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Der Welt-Detektiv Band 6

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Das Spiel der Schatten

I

Andy Perkins lief ei­nen lan­gen Ei­sen­bahn­schacht ent­lang. Er konn­te sei­ne Schrit­te in die­sen monst­rö­sen, kal­ten Gän­gen wi­der­hal­len hö­ren. Er war auf der Su­che nach et­was – doch er wuss­te nicht ge­nau, was es war. Die Gän­ge schie­nen kein Ende neh­men zu wol­len, schie­nen ihm zu sa­gen, dass er wei­ter­lau­fen soll­te. Doch wo­hin wür­de er lau­fen? Exis­tier­ten die­se Ei­sen­bahn­schie­nen über­haupt, oder bil­de­te er sich das al­les nur ein?

Perkins kam schließ­lich schwe­ren Atems zu ei­ner Bie­gung, die sich in zwei wei­te­re Wege auf­teil­te. Doch nir­gend­wo be­fand sich ein Schild, wel­ches ihm ge­sagt hät­te, wel­chen Weg er hät­te ein­schla­gen müs­sen. Perkins blieb ste­hen. Sein Herz­schlag be­schleu­nig­te sich von Se­kun­de zu Se­kun­de und auf sei­ner fal­ti­gen Stirn bil­de­ten sich klei­ne Schweiß­per­len.

Was war das für ein Ort?

Ur­plötz­lich glaub­te Perkins, ei­nen Ge­sang zu ver­neh­men. Ei­nen Kin­der­ge­sang. Er schien di­rekt aus dem lin­ken Gang zu kom­men. Andy Perkins über­leg­te, ob er nicht um­dre­hen soll­te, doch sei­ne Neu­gier­de schien über die Angst zu sie­gen. Er nahm schließ­lich den lin­ken Gang und rann­te im­mer schnel­ler. Der Ge­sang wur­de von Schritt zu Schritt im­mer lau­ter und un­heim­li­cher.

»Wer ist da?«, rief Perkins und blieb ei­nen kur­zen Mo­ment ste­hen.

Der Ge­sang hat­te ur­plötz­lich auf­ge­hört. Al­les, was Andy ver­nahm, war der eis­kal­te Luft­sog, der ihn er­fass­te, der sprich­wört­lich durch Mark und Bein ging. Es kam kei­ne Ant­wort. Andy lief wei­ter. Der Gang schien im­mer schma­ler zu wer­den. Dann und wann kam er zu ei­ner gro­ßen Stahl­tür, auf wel­cher eine uni­den­ti­fi­zier­ba­re Schrift ein­ge­prägt war. Der Tür­he­bel hat­te die Form ei­nes To­ten­kop­fes. Auf ein­mal ver­nahm Perkins den Schrei ei­nes klei­nen Mäd­chens, der schließ­lich in un­verständ­li­ches Wim­mern über­ging. Perkins fuhr ein eis­kal­ter Schau­er über den Rü­cken. Erst jetzt re­a­li­sier­te er, dass sein gan­zer Kör­per vor Angst zit­ter­te.

»Wer zum Teu­fel ist da?«, frag­te er mit zer­brech­li­cher Stim­me.

Jetzt öff­ne­te sich die gro­ße Stahl­tür mit ei­nem lau­ten Kna­cken, das sich für ihn so an­hör­te, als ob man buchs­täblich das Tor zur Höl­le öff­nen wür­de. Doch er konn­te nichts se­hen au­ßer ei­nem ro­ten Licht, das im­mer hel­ler zu wer­den schien. Sein gan­zer Kör­per wur­de von ei­nem tie­fen, ste­chen­den Schmerz er­fasst und dann pas­sier­te es: Er er­wach­te.

Ein has­ti­ger Blick auf sei­nem We­cker teil­te ihm mit, dass es ge­ra­de vier Uhr mor­gens war. Sei­ne Hän­de wa­ren eis­kalt. Sein Herz­schlag nor­ma­li­sier­te sich all­mäh­lich wie­der und nahm den ge­wöhn­li­chen Rhyth­mus an. Perkins hat­te sich nor­ma­ler­wei­se nie mit Alp­räu­men he­rum­schla­gen müs­sen, doch die­ser Traum kehr­te im­mer wie­der zu­rück. Es wäre schon bei­na­he tri­vi­al ge­we­sen, zu den­ken, dass es sich bei die­sem Traum nur um ei­nen Streich des Un­ter­be­wuss­ten han­del­te. Nein, die­ser Traum war ei­gen­ar­tig. Ei­gen­ar­tig des­halb, da er ihn als so un­glaub­lich real emp­fand. Perkins be­weg­te sich lang­sam aus dem Bett, über wel­chem ein Schal der Red Sox hing. Sein gan­zes Zim­mer war über­sät von Base­ball­caps, Pos­tern und na­tür­lich auch Base­ball­schlä­gern. Andy lieb­te den Sport und in die­sem Fall war er sich ei­nig, dass er tief in sei­nem In­ne­ren ein klei­ner Jun­ge ge­blie­ben war. Er er­in­ner­te sich noch ge­nau an sei­ne ers­te Lie­be Mi­chel­le, mit der er da­mals im Au­to­ki­no rum­ge­knutscht hat­te, aber viel­mehr noch an die vie­len Base­ball­spie­le mit sei­nem Va­ter. Sein Va­ter hat­te ihm die­sen Sport bei­ge­bracht, ge­nau so wie das Kar­ten­spie­len. Durch ihn hat­te er er­fah­ren, was Team­geist und Dis­zip­lin wirk­lich be­deu­te­ten und was sie be­wirk­ten. Perkins über­leg­te sich, ob er sich noch mal hin­le­gen soll­te, da er je­doch schon in ei­ner Stun­de zur Ar­beit muss­te, ent­schied er sich da­für, wach zu blei­ben. Andy nahm eine hei­ße Du­sche, ra­sier­te sich und zog sich schließ­lich an. Ei­gen­tlich war er Schrifts­tel­ler, doch im Mo­ment hat­te er eine klei­ne Schreib­blo­cka­de, wie er es selbst lie­be­voll nann­te.

II

Er ar­bei­te­te des­halb in ei­ner Bar Ro­se­gar­den als Bar­kee­per, um sich ein paar Krö­ten ext­ra zu ver­die­nen. Ir­gend­wie fehl­te ihm im Mo­ment die In­spi­ra­ti­on für eine neue Ge­schich­te. Oft­mals be­nö­tig­te er da­für nur ein Bild oder ei­nen Zei­tungs­ar­ti­kel. Auch vie­le be­rühm­te Men­schen wie Ja­mes Dean oder Ma­rilyn Mon­roe bo­ten für ihn heim­li­che In­spi­ra­ti­ons­quel­len. Die bes­ten Ge­schich­ten schrieb das Le­ben schließ­lich im­mer noch selbst.

Vor Kurz­em hat­te er zwar ei­nen klei­nen Kurz­ge­schich­ten­band mit dem Na­men Ta­les of the Sha­dow-World he­raus­ge­bracht, wel­ches je­doch bei den Le­sern größ­ten­teils un­ge­ach­tet blieb. Manch­mal glaub­te er, dass sich die Men­schen we­ni­ger mit Hor­ror und statt­des­sen mehr mit der Wis­sen­schaft be­fass­ten. Wahr­schein­lich pass­te es mehr zu die­ser Tech­nik­ge­ne­ra­ti­on. Vie­le Men­schen la­sen eben lie­ber Bü­cher aus der Fe­der ei­nes Dan Brown, an­statt sich mit ei­ner frei er­fun­de­nen Hor­ror­ge­schich­te he­rum­zu­schla­gen. So war das Le­ben eben – ent­we­der man pass­te sich die­ser Zeit an, oder man blieb auf der Stre­cke.

Andy war kei­nes­falls ein Mann, der auf der Stre­cke blieb. Mit 21 Jah­ren hat­te er an der Uni­ver­si­tät in Lon­don Jour­na­lis­tik stu­diert und na­tür­lich auch sein Exa­men er­folg­reich ab­sol­viert. Da­nach ar­bei­te er als Jour­na­list bei der recht un­be­kann­ten News Tod­ay, wo er un­ge­fähr zwei Jah­re ver­weil­te. Spä­ter be­gann er schließ­lich Kurz­ge­schich­ten zu ver­fas­sen – stell­te ei­ni­ge da­von so­gar in das In­ter­net. Als nie­mand auf sei­ne Ge­schich­ten auf­merk­sam wur­de, bat er sei­nen Freund und Ver­le­ger Har­ry Dean Pe­ter­sen eine sei­ner Kurz­ge­schich­ten zu ver­öf­fent­li­chen. Mit Er­folg. Schon nach drei Mo­na­ten ver­kauf­te er eine gan­ze Kurz­ge­schich­ten­samm­lung und ver­fass­te auch sei­nen ers­ten, er­folg­rei­chen Ro­man Im Spie­gel der Macht. Da­rin ging es um ei­nen macht­hungri­gen Po­li­ti­ker, der selbst vor Mord nicht zu­rück­schreck­te.

Al­les kam ihn wie ein weit ent­fern­ter Traum vor, den man sich als klei­ner Jun­ge des Öf­te­ren vor dem Schla­fen ge­hen aus­mal­te. Andy ist zwar nicht reich ge­wor­den, konn­te sich aber den­noch ein schi­ckes klei­nes Haus leis­ten und war des­halb nicht ge­zwun­gen, über­mä­ßig hohe Kre­di­te auf­zu­neh­men. Al­les ver­lief wie am Schnür­chen. Andy lieb­te den Ne­ben­job als Bar­kee­per. So konn­te er sei­ne so­zi­a­len Kon­tak­te pfle­gen und war im­mer auf den neu­es­ten Wis­sens­stand.

Er be­schloss, sich noch ei­nen star­ken Kaf­fee zu ko­chen, ehe er das Haus schließ­lich sich selbst über­ließ. Nor­mal­er­wei­se be­stand sein Früh­stück nur aus ei­nem star­ken Es­pres­so und ei­ner Zi­ga­ret­te – ein mor­gend­li­ches Ri­tu­al. Doch nun hat­te er mit dem Rau­chen auf­ge­hört. Er hat­te den Rauch nicht mehr als an­ge­nehm, son­dern als schäd­lich und stin­kend emp­fan­den. Andy trank sei­nen Kaf­fee in al­ler Ruhe und ver­ließ sein Haus. Er stieg in sei­nen blau­en Ford Chal­len­ge ein und fuhr zur Ar­beit. An je­nem Mor­gen wirk­te Geo­rge­town so lehr ge­fegt wie eine längst ver­ges­se­ne Geis­ter­stadt, und man hät­te für ei­nen kur­zen Au­gen­blick mei­nen kön­nen, sich in ei­nem an­de­ren Jahr­hun­dert zu be­fin­den. In letz­ter Zeit ver­schwan­den in Geo­rge­town selt­sa­mer­wei­se ei­ni­ge Kin­der, die Po­li­zei such­te be­reits seit zwei ge­schla­ge­nen Wo­chen wie be­ses­sen nach ih­nen. Seit­dem lie­ßen vie­le Müt­ter ihre Kin­der nicht mehr aus den Au­gen und ver­bo­ten ih­nen so­gar, nach der Schu­le noch um­her­zu­to­ben. Wahr­schein­lich hielt sich ir­gend­ein Pä­do­phi­ler in die­ser Ge­gend auf, den man frü­her oder spä­ter schnap­pen wür­de. Man bräuchte nur eine Hand­voll gu­ter Fo­ren­si­ker wie aus der Se­rie CSI und sie hät­ten den Tä­ter in­ner­halb von ei­ner Wo­che. Wahr­schein­lich.

Andy park­te sein Auto auf dem Park­platz hin­ter dem Ro­se­gar­den und ge­noss mit ei­nem tie­fen Atem­zug noch ein­mal die Ruhe vor dem Sturm.

»Hal­lo Andy! Wie geht’s«, frag­te Dept. Shaun Wil­li­ams, der ge­ra­de die Tür des Ro­se­gar­den öff­ne­te, um sich ei­nen ext­ra star­ken Kaf­fee zu be­sor­gen.

»Na ja, es geht so. Hab heu­te mal wie­der schlecht ge­schla­fen«, ent­geg­ne­te Perkins ihn mit ge­senk­tem Kopf.

»Was du nicht sagst, Andy. Ich hab auch nicht ge­ra­de sehr viel ge­schla­fen.«


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