1727. Tom Hawkins will lieber verdammt sein, als Landpfarrer zu werden wie sein Vater. Er liebt die Frauen, das Bier und das Glücksspiel – und landet eines Nachts im berüchtigten Londoner Schuldgefängnis »The Marshalsea«. Schnell erkennt Tom, dass in diesem »Teufelsloch« nur der überlebt, wer sich nützlich machen kann: Er verdingt sich als Ermittler in einem hinterlistigen Gefängnismord – eine Idee, an der sein düsterer Zellengenosse Fleet sogleich Gefallen findet. Doch Tom ist auf der Hut, gilt Fleet doch selbst bei den abgebrühten Bütteln des Marshalsea als Ausgeburt der Hölle …

Über die Autorin

Antonia Hodgson stammt aus Derby und studierte Englische Literatur in Leeds. Seit über 15 Jahren arbeitet sie in der Verlagsbranche und ist derzeit Cheflektorin bei Little, Brown UK. Wenn sie nicht gerade schreibt oder arbeitet oder »Game of Thrones« schaut, sitzt sie gern in der British Library und liest Mordgeständnisse aus dem 18. Jahrhundert.

Leseprobe

Prolog

Sie kamen um Mitternacht. Er war nicht vorgewarnt, hatte keine Zeit, nach dem verborgenen Dolch unter seinem Kopfkissen zu greifen. Lautlos wie Gespenster waren sie gekommen, über den Gefängnishof und die muffige, schmale Treppe herauf, während er ahnungslos geschlafen hatte.

Ein Schuldiger sollte nicht so tief schlafen.

Er erwachte, als ihm eine kalte Klinge an die Kehle gedrückt wurde. Sie knebelten und fesselten ihn, ehe er wach genug war, um zu schreien. Dann zerrten sie ihn so grob vom Bett und auf die Knie, dass die Bodendielen barsten.

Eine Laterne flammte auf und beleuchtete die Angreifer. Nun erkannte er sie zumindest und wusste, weshalb sie gekommen waren. In seiner Verzweiflung zerrte er den schweren ledernen Beutel hervor, den er zur Sicherheit um den Hals trug, und warf ihn den Männern vor die Füße. Gold- und Silbermünzen kullerten über den Boden.

Der Mann mit der Laterne bückte sich, hob eine halbe Guinee vom schmutzigen Boden auf und drehte sie langsam zwischen den Fingern herum. »Glaubst du, das rettet dich?« Mit einem schmallippigen Lächeln ließ er die Münze wieder auf den Boden fallen. Und nickte seinem Komplizen zu.

Dann schickten sie ihn in die Hölle.

 

Ein Wärter fand den Leichnam am nächsten Morgen. Er hing im Verschlag von einem Balken, zu hoch für die Ratten, die in den dunklen Ecken wuselten und wimmelten. Die Schließer schnitten ihn von dem Balken los und legten ihn draußen auf den Hof, ein wenig abseits der drei Gefangenen von der Common Side, welche in der Nacht am Fieber verstorben waren. Der Captain mochte vom Glück verlassen worden sein, doch er war immer noch ein Mann von Stand.

Der Gefängnispfarrer wies auf das geschundene Gesicht und den geprügelten Leib des Toten und verlangte, dass auf der Stelle der Coroner herbeigeholt würde, der unnatürliche Todesfälle zu untersuchen hatte. Der Direktor, der bereits seit Stunden mit einigen Kumpanen im Crown saß und trank, spuckte ihm vor die Füße und sprach von Selbstmord – und wer etwas anderes behauptete, sollte die Pocken kriegen. Der Coroner werde dasselbe verkünden, dafür würde er schon sorgen.

Oben in des Captains Zimmer auf der Master’s Side spielten seine Freunde hastig um seine wenigen Habseligkeiten, ehe der Anwalt sie sich holen konnte. Kleidung, Tabak, ein Pfund Speck. Ein kleiner Kochtopf mit schmierigen Resten des gestrigen Abendessens. Kein Geld. Doch das war kein Wunder in einem Schuldgefängnis.

Eine junge Dienstmagd mit frischen Leintüchern auf dem Arm hielt an der Treppe inne. Eine Weile blieb sie dort im Schatten stehen und beobachtete das Spiel und die Spieler. Sie hatte schon längst gelernt, Augen und Ohren stets offen zu halten. Im Marshalsea war ein gutes Geheimnis besser als Gold – und tödlicher als eine Klinge, wenn man es zu nutzen verstand. Ihr Blick fiel auf den Boden. Seltsam. Jemand hatte ihn in der Nacht sauber gefegt. Sie steckte den Gedanken ein wie ein kleines Fundstück und ging weiter ihrer Arbeit nach.

 

Die Mörder hatten den Boden gefegt, eine Kleinigkeit jedoch übersehen: Eine Münze war bei dem Kampf durchs Zimmer gekullert und in einer dunklen Ecke unter des Captains Bett gelandet. Und dort blieb sie viele Monate lang liegen, verborgen im Staub – eine blutbefleckte Silberkrone. Sie wartete darauf, ihre Geschichte zu erzählen.

Wartete darauf, dass ich sie fand.

Teil eins

Raub

Kapitel eins

»Du hast ein teuflisches Glück, Tom Hawkins.«

Ich grinste den Mann mir gegenüber an. Der Septemberabend war warm, mein Geldbeutel zum ersten Mal seit Monaten prall gefüllt, und wir hatten eben einen Tisch im verruchtesten Kaffeehaus von ganz London ergattert. Das Leben konnte kaum schöner sein. »Das war kein Glück«, entgegnete ich schreiend, um mich in dem Lärm verständlich zu machen.

Charles Buckley, mein ältester Freund, warf mir einen Blick zu, den ich im Lauf der Jahre nur zu gut kennengelernt hatte: Gereiztheit, Missbilligung – und dahinter ein Fünkchen Belustigung. Ich lehnte mich zufrieden zurück und zündete mir eine Pfeife an. Es gehörte zu meinen größten Freuden im Leben, Charles wider seine eigene Moral zum Lachen zu bringen.

Eine Serviermagd kam dicht an unserem Tisch vorbei – ein hübsches Mädchen namens Betty mit schwarzen Ringellöckchen und kaffeebrauner Haut. Ich winkte sie heran und bestellte einen Krug Punsch.

»Eine Schale Kaffee«, korrigierte Charles. »Und dann nach Hause. Du hast mir dein Wort gegeben, schon vergessen?«

Ich drückte Betty einen Shilling in die Hand. Es fühlte sich gut an, wieder Geld zu haben – und es auszugeben. »Kaffee. Und einen Krug Punsch. Wir haben etwas zu feiern«, erklärte ich und tat Charles’ Protest mit einem herrschaftlichen Wedeln ab.

Betty zog eine Augenbraue hoch. In Tom Kings Kaffeehaus gab es nur zwei Anlässe zu feiern – ein Gewinn am Spieltisch oder die vollständige Genesung vom Tripper.

»Ich habe heute Abend zehn Pfund beim Kartenspielen gewonnen«, rief ich hastig, doch sie schlängelte sich bereits durch die Menge der Gäste zu den Kaffeetöpfen, die über dem Feuer hingen. Als ich mich wieder umdrehte, hatte Charles den Kopf in den Händen vergraben.

»Was soll ich nur mit dir machen?«, stöhnte er durch die Finger hindurch.

Ich ließ den Blick durch den langen, niedrigen Raum schweifen und sog das berauschende Aroma von Rauch, Branntwein und Schweiß ein. Wenn ich später meinen Rock aufhängte, würden dieselben vertrauten Düfte bis zum Morgen meine kleine Mansarde erfüllen. »Einen Krug Punsch, Charles. Nur einen! Wir trinken auf mein heutiges Geschick am Spieltisch.«

»Geschick?« Er ließ die Hände sinken. Charles hatte ein angenehmes Äußeres. Seine Gesichtszüge waren so gefällig arrangiert wie ein wohlproportionierter Salon. Dieses Gesicht war nicht für Empörung geschaffen, doch er gab sich alle Mühe und ließ seine dunkelbraunen Augen ein Stückchen weiter werden. »Geschick? Du hast alles auf eine einzige Karte gesetzt! Bis auf den letzten Heller! Das ist kein Geschick, das ist …« Er zuckte hilflos mit den Schultern. »Das ist Wahnsinn.«

Ich widersprach ihm nicht. Charles weigerte sich zu glauben, dass es beim Kartenspiel um mehr ging als blindes Glück – zum Teil deshalb, weil er selbst so jämmerlich spielte. Es nützte nichts, ihm zu erklären, dass ich drei Viertel der Männer in diesem heißen, verrauchten Spielzimmer kannte und schon so oft gegen sie gespielt hatte, dass mir ihre Stärken und Schwächen vertrauter waren als meine eigenen. Oder dass ich mich auch in halb betrunkenem Zustand an jede einzelne Karte erinnerte, die ausgespielt worden war, und mir die Gewinnchancen blitzschnell ausrechnen konnte. Der Gerechtigkeit halber sei gesagt, dass Charles dennoch nicht ganz unrecht hatte – mit diesem letzten Spiel war ich ein ungeheuerliches Risiko eingegangen, doch mir war keine andere Wahl geblieben. Für mich war es um Leben und Tod gegangen.

Früh an diesem Morgen war mein Hauswirt mit drei weiteren Gläubigern in mein Zimmer geplatzt und hatte mir eine Klage wegen zwanzig Pfund ausstehender Miete und anderer Schulden gebracht. Der Arrestbefehl ließ mir nur einen Tag Zeit, genug Geld aufzutreiben, um meine Gläubiger vorerst zufriedenzustellen. Tat ich das nicht, würde man mich auf der Stelle verhaften und ins Gefängnis werfen.

Damals konnte mich nur wenig schrecken. Ich war fünfundzwanzig, und der Tod schien mir fern und nebulös. Doch ich kannte drei Männer, die im vergangenen Jahr ins Schuldgefängnis gekommen waren. Einer war an einem Fieber gestorben, der zweite hatte bei einem Kampf einen Messerstich abbekommen und mit knapper Not überlebt. Der dritte war als dicker, fröhlicher Kerl durch das Tor hineingegangen und ein halbes Jahr später als graues, stotterndes Skelett wieder herausgekommen. Er wollte nicht sagen, was ihm widerfahren war, und wenn wir ihn dazu drängten, trat ein Ausdruck in seine Augen … als wollte er lieber sterben, denn darüber zu sprechen.

Also war ich in meine Kleider geschlüpft und hinaus auf die morgendlichen Straßen geeilt, um jede Schuld und jeden Gefallen einzufordern, die mir nur einfallen wollten. Als das nicht genug brachte, versetzte ich alles, was irgendeinen Wert hatte, bis meine Dachkammer so nackt wirkte wie eine Jungfer in der Hochzeitsnacht. Nur zwei meiner wertvolleren Habseligkeiten behielt ich – meinen Dolch zum Schutz und meinen besten Anzug als Blendwerk (ein wenig dreiste Arroganz und ein paar goldene Knöpfe öffnen in London viele Türen). Meine Gläubiger verlangten die Hälfte der geschuldeten Summe zum Beweis meiner Beteuerungen, dass sie auch den Rest in Bälde wiederbekommen würden. Als die Sonne unterging, zählte ich nach, was ich eingenommen hatte: zwei Guineen und eine Handvoll Pennys. Kaum ein Viertel des Betrages.

Nun war ich gezwungen, das zu tun, wovor ich mich den ganzen Tag lang gedrückt hatte – Charles um Hilfe bitten. In der Schule und in Oxford waren wir einander so nahe gewesen wie Brüder, doch in den letzten Jahren war unsere Freundschaft ein wenig eingeschlafen. Aus meinem alten Kameraden, mit dem ich so viel Unsinn getrieben hatte, war Pfarrer Charles Buckley geworden, ein höflicher, ernster Herr, der in St. Georges am Hanover Square entzückten alten Damen Nachmittagspredigten hielt. All das war ja gut und schön, doch dann hatte er begonnen, auch mir Predigten über mein Gebaren zu halten. Ich war keine entzückte alte Dame. Ich hatte ihn seit mehreren Monaten nicht mehr gesehen.

Charles wohnte bei seinem Gönner, Sir Philip Meadows, in einem großen Haus in der Nähe des St. James’ Square. Der Weg war nicht weit, doch ich schleppte mich mit langsamen, schweren Schritten die Piccadilly entlang. Ich ertrug den Gedanken kaum, ihn mit meinen Sorgen zu belasten, und – schlimmer noch – ich war gewiss, dass er es mir augenblicklich verzeihen würde. So stand ich kurz davor, mich zu schämen – ein unangenehmes Gefühl.

Doch als ich Charles meine Notlage schilderte, tadelte er mich glücklicherweise so streng, dass ich meine Scham ganz vergaß und ihn stattdessen als selbstgefälligen Pedanten beschimpfen konnte.

»Ach, um Himmels willen, nun gib mir schon den Arrestbefehl«, herrschte er mich an und begann zu lesen. Dann gab er eine Art überraschtes Grunzen von sich. »Der ist für das Marshalsea. Du musst doch wissen, dass Sir Philip der Knight Marshal ist?«

Ach ja? Ich runzelte die Stirn. Meine Gedanken neigten zum Abschweifen, wann immer Charles von seinem erlauchten Gönner und dessen Familie sprach, außer, wenn es um die beiden ältesten Töchter ging. Dieses Thema erregte stets mein Interesse. »Dann gehört ihm das Gefängnis?«, riet ich.

»Es gehört dem König«, erwiderte Charles geistesabwesend, während er weiterlas. »Sir Philip verwaltet das Gericht samt Gefängnis in seinem Namen. Nun ja – er stellt den Direktor ein … Du lieber Himmel, Tom – zwanzig Pfund? Du schuldest diesen Leuten zwanzig Pfund? Das ist mehr, als ich in einem halben Jahr verdiene.« Er starrte das Schriftstück an, als hoffte er, die Zahlen könnten sich von selbst verringern, wenn er die Augen nur schmal genug zusammenkniff.

»Das Leben in London ist teuer.«

Er wies auf die goldenen Knöpfe an meinem Wams. »Nicht notwendigerweise.«

Noch eine Predigt. »Also schön.« Ich entriss ihm den Arrestbefehl und stopfte ihn mir in die Tasche. »Wenn ich verspreche, fortan nichts als braune Strümpfe und triste Hosen aus Barchent zu tragen, hilfst du mir dann?«

Charles lachte wider Willen. »Natürlich helfe ich dir.« Er zog eine eiserne Schatulle von einem hohen Wandbord, schloss sie auf und kippte sie aus. Ein kleines Häuflein Münzen. »Wird das genügen?«

Ich zählte rasch nach. Nicht ganz vier Pfund. Selbst wenn ich sein Geld bis zum letzten Penny annahm, würde es mich nicht vor dem Gefängnis bewahren.

»Ich kann noch mehr auftreiben«, sagte Charles besorgt. Verstohlen ließ er den Blick über seine Habseligkeiten schweifen und schien rasch ihren Wert abzuschätzen. »Das könnte aber ein Weilchen dauern.«

Ha – da hatten wir es. Jetzt schämte ich mich tatsächlich. »Ich leihe mir dieses Geld, aber nicht mehr«, verkündete ich wie ein wahrer Märtyrer. »Und du bekommst es zurück, Charles – du hast mein Wort. Noch heute Nacht, hoffe ich.«

Ganz so viel Glück hatte ich dann doch nicht. Fünf lange Stunden an den Spieltischen hindurch hatte ich verloren und gewonnen, gewonnen und verloren und nie ganz die zehn Pfund erreicht, die meine Gläubiger forderten. Charles – der darauf bestanden hatte, mich zu begleiten – ging auf und ab, setzte sich in eine Ecke und kaute auf dem Daumennagel, verließ den Raum, kam zurück, ging wieder hinaus. Es wurde spät, und ich verlor sechsmal hintereinander. Nun saß ich mit etwas über fünf Pfund da – weniger, als ich hierher mitgebracht hatte. Doch jetzt spielte ich Pharo, und in diesem letzten Spiel hatte ich meinen Einsatz Karte um Karte aufgebaut. Wenn ich zuletzt auf die richtige Karte setzte, konnte ich mein Geld verdoppeln.

Wählte ich aber die falsche Karte … würde ich alles verlieren.

Charles beugte sich über meine Schulter und flüsterte mir ins Ohr: »Tom, um Gottes willen, hör auf.« Er griff nach den fünf Pfund und wollte sie vom Tisch nehmen. »Im Gefängnis wirst du jeden Penny hiervon brauchen.«

Ich hielt seine Hand fest und schob die Münzen zurück auf den Tisch. »Ein letzter Coup. Fünf Pfund auf die Königin. Gott segne sie.«

Der Bankier lächelte. Charles schlug die Hände vors Gesicht. »Du wirst alles verlieren«, stöhnte er.

»Oder es verdoppeln«, gab ich zurück. »Glauben Sie an das Gute, Pastor Buckley.«

Die anderen Spieler machten ihre Einsätze. Der Bankier legte den Zeigefinger auf den Stapel und zog zwei Karten herunter. Das Herz hämmerte mir in der Brust. Guter Gott, wie liebte ich diese Erregung, Hoffnung und Angst in einem einzigen Augenblick vereint. Das Warten auf die Aufdeckung, zum Guten oder zum Schlechten. Der Bankier drehte die erste Karte um – wer auf sie gesetzt hatte, verlor an die Bank. Herz-Fünf. Der Spieler neben mir stieß einen leisen Fluch aus.

Und jetzt kam die Karte, die alles gewann. Ich hielt den Atem an. Der Bankier drehte die Karte auf dem Tisch um.

Karo-Königin.

Ich stieß den Atem aus und lachte dann vor Erleichterung. Ich war gerettet.

 

Betty kam mit unserem Kaffee, gefolgt von unserer guten Wirtin Moll King persönlich mit einem kleinen Krug Punsch. Das Schild über der Tür behauptete, dies sei Tom Kings Kaffeehaus, doch in Wahrheit führte Moll das Geschäft. Sie lieferte die Mädchen, setzte Hehlerware um, verkaufte Geheimnisse, und hin und wieder schenkte sie sogar Kaffee ein.

Sie verscheuchte Betty mit einem Wink, setzte sich dicht neben mich auf die Bank und küsste mich auf die Wange. Zugleich strichen ihre diebischen Finger an meinem Oberschenkel empor. Charles, der mir gegenüber am Tisch saß, blieb bei diesem Anblick der Mund offen stehen. Mit ihrem breiten, kantigen Gesicht, der langen Nase und dem fahlen Teint war Moll keine große Schönheit, und mit ihren dreißig Jahren war die Kieferpartie nicht mehr straff zu nennen. Aber sie hatte einen scharfen Verstand und schlaue, dunkle Augen, die eines Mannes Gedanken blitzschnell zu lesen wussten. Ich liebte sie – wenn ich es mir leisten konnte.

»Wie ich höre, hast du heute Abend gute Karten gehabt«, raunte sie. »Ich will dir gern helfen, deinen Gewinn auszugeben …«

Bei einer anderen Gelegenheit hätte ich vielleicht mitgespielt, doch nicht heute Nacht. Ich brauchte das Geld in meiner Börse. Widerstrebend rückte ich von ihr ab. Molls Hand war augenblicklich wieder auf dem Tisch. »Und wen haben wir hier?«, fragte sie und wies mit einer Kopfbewegung auf mein Gegenüber.

»Das«, sagte ich mit großer Geste, »ist Pastor Charles Buckley.«

»Ist mir eine Ehre«, sagte Moll knapp und musterte seinen gutgeschnittenen schwarzen Rock und die makellos weiße Halsbinde. Allerdings hatte er leere Taschen – das hätte ich ihr sagen können. »Tom spricht oft von Ihnen.«

Überrascht ließ Charles seine Kaffeeschale sinken. »Tatsächlich?« Er lächelte mich an. »Was sagt er denn?«

Moll schenkte sich ein Gläschen von meinem Punsch ein. »Er sagt oft ›Dem Herrgott sei Dank, dass Charles mich jetzt nicht sieht‹.« Sie hob das Glas und stieß mit mir an.

Das Kaffeehaus war gut besucht, die Stimmung ausgelassen. Wie jeden Abend. »Fäuste, Ficks und feinster Kaffee« – so beschrieb Moll ihr Haus, wie ein stolzer Kaufmann, der seine Waren aufzählt. Was in den meisten Kaffeehäusern nur in dunklen Ecken geschah, spielte sich hier vor aller Augen ab: Komplotte wurden ausgeheckt, Börsen geraubt und Hosen aufgeknöpft. Gott allein wusste, was bei Moll in den dunklen Ecken geschah – was blieb da noch? Nicht mehr lange, und die Männer würden nach Hause wanken oder über die Piazza zu einem diskreten Bordell, falls ihnen der Sinn nach Gesellschaft stand. Die Mädchen würden wieder an die Arbeit gehen – die Glücklichen in einem gemieteten Zimmer in der Nähe, die weniger Glücklichen in den finsteren, stinkenden Seitengassen der Strand.

»Tom«, sagte Charles mit gedämpfter Stimme, als Moll eine Pfeife aus ihrer Tasche zog. »Wir sollten gehen.«

Er hatte recht. Mit zehn Pfund im Beutel hier herumzusitzen war töricht. »Wir sollten aber erst den Punsch austrinken.« Der Krug war noch halb voll, und es war höchste Zeit, dass ich endlich lernte, mein Geld nicht zu vergeuden.

Charles erhob sich und nahm seinen Hut von einem Haken an der Wand. »Nun, ich muss mich verabschieden. Sir Philip lässt das Haus um Mitternacht abschließen.«

Moll lächelte ihm zu und steckte ihre Pfeife an. »Oh, hier gibt es genug Männer, die Ihnen bei Schlössern helfen können, Sir …«

»Danke, Charles«, unterbrach ich sie hastig. Ich stand auf und ergriff seine Hand. »Ich werde dir das Geld zurückzahlen, das ich dir schulde. Das schwöre ich.«

Er legte mir eine Hand auf die Schulter und blickte mir tief in die Augen. »Gott hat dir ein Zeichen gesandt, Tom. Er hat dich heute vor dem Gefängnis bewahrt. Du hast eine Chance erhalten, ein neues Leben zu beginnen. Komm morgen früh zu mir. Ich werde mit Sir Philip sprechen, ob wir nicht einen Posten für dich …«

»Gleich morgen, ja.«

Er strahlte mich an, verneigte sich vor Moll und ging. Ich sah ihm hinterher, wie er sich zwischen den Stühlen und Tischen hindurchschlängelte, und verspürte plötzlich den Drang, doch mit ihm zu gehen. Mein Leben lang hatte Charles mir stets nur gut geraten. Aus irgendeinem Grund, der mir selbst unbegreiflich war, befolgte ich seinen Rat jedoch nie.

»Morgen«, sagte Moll.

Ich warf ihr geistesabwesend einen fragenden Blick zu.

»Bei dir heißt es immer morgen, Tom.« Sie betrachtete mich eingehend, das Kinn auf die Hand gestützt. Ich war einer ihrer Lieblinge, das wusste ich. Ich war wohl ganz ansehnlich und ein guter Kunde, wenn ich einmal Geld hatte. Und wenn nicht, sammelte ich an den Spieltischen eben reichlich Neuigkeiten, während ich so zwischen Herren, Dieben und Politikern saß. Hauptsächlich belangloses Geschwätz, aber Moll verstand sich darauf, das Gold herauszusieben. »Ich bin froh, dass du nicht ins Gefängnis musst«, sagte sie. »Vor allem nach Marshalsea. Der Direktor ist ein Ungeheuer …«

Es gab einen lauten Krach, gefolgt von noch lauterem Gejohle am Nebentisch. Ein großer Krug flog durch die Luft und zersprang in hundert Stücke, und eine rote, klebrige Lache Punsch breitete sich auf dem Boden aus. Eine kleine Schar Lehrlinge mit rot bespritzten, ruinierten Beinkleidern schrie eines der Mädchen an, das den Krug angeblich vom Tisch gestoßen hatte. »Du dummes Luder, dafür wirst du bezahlen«, drohte einer höhnisch und packte sie beim Haar.

»Meine Herren.« Moll erhob sich von der Bank. Fast jeden Abend brachen hier Schlägereien aus, doch sie währten nie lange. Moll hatte Männer im Haus, die sie rufen konnte, und unter ihren Röcken steckte ein grausam langer Dolch. Ich hatte mir einmal die Hand daran aufgeschlitzt, als ich nach etwas Weicherem getastet hatte. Die Burschen entschuldigten sich unter Verbeugungen und bestellten einen neuen Krug Punsch.

»Du kannst nicht für so einen Hochwohlgeborenen wie Sir Philip arbeiten«, verkündete Moll ein wenig verächtlich und setzte sich wieder. Dann nahm sie einen tiefen Zug aus ihrer Pfeife. »Komm morgen lieber zu mir. Ich finde schon Verwendung für dich.«

»Was hast du denn im Sinn?«

Moll hatte zahlreiche Vorschläge, von denen die meisten mit Deportation oder Tod durch den Strick bewehrt waren. Dennoch musste ich mir eingestehen, dass ich schon zu lange haltlos durchs Leben trieb und mich hauptsächlich auf Charme und Glück verließ. Vielleicht sollte ich doch für Moll arbeiten. So mühselig dieser Tag auch gewesen war, ich hatte es genossen, zur Abwechslung einmal ein Ziel zu haben. Eine Karte, die über Leben und Tod entschied – ein unwiderstehlicher Einsatz für einen wahren Spieler.

»Ich werde es mir morgen überlegen«, sagte ich. »Dank des neuen Königs wird es neue Gelegenheiten geben, neue Gönner … Ich hatte daran gedacht, es einmal mit Schreiben zu versuchen.«

Sie starrte mich erschrocken an. »Du brauchst nicht gleich zu verzweifeln, Herzchen.«

Ich trank meinen Punsch aus und erhob mich zum Gehen. Moll begleitete mich und warf die ausgebrannte Pfeife achtlos hinter sich. Sie prallte von der Tischplatte ab und fiel klappernd zu Boden. »Ich brauche ein wenig frische, reine Luft«, erklärte sie, und wir lachten beide. In Covent Garden gab es nichts Frisches oder Reines, schon gar nicht zu dieser späten Stunde.

An der Tür lehnte sie sich mit dem Rücken an den Türrahmen und blickte auf die Piazza hinaus wie eine Königin, die ihre Jagdgründe überblickt. Moll besaß einen gewissen magischen Glanz, dachte ich, während ich sie so betrachtete. Ihr Kaffeehaus war kaum mehr als ein baufälliger Schuppen. Doch wenn Moll dort drin Hof hielt, fühlte es sich an wie der Mittelpunkt der Welt.

Sie hob den Kopf und schaute zum Himmel. »Finster wie in des Teufels Arschloch. Du brauchst einen Fackelträger.« Sie pfiff scharf durch die Finger, und ein schmales, zerlumptes Geschöpf schoss aus dem Schatten herbei. Dunkle Locken kringelten sich unter einem zerbeulten kleinen Dreispitz hervor. Rutschend kam der Junge vor uns zum Stehen, eine erloschene Fackel in der Hand.

»Ganz allein, Bürschlein?«, fragte Moll. Sie hob sein Kinn an, um ihn besser mustern zu können. »Dich kenne ich nicht, oder?«

Manche Jungen hätten unter diesem furchteinflößenden Blick stotternd ihre Lebensbeichte abgelegt. Dieser hier erwiderte unerschrocken ihren Blick. »Die anderen warten in der Drury Lane. Das Stück ist bald aus. Wohin?«

»Wohin, Mistress King«, korrigierte Moll ihn scharf, doch dann lächelte sie. Als kleines Mädchen hatte sie selbst auf der Straße gearbeitet. »Leuchte diesem Herrn den Weg in die Greek Street.«

Sie wandte sich ihrem Schuppen zu. Aus einer Laune heraus packte ich sie am Arm und küsste sie auf den Mund. Ich schmeckte Rauch, Branntwein und eine Spur süßer Orangen. Sie kicherte und erwiderte den Kuss, und mein Blut geriet in Wallung. Dies hier war eine gewisse Säumigkeit wert, und wenn hundert Arrestbefehle auf mich ausgestellt wären. Ich erinnerte mich an unseren letzten Kuss in jener Nacht, als wir vom Tod des Königs erfuhren. Drei Monate waren seither vergangen. Ich hatte geglaubt, die Welt würde sich verändern. Das tat sie natürlich nicht. Molls Hand glitt tiefer.

Zu meiner Börse.

Ich packte sie am Gelenk und zog die Hand weg. Moll lächelte gelassen. »Ich stelle dich nur auf die Probe. Ich würde doch nicht einen von meinen Leuten bestehlen, nicht wahr, Herr Pastor?« Sie schlüpfte durch die Tür, ehe ich etwas erwidern konnte.

Der Fackelträger rieb sich den Mund, um ein Grinsen zu verbergen. Stirnrunzelnd warf ich ihm einen Penny zu. »Zünde deine Fackel an.«

Er gehorchte, indem er sie an die Laterne neben der Tür hielt. Als das Pech entbrannte, tauchte die Flamme das Gesicht des Jungen in einen weichen, orangeroten Schein.

»Warum hat sie Sie Pastor genannt?«, fragte er und rümpfte die Nase. »Sind Sie ein Pfaffe oder was?«

Oder was. Herr Pastor war ein Spitzname, mit dem Moll mich gern neckte, da sie meine Geschichte kannte. Ich wies auf mein blauseidenes Wams und auf Rock und Hose in der Farbe von Zimt. »Sehe ich denn aus wie ein Pfaffe?«

Er zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen, dass er jedermann alles zutraute. Die überdrüssig wirkende Geste wollte so gar nicht zu diesen jungen Schultern passen. So erging es Jungen, die des Nachts Lebemännern und Huren den Weg zu ihren Betten leuchteten. Das trieb ihnen rasch die Unschuld aus. Nun ja, in dieser Stadt gab es üblere Möglichkeiten, sich einen Penny zu verdienen. Er wandte sich um und marschierte mit hoch erhobener Fackel in Richtung Soho los. Ich setzte meinen Dreispitz auf und eilte ihm nach wie ein Schiff, das dem Nordstern zum Heimathafen folgt.

Eine Frage beunruhigte mich. Sah man mir unter meiner modischen Kleidung noch immer den Geistlichen an? Ich drehte diesen unschönen Gedanken um und um. Seit ich ein kleiner Junge gewesen war – jünger als dieser kleine Racker, der da vor mir herlief –, hatte man mir gesagt, dass mir eine kirchliche Laufbahn bestimmt sei, genau wie meinem Vater, dem Pastor Dr. Thomas Hawkins. (Da haben wir es – er hatte mir sogar seinen Namen gegeben, damit ich eines Tages umso leichter zu ihm werden konnte.) Doch so war es nicht gekommen. Im tiefsten Inneren meiner Seele hatte ich stets gewusst, dass ich mich nicht zum Geistlichen eignete. Die Schwierigkeit bestand darin, dass ich keine Ahnung hatte, wozu ich mich denn eignen mochte. Haben Sie schon einmal ein Kind gesehen, das nicht gefüttert werden will? Es wendet das Gesicht ab – nein, nein, nein. So empfand ich bei der Vorstellung, dem Klerus beizutreten. Ganz gleich, wie oft mein Vater den Löffel an meine Lippen führte, wie oft er auch versuchte, mir Pflichterfüllung, Ehre und Anstand in den Mund zu stopfen. Nein, nein, nein.

Ich war so in meine Gedanken versunken, dass ich kaum auf meine Umgebung achtete, als wir Long Acre überquerten. Auf den Straßen war es still – es war zu spät für die einen, zu früh für die anderen. Wir bogen ab, und dann müssen wir wohl nochmals abgebogen sein, in eine dunkle, schmale Gasse. Alte Holzhäuser lehnten ermattet aneinander. Die oberen Geschosse ragten so weit über die Straße, dass sie einander beinahe berührten. Ein Haus war gänzlich eingestürzt. Das brauchbare Holz war großteils geplündert worden, so dass nur noch ein halb verfallenes Gerüst wie ein Skelett in den Nachthimmel aufragte.

Ein scharfer Windstoß fegte die Gasse entlang, und das Ladenschild eines Fleischers quietschte in den Angeln. Verwundert blieb ich stehen, dann stieß ich einen leisen Fluch aus. Diese Straße war mir fremd. Der Geruch von Balsamöl hing in der Luft – der scharfe Dunst einer nahen Gin-Brennerei. Von ferne war trunkenes Gelächter zu hören. St. Giles. Wir befanden uns in St. Giles.

Ich drehte mich hektisch um mich selbst. Panik flammte in meiner Brust auf. Anstatt weiter westlich nach Soho zu gehen, waren wir irgendwie ins verrufenste Elendsviertel Londons geraten. Nur ein Narr würde sich hier bei Nacht allein auf die Straße wagen. Ich zog meinen Dolch aus dem Gürtel und dankte Gott dafür, dass ich klug genug gewesen war, ihn nicht zu verpfänden.

Der Fackelträger war weit vorausgelaufen, doch nun verlangsamte er den Schritt, blieb stehen und warf mir einen eigenartigen Blick zu.

»Wie heißt du, Junge?«, rief ich.

Er hielt eine Hand vor die Fackel, um sie vor dem Wind zu schützen. »Sam.«

»Bist du ein Mondscheuer, Sam?« Moll hatte mich vor ihnen gewarnt, als ich eben erst in die Stadt gezogen war. Den Mond scheuten Fackelträger, die ihre Opfer von den sicheren Straßen fortlockten in finstere Gassen, wo sie dann überfallen wurden.

Er lächelte. »Sehe ich denn aus wie einer?«, ahmte er mich spöttisch nach.

Der kleine Lumpenhund. Ich ging auf ihn zu. Meine Schritte hallten mir laut in den Ohren, und ich spürte tausend Blicke im Rücken.

»Wir müssen von hier fort. Augenblicklich.«

Ich war nur noch fünf Schritte von ihm entfernt. Er stand ganz ruhig und still da wie eine steinerne Putte auf einem Grab. Und dann huschte sein Blick über meine Schulter – ein hastiger, verstohlener Blick.

Ein leiser Schritt dicht hinter mir. Zu nah – viel zu nah. Ein Arm um meinen Hals. Der Dolch wurde mir aus der Hand gerissen und an die Kehle gedrückt.

»Still.«

In meinem Spielergeist flatterten und ratterten die Gedanken. Sollte ich Gegenwehr leisten? Fliehen?

Die Klinge schnitt mir leicht in die Kehle. »Den Beutel.«

Sam hob die Fackel in die Höhe und beleuchtete die Szene wie in einem Theaterstück.

Ich sollte tun, was der Angreifer verlangte. Gib ihm die Börse. Meine Finger glitten zu dem Lederbeutel an meiner Hüfte.

Nein.

Ehe ich recht begriff, was ich da tat, hob ich die Hände, stieß seinen Arm von meinem Hals und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Dann wirbelte ich zu ihm herum und ging langsam rückwärts. Sollte er mich niederstechen, wenn es sein musste. Aber ich würde ihm dabei in die Augen sehen.

Vorsichtig umkreisten wir einander. Er trug seinen Hut tief ins Gesicht gezogen und hatte sich ein schwarzes Tuch vor Nase und Mund gebunden. Nur seine Augen waren sichtbar, dunkel und mit festem Blick.

Ich trat noch einen Schritt zurück und ließ den langen, scharfen Dolch in seiner Rechten nicht aus den Augen. Mein eigener Dolch, verflucht noch eins, von meiner eigenen Hand geschärft. Ein Treffer wäre genug, um mich gründlich aufzuschlitzen.

»Kommen Sie, Sir, seien Sie kein Narr«, sagte er in ruhigem, vernünftigem Tonfall. Und dann setzte er flüsternd hinzu: »Ich bin nicht allein.«

Er streckte die freie Hand nach dem Beutel aus. Das Blut rauschte mir in den Ohren.

Ich ergriff die Flucht.

Die Welt schien sich um mich zu drehen, als ich an dem grinsenden Burschen vorbeirannte, der die Aufregung und seinen Anteil daran zu genießen schien. Die Gasse wurde noch schmaler, und eine hohe Backsteinmauer ragte vor mir auf. Es war zu dunkel, als dass ich einen anderen Fluchtweg hätte erkennen können. Ich würde darüberklettern müssen. Mit langen Schritten nahm ich Anlauf, als plötzlich eine schwarze Gestalt aus der Dunkelheit geflogen kam und mich zu Boden riss.

Einen Moment lang blieb ich benommen liegen. Der Mann tastete nach meinen Taschen, suchte nach dem Beutel. Mit einem lauten Fluch stieß ich ihn von mir, trat und schlug um mich und schaffte es, mich zu befreien und wieder auf die Füße zu kommen. Doch nun kamen andere, sie kletterten von den Dächern und Balkonen herab, landeten leise auf der Straße und wechselten gedämpfte Worte. Ich tastete im Dunkeln umher auf der Suche nach einem Backstein oder einem Stück Holz, mit dem ich mich hätte verteidigen können, doch ich wusste, was mir bevorstand. Ich hatte gespielt, und ich hatte verloren.

Eine Hand packte mich an der Schulter, und ich wirbelte ängstlich herum. Eine weitere Hand, und noch eine, sie zerrten und grapschten und rangen mich nieder wie Teufel, die mich in die Hölle schleiften. Voller Grauen stieß ich sie von mir, doch es waren zu viele. Wieder schlug ich auf dem Boden auf.

»Haltet ihn fest, Jungs!«, rief der Anführer.

Sie zerrten mich auf die Knie und verdrehten mir die Arme im Rücken, und er kam auf uns zu. Als er an dem Jungen vorbeiging, zauste er ihm den Kopf, und ich erkannte – welch seltsame Klarheit sich in einem solchen Augenblick einstellt! –, dass dies der Vater des Burschen war. Und ich dachte bei mir, dass diese Geste mehr Zuneigung und Stolz ausdrückte, als mein Vater mir in meinem ganzen Leben gezeigt hatte.

Er trat näher, hockte sich vor mich hin und musterte mit diesen dunklen Augen flüchtig mein Gesicht. »Ich habe Sie gewarnt, hübsch stillzuhalten«, sagte er. Das Tuch vor dem Mund dämpfte seine Stimme.

Ich funkelte ihn böse an.

Er gab einem seiner Männer einen Wink.

»Warten …«

Zu spät. Ich bekam einen harten Schlag auf den Hinterkopf. Grell flackerte die Welt vor meinen Augen auf, und dann war sie verschwunden.

[…]

Veröffentlichung der Leseprobe mit freundlicher Genehmigung des Verlages

(wb)