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Der Welt-Detektiv Band 6

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Wird es wieder wie früher?

»Wird es wieder so wie früher?«, fragt Daniel.

»Wenn wir uns an den Plan halten«, sage ich, nehme den Speer und marschiere runter ins Dickicht.

Eisiger Wind, der nach Schnee riecht, stürmt durch die Fichten. Die Luft schmeckt jetzt anders, wie aus einer Filtermaschine. Ist so, seit die Soldaten aufgekreuzt sind.

Daniel sieht mich an. Seine Augen leuchten smaragdgrün, voller Spannung.

Ich schätze ihn auf Mitte zwanzig. Seine strohblonden Haare stehen in alle Richtungen ab, als wäre er gerade aufgestanden. Dabei hat er mindestens fünf Nächte nicht geschlafen.
Seine Wangen sind eingefallen. Trotzdem besitzt er ein gutes Gesicht. Er trägt eine Zahnspange. Ob seine Zähne aber jemals gerade werden, weiß ich nicht.

Er fragt mich, warum es keine Nachrichten über die Soldaten gab. Warum keine Kamerateams kamen und warum nichts im Internet stand, solange es noch funktioniert hatte.

Ich weiß keine Antwort darauf.

Ich versuche, mich nicht an den Tag zu erinnern, an dem die Soldaten auftauchten. Aber ohne Gnade stürzen die Bilder auf mich ein.

Im nächsten Augenblick bin ich wieder zu Hause und stelle mit meiner Tochter Sarah den Weihnachtsbaum auf.

 

Sarah war acht Jahre alt. Mit pechschwarzen Haaren und nachtblauen Augen. Ihre Haut leuchtete dunkelbraun, wie die ihrer Mutter Claire.

Claire war nicht meine große Liebe. Wir hatten niemals so etwas wie die Leute in den Filmen. Wir kriegten es ganz gut auf die Reihe. Aber mehr nicht.

Als die Soldaten kamen, war Claire einkaufen. Lametta. Für den Weihnachtsbaum.

Wenn ich nicht schlafen kann, hoffe ich, sie ist davongekommen. Am Morgen dann weiß ich, es ist nicht passiert.

Ich habe die Leute aus der Stadt schreien gehört. Deswegen bin ich aus unserem Haus auf dem Hügel über der Stadt gerannt.

Die Wolken rissen gerade auf und Sonnenstrahlen tauchten Innsbruck in ein magisches Licht. Es roch aber nicht nach Zauberei, sondern nach Angst und Blut und Scheiße.

Ich stand da und lauschte, wie die Soldaten die Bewohner von Innsbruck abknallten. Einen nach dem anderen.

Später, ich weiß nicht mehr wann, packte ich Sarah und stürmte mit ihr aus dem Haus.

Sie zitterte am ganzen Körper und ich flüsterte: »Hab keine Angst.«

Aber ich habe es versaut. Ich rutschte aus und ließ Sarah fallen. Schüsse krachten. Rund um uns spritzte Erde.

Ich hob sie auf und lief. Weg. Nur weg von den Soldaten. Ich achtete nicht darauf, wie sich mein Hemd vollsaugte, sondern rannte weiter.

Bald schlug waldgrünes Licht über uns zusammen. Aber etwas stimmte nicht.

»Liebling?«, flüsterte ich und blickte zu Sarah.

Ihr Pullover mit der fröhlich lachenden Sonne war voller Blut.

»Liebling! Liebling!«, wisperte ich, als wäre ihre Brust nicht zerfetzt.

Jeder konnte sehen, sie war tot.

»Lass sie hier und komm mit uns«, sagte die ruhige Stimme hinter mir.

Ich wirbelte herum. Ein halbes Dutzend Hinterwäldler starrte mich an. Vor ein paar Stunden noch wäre ich solchen Typen aus dem Weg gegangen.

Kein guter Vater würde seine Tochter mitten im Nirgendwo zurücklassen!

»Ich nehme sie mit«, sagte ich.

»Die Soldaten folgen dem Blut. Dann finden sie uns. Ist zu riskant«, sagte der Kerl mit der ruhigen Stimme.

»Auch ohne Blut finden sie uns«, sagte ich.

»Dann werden wir tun, was wir tun müssen«, sagte der Kerl mit der ruhigen Stimme.

 

Daniel und ich brechen aus dem Dickicht und gelangen zu dem Felsen. Er ragt gut vierzig Meter in die Höhe. Jeden Tag haben wir geübt. Rauf und runter. Rauf und runter.

Wir kennen die Route auswendig. Diesmal aber geht es auf der anderen Seite runter. Da haben wir keine Übung.

Daniel, damals wusste ich seinen Namen nicht, stapfte auf mich zu und streckte die Hände nach Sarah aus. Ich drückte sie fester an mich und trat nach ihm.

Daniel ballte die Fäuste und schlug nach mir. Zwei Hacken erwischten mich. Aber nicht hart genug, um mich flachzulegen.

Etwas anderes schickte mich auf den Boden. Bevor ich in die Dunkelheit abtauchte, wusste ich, einer der Hinterwäldler hat mir von hinten einen Ast über den Schädel gezogen. Warum haben sie mir keine Kugel in den Kopf gejagt?

Wäre wahrscheinlich ein zu großer Gefallen gewesen.

Ich schlug die Augen auf und sah, wie sie die Erde auf Sarahs Grab festdrückten.

Der Kerl mit der ruhigen Stimme bat mich, etwas zu sagen. Ich konnte nicht. Ich starrte einfach die platt gedrückte Erde an, unter der meine Tochter jetzt lag.

Auf einmal summte ich die Titelmelodie ihrer Lieblingsserie. Tränen liefen mir über die Wangen, als ich begriff, sie wird die Serie nie mehr sehen.

 

Ich packe den Felsen und ziehe mich hoch. Dabei fluche ich. Der Speer auf meinem Rücken ist verrutscht. Ich hätte ihn fester binden sollen. Jetzt kann ich nichts mehr ändern. Ich darf ihn nur nicht verlieren.

Daniel klettert ein Stück über mir und sieht zu mir herunter.

»Sie hören uns, wenn du fluchst«, sagt er.

»Wenn sie mich hören, hören sie dich auch«, sage ich.

Daniel grinst und greift nach dem nächsten Felsen.

Vor ein paar Tagen wäre der Junge für mich nichts weiter als ein Hinterwäldler gewesen. Jetzt ist er meine Welt.

Wir erreichen das Plateau in der Mitte der Felswand. Dort rasten wir. Ich kotze. Nur Speichel und Schleim. Ich hätte etwas essen sollen. War aber zu aufgeregt.

Daniel sieht hinunter auf Innsbruck. Für einen Augenblick denke ich, er genießt den Ausblick. Wie kann das nur sein?

 

Vor zwei Tagen war ich in der Stadt. Dort gibt es niemanden mehr. Es stinkt nicht mal nach Leichen, sondern nur nach Desinfektionsmittel.

Daniel lächelt, als wüsste er nicht mehr, dass uns die Soldaten vor fünf Tagen überfallen haben. Um drei Uhr morgens sind sie gekommen. Haben unsere Wachen erschossen und dann den Rest von uns erledigt.

War es Glück oder Pech, dass Daniel und ich entkamen? Hätten sie uns getötet, bräuchten wir uns nicht vor dem zu fürchten, was vor uns liegt.

Ich habe versucht, die Chancen für unseren Plan auf meinem Smartphone auszurechnen. Es funktioniert nicht. Ich kriege immer nur die Videobotschaft unseres Präsidenten rein, der uns bittet, ruhig und friedlich zu bleiben.

Friedlich, dass ich nicht lache. Wie hätten wir uns auch wehren sollen? Es gibt keine Waffen mehr in der Stadt. Und die Gewehre der Soldaten sind mit einem Code gesichert. Keiner von uns kann den knacken.

Uns blieben Speere und ein paar Werkzeuge. Das war’s. Man braucht kein Genie sein, um zu begreifen, dass sie uns früher oder später umlegen.

Wir besitzen nur eine wertvolle Sache. Die Route der Soldaten.

Jeden dritten Tag marschiert eine Zwei-Mann-Patrouille durch den Birkenwald unter dem Felsen. Bei Sonnenuntergang kreuzen sie dort auf.

Daniel zieht sich über den letzten Felsen. Der Stein zerrt seinen Pullover hoch und zerkratzt seinen Bauch. Es kümmert ihn nicht. Ich folge ihm, gehe in die Hocke und warte.

Die Felswand fällt auf dieser Seite drei Meter senkrecht auf die Forststraße runter.

Wenn die Soldaten auftauchen, versuche ich, den ersten von ihnen zu töten. Den zweiten muss Daniel irgendwie ins Loch werfen. Ohne ihn dabei umzubringen.

Das ist unser Plan.

Über dem Birkenwald liegt eine undurchdringbare Stille. Kein Tier schreit. Keine Blätter rascheln.

Ich denke an meine Frau und meine Tochter. Werde ich sie wiedersehen, wenn ich sterbe? Wäre das nicht das Mindeste, was Gott für uns tun könnte?

»Sie kommen«, flüstert Daniel.

Alle Farbe weicht aus seinem Gesicht. Einen Augenblick sieht er aus, als wäre er schon tot.

Zwei Soldaten marschieren den Weg rauf. Helme verbergen ihre Gesichter.

»Damit es wird wie früher«, flüstert Daniel und lächelt.

Ich lächle zurück. Vielleicht zum letzten Mal.

Ich springe. Umklammere mit beiden Händen den Speer. Hole aus. Eisige Luft schlägt mir ins Gesicht. Sie riecht nach Herbst.

Alles geschieht jetzt wie in Zeitlupe.

Der hintere Soldat blickt auf. Dabei verrutscht sein Helm. Eine dicke Skimaske verdeckt sein Gesicht. Weltraumschwarze Brillen schirmen seine Augen ab.

Unter der pechschwarzen Uniform trägt er einen Panzer.

Ich jage ihm den Speer in den Nacken. Etwas in ihm zerbricht. Ich ramme den Speer tiefer in sein Fleisch. Blut spritzt.

Aus seinem Mund kommt ein gurgelndes Geräusch. Er knallt auf den Boden. Seine Beine schlagen wild um sich, als versuche er, einen besonderen Tanzschritt zu meistern.

Dann rührt er sich nicht mehr.

Ich ziehe ihm die Maske vom Kopf.

Sein Gesicht ist makellos, wie von einem Model oder Schauspieler. Nur seine Augen sind anders. Es sind die eines Insekts.

Ich durchsuche ihn. Nichts.

»Hey!!! Hey!!!«, schreit Daniel, springt hinter der Grube auf und ab und trampelt wie verrückt auf dem Gewehr des Soldaten herum.

Im Loch liegt der zweite Soldat. Sein linkes Bein steht in einem eigenartigen Winkel ab.

Ich springe zu ihm runter. Den Speer vor mir. Zur Sicherheit.

Ich reiße ihm die Maske runter. Er könnte glatt der Bruder des ersten Soldaten sein. Seine Insektenaugen sind genauso leer, als wäre er schon tot.

»Frag ihn, wann es wieder wird wie früher«, schreit Daniel. »Frag ihn.«

Bevor ich das tue, flüstert der Soldat: »Gratuliere.«

Seine Stimme rauscht wie eine Zwanziger-Jahre-Schallplatte.

»Wozu?«, frage ich.

»Ihr habt gewonnen«, sagt der Soldat.

»Keine Ahnung, wovon du redest«, sage ich.

»Ihr seid die Letzten, die noch leben«, sagt der Soldat. »Damit habt ihr gewonnen. Ihr seid jetzt die Götter der Erde. Macht es besser. Das ist eure letzte Chance.«

Er drückt den Knopf auf seiner Weste. Ticken. Hört sich nach einer Bombe an.

Ich klettere aus der Grube. Jetzt habe ich nicht mehr die geringste Lust zu sterben.

Der Soldat implodiert, als wäre er niemals da gewesen.

»Wird es wieder wie früher?«, fragt Daniel und glotzt mich an.

»Es wird besser. Viel besser«, sage ich und frage mich, wie ich den Jungen schnell los werde, um allein Gott zu sein.

(pm)