Das große Verschwinden
Das große Verschwinden
Leben ist Illusion, und Realität nur ein Teilchen der Vorstellungskraft.
Träume sind angeblich nur Schäume. Das jedenfalls sucht uns die Schulweisheit zu lehren. Aber wie oft ist mir schon aufgefallen, dass ich im Wachzustand Dinge erlebte, die mir als Déjà-vu-Erlebnisse von Träumen her bekannt vorkamen?
Unzählige Male sicher! Ihnen haftete ein Atem des Vertrauten an, der mir durch den Schleier des bewussten Denkens vorenthalten wurde, und erst, wenn es geschehen war, mich die Erkenntnis durchfuhr, dass ich das schon einmal erlebt habe. Ja, dass ich das eigentlich vorher schon gewusst hätte.
Ich habe versucht danach zu greifen, aber es ließ sich nicht fassen. Jedenfalls nicht wissenschaftlich. Es seien Zufälle, und manchmal würde das Wunschdenken der betreffenden Person Situationen hervorrufen, die dem Geträumten entsprächen. Eine – in meinen Augen – sehr schwache Erklärung für das Übersinnliche.
Es ist mir nicht gelungen, dieses faszinierende Thema genauer zu untersuchen, da mein Leben eine andere Wende genommen hat. Ich habe nach den Sternen gegriffen. Und dies ist meine Geschichte.
Mein Name ist Ray Kinsella, und in zwei Jahren werde ich so alt sein, wie mein Dad vor fünfundzwanzig Jahren. Mit dreißig hielt ich ihn bereits für einen alten Mann. Zu meiner Rettung kann ich nur anführen, dass ich damals fünf Jahre alt war, und in diesem Alter sehen alle Erwachsenen alt aus. Kann es sein, dass meine Tochter heute genauso denkt? Ich setze mal voraus, dass dem so war.
Über uns Kinsellas gibt es eigentlich wenig zu sagen. Ein W.P. Kinsella schrieb 1982 mal ein Buch über Shoeless Joe Jackson. Für meinen Vater war es eines der wunderbarsten Geschichten, die er je gelesen hatte. Er war stolz darauf, dass ein entfernter Verwandter so gut schrieb und einen Fußabdruck hinterlassen würde. So pflegte er sich jedenfalls auszudrücken. Damit deutete er an, dass sein Leben ganz ohne Bedeutung sei, und wenn er mal starb, nichts mehr an ihn erinnern würde. Aber den anderen Kinsella, der hatte so fest mit seinem Fuß aufgestampft, dass er einen gewaltigen Abdruck hinterlassen würde. Als das Buch Jahre später mit Kevin Costner als Field of Dreams verfilmt wurde, machte ihn das sehr glücklich, auch wenn er es nicht gleich jedem ins Gesicht zusagte.
Meine Mutter Lisa und mein Vater waren sehr einfache Leute. Ich will ihnen damit nicht anhängen, dass sie zurückgeblieben waren, sondern nur zum Ausdruck bringen, dass ein Tier oder ein Mensch mit einem Problem oder Wehwehchen ihnen viel mehr bedeutete, als etwa einen Mann auf den Mond zu schicken. Kabelfernsehen, Satellitenschüsseln und Computer blieben meinen Eltern ständig suspekt. Sie mussten all die Dinge greifen können, die ihnen etwas bedeuteten. Alles, mit Ausnahme der Liebe zu Gott. An ihn konnten sie glauben, ohne ihn mit ihren Händen fühlen zu müssen. Ich fragte meine Mutter einmal, wieso das so war und sie antwortete, Gott sei ständig um sie. Sie brauche nur auf das Land zu sehen, die Tiere, die Bäume und Pflanzen zu betrachten, und sie wisse, dass dies alles durch die Hand eines Allmächtigen geschaffen worden sei. Das hat sie wahrscheinlich beide glücklich gemacht.
Die Farm in Iowa war alles, was sie je besaßen, und um sie zu erhalten, taten sie auch alles. Arbeiteten von früh bis spät. Sie lebten ein Arbeiterleben. Dann wurde ich geboren, verlebte meine ersten Lebensjahre da – und glückliche, will ich noch hinzufügen.
Weit weg von zu Hause ging ich aufs College, um dann später die Uni zu besuchen. Dort lernte ich auch meine Frau Marie kennen. Sie steckte sich zwar zu der Zeit eine fürchterliche Frisur, aber sie war der beste Mensch, der mir je über den Weg lief. Nachdem wir so lange wie möglich bei ihren Eltern blieben – und das war immerhin einen ganzen Nachmittag – suchten wir uns etwas Eigenes. Später heirateten wir und bekamen Melanie – wir nennen sie nur Mel. Sie roch zwar in der ersten Zeit etwas streng, aber wir beschlossen sie trotzdem zu behalten.
Am selben Tag, an dem ich ins Trainingscenter aufgenommen wurde, verstarb mein Vater. Er kippte während des Mittagessens einfach plötzlich um und wachte nicht mehr auf. Mutter verkaufte die Farm, ging in die Stadt und versuchte sich neu auszurichten. Es gelingt ihr mehr schlecht als recht. Wahrscheinlich wird sie bald meinem Vater folgen. Sie waren im Leben gütig zueinander und fast unzertrennlich. Was soll da der Tod daran ändern?
Mein Vater ist nun fast fünf Jahre tot, und trotzdem kann ich mich noch gut an ihn erinnern. Ich glaube, obwohl sein Fußabdruck in der Zeit kaum ersichtlich war, hat er doch einen prägenden Eindruck hinterlassen. Jedenfalls sehe ich es so: Solange ich mich an ihn erinnern kann, ist mein Dad nicht ganz tot. Er wird in meiner Erinnerung weiterleben, und eines Tages werde ich diese meiner Tochter weitergeben.
Zu mir selber fällt mir nur Marginales ein: Ich bin achtundzwanzig, glücklich verheiratet, verliebt in meine Tochter und in zehn Tagen stehe ich vor meinem ersten Flug. Es ist kein gewöhnlicher Flug, sondern einer, der uns zum Pluto bringen wird. Die Startbahn ist schon fast startklar, die Flugfenster auf dem Weg zum O.K., und langsam macht sich unter den Teilnehmern eine gewisse Spannung bemerkbar. Auch bei mir.
Vieles von dem vorher Erwähnten hat mit dem eigentlichen Kern der Story wenig zu tun, aber es hat doch dazu beigetragen, mich zu dem Menschen zu machen, den ich heute darstelle. Es hat geholfen mich ehrfürchtig vor dem Leben zu machen, das diesen Planeten bevölkert. Ich gestehe es rundherum: Ich bin ein Patriot, aber einer der Erde! Ich fühle mich als Terraner und bin stolz darauf, und wenn wir die Reise zum Pluto antreten, dann werde ich diesen Schritt nicht nur für mich, sondern für die gesamte Menschheit vollbringen. Abgesehen davon haben am Projekt auch Sorten von Leuten mitgeholfen, die allen Nationen dieses Globusses entstammten. Es ist also so, dass wir gemeinsam am Gelingen gearbeitet haben. Und die Früchte davon werden allen zukommen.
Trotzdem, es fällt mir geradezu unheimlich schwer, von dem zu schreiben, was mir zugestoßen ist. Kommt es daher, dass es sich weder dem wachen Zustand, noch vollkommen einem Traum zuordnen lässt?
Es fing damit an, dass wir nach Wochen harten Trainings endlich wieder einmal Zeit für uns selbst bekamen. Es wurde uns eine Ferienwoche zugeordnet. Wir nannten es bloß zynisch eine Anhäufung freier Tage. Ferien so kurz vor dem Absprung hatten mit Erholung und Entspannung nichts mehr gemeinsam.
»Ein paar Tage zur Besinnung, bevor es wieder losgeht«, meinte Calmonte, unser Vorgesetzter.
»Schnappt euch eure Bräute und Kinder und verschwindet in die Berge oder ans Meer. Und tut, was ihr schon lange auf die lange Bank geschoben habt.«
Wir waren sechs Leute, die vom Training übrig geblieben waren, und bei diesen Worten blickten wir uns alle grinsend an. Jeffrey wurde sogar etwas rot, aber kein Wunder, er war derjenige, der erst seit kurzer Zeit verlobt war. Er würde es schon noch lernen, nicht bei jedem zweideutigen Spruch die Farbe zu wechseln.
Calmonte fuhr in seinem Sermon ungerührt weiter:
Ich will euch in den nächsten paar Tagen einfach nicht sehen, kapiert? Wenn ich einen von euch erwischen sollte, wie er sich aufs Gelände schleicht, um die Übungen fortzusetzen oder sogar in den Büchern schmökert, den lasse ich eigenständig vor ein Erschießungsgericht treten und abknallen.
Tja, was soll ich groß sagen: Wir liebten unseren Vorgesetzten genauso, wie er einen Narren an uns gefressen hatte. Aber er hatte recht. Von mir aus hätte seine Ansprache auch etwas kürzer ausfallen können, denn es dauerte mir fast schon zu lange, bis bereits wenige Stunden später Wasser vom Atlantischen Ozean meine Füße umspülte.
Marie und Mel tobten um mich herum und trieben mich dann unter gemeinsamen Anstrengungen ins Wasser, als ich zuerst den müden Mann mimen wollte.
Nichts da, Sunnyboy, rief mir meine Frau zu, als sie sich auf mich stürzte und mich unter dem Quietschen von Mel dem kühlen Nass zutrieb. Und dabei veranstalteten beide einen Lärm, als würden Hunderte von Töpfen eine Treppe runterpoltern.
Nach einiger Zeit gelang mir doch noch die Flucht. Ich rettete mich auf mein hart erkämpftes Badetuch, legte mich nieder und schloss für einige Zeit die Augen. Die Möwen kreischten schrill, verloren sich aber in der Brandung des Meeres, und alles untermalt von den Lauten der Leute, die sich am Strand tummelten.
Schlussendlich musste ich doch eingeschlafen sein, denn als ich erwachte, lagen nur noch die leeren Badetücher neben mir. Sie sahen aus, als wären sie kurz benutzt worden. Wahrscheinlich hatten Marie und Mal sich aufgemacht, um sich an irgendeiner Strandtheke ein Eis zu ergattern. Mir sollte es nur recht sein. Ein paar Augenblicke ohne jeden Lärm würden mir nur gut tun.
Die Sonne stach aus einem wolkenlosen Himmel herab und ich hätte mich sicherlich verbrannt, wenn Marie den Sonnenschirm nicht ausgerichtete hätte. Dann wäre ich jetzt sicherlich so rot wie Mickey Mouse’ Hose aus einem seiner früheren Filme.
Mir war unheimlich wohl zumute. Ich weiß, das kam fast schon einem Verbrechen gleich, aber es ging mir wirklich sehr gut. Eine leichte Anspannung konnte ich nicht leugnen, aber mit dem Wissen gebraucht zu werden – und das erst noch zu einer Plutomission – fühlte es sich schon wieder speziell an. Ich genoss sogar den seltenen Luxus, keine Gedanken im Kopf zu haben, da es sich nicht lohnte, an etwas zu denken. Mein Leben war in den richtigen Bahnen und ich besaß das seltene Gefühl, dass alles gut werden würde. Als ob mich jemand an die Hand genommen hätte und mich nun begleiten würde. Ein Gefühl, das tiefe Befriedigung in mir auslöste.
Später griff ich kurz zu einem Buch, das mitgekommen war. Wahrscheinlich eines von denen, das monatelang auf den Bestseller-Listen stand, und schlussendlich sogar seinen Weg in unser Schlafzimmer gefunden hatte. Dort würde es das Schicksal vieler anderer Bücher teilen, nämlich unberührt auf dem Nachtisch herumzuliegen. Ich blätterte einige Seiten durch, bevor ich es dann ganz bleiben ließ.
Eine warme Brise streichelte über die Haut und der Sand unter den Füssen tat sein Übriges zu meinem ausgezeichneten Gemütszustand.
Wie lange ich so ohne jeglichen Zeitsinn herumlag und die Freiheit genoss, hier herumliegen zu können ohne jegliche Verantwortung, ohne Hast und ohne trübe Gedanken, kann ich jetzt nicht mehr sagen. Als ich aufschaute und abzuschätzen versuchte, wie spät es war, hatte sich die Sonne bereits bedrohlich dem Meereshorizont genähert.
Mein Dad hatte mir in Iowa beigebracht, wie man am Stand der Sonne die Zeit abmessen konnte, aber inzwischen ist mir das abhandengekommen. Ich sollte mir wohl besser dieses alte Wissen wieder aneignen, damit ich es wenigstens Mel weitergeben konnte. Es gibt einfach ein paar Dinge, die man seinen Kindern mit auf den Weg geben sollte. Dazu gehört wohl auch, wie man mitten in der Nacht anhand der Wolken feststellte, ob der morgige Tag schön oder bewölkt werden wird. Mein Vater hatte das alles immer gewusst.
Vor der Sonne hatte sich ein kleiner, verwaschener Fleck gebildet, der langsam deutlicher wurde. Aus dem undeutlichen Geflimmer schälte sich langsam eine Gestalt hervor. Zuerst sah sie groß und sehr dünn aus, da das Sonnenlicht um den Körper herumwaberte. Schließlich konnte ich erkennen, dass ein normaler Mensch den Strand entlang kam. Es war ein ganz gewöhnlicher Mann. Nichts Spezielles, will ich damit sagen.
Sicherlich sehr schlank. Der Oberkörper war braun gebrannt und haarlos, und sehr mager. Er sah aber auch nicht unterernährt aus. Zerschlissene Jeans endeten knapp über den Knien und liefen in Fransen aus, die alle eine unterschiedliche Länge besaßen.
Seine ebenfalls braunen Füße steckten in sandfarbenen Sandalen – Jesuspantoffeln sage ich immer – und bis auf die kreisrunde Brille, die nur die Augen vollständig bedeckten und die Brauen in ihrem ungebändigten Wachstum keineswegs behinderten, waren dies seine einzigen Kleidungsstücke. Das lange schwarze Haar trug er im Nacken mit einer gewöhnlichen Schnur zu einem Pferdeschwanz gebunden. Aber das war etwas, was ich erst später herausfinden sollte.
Auf mich machte der Mann einen zierlichen Eindruck, obwohl sein kraftvoller und federnder Gang das Gegenteil aussagten. Fast schon wie zurückgehaltene Kraft, bereit loszuschlagen, wenn es sein musste.
Er sagte wederHallo, noch fragte er danach, ob mir seine Gegenwart missfiel. Nur sein unmerkliches Kopfnicken gab mir zu verstehen, dass ich für ihn nicht unsichtbar war. Und er setzte sich mit einer Selbstverständlichkeit hin, als gehöre ihm der gesamte Strand.
Meilenweit war der weiße Strand ohne jegliche menschliche Seele. Das fiel mir erst jetzt auf. Badetücher und Schutzschirme waren alle verschwunden. Es gab nicht einmal mehr Spuren, die auf Menschen hingewiesen hätten!
Den Zahnstocher, den er bis zu diesem Zeitpunkt von einem Mundwinkel zum anderen hin und hergeschoben hatte, nahm er nun zwischen Daumen und Zeigefinger. Dann begann er mich anzuschweigen.
Komischerweise war ich weder überrascht noch aufgebracht über sein Verhalten. Es war einfach so. Es ließ sich nicht ändern. Es herrschte zwischen uns so etwas wie ein universelles Verständnis. Auf eine Art und Weise fühlte ich mich wieder in meine Kindheit zurückversetzt, als alles einfacher war zu akzeptieren. Als der logische Verstand zum größten Teil seine Aufgabe noch nicht aufgenommen hatte. Es klingt verrückt, aber mit diesem kindlichen Verständnis kam ich zu der Einsicht, dass ich hier und jetzt auf ihn gewartet hatte.
Jetzt, das heißt später, kann ich mir das kaum mehr erklären, aber zu dem Zeitpunkt stimmte einfach alles. Unsere Lebensbahnen würden sich einmal kreuzen, und das war genau zu jener Zeit am Strand, um dann wieder auseinanderzudriften. Aber erst, wenn wir das erledigt hatten, wozu unser Treffen bestimmt war.
Mögen Sie Geschichten?
Und bevor ich antworten konnte, beantwortete er diese Frage bereits selbst:
Natürlich mögen Sie sie.
Ich nickte trotzdem noch. Dabei überflog sein Gesicht ein Lächeln, als hätte ich nur etwas bestätigt, was er schon lange vor mir über mich gewusst hatte.
Wollen Sie, dass ich Ihnen eine erzähle?
Auch auf diese Frage wusste er die Antwort bereits, denn er begann übergangslos weiterzusprechen.
Es war eine starke Geschichte. Jedenfalls nannte er es so. Für mich war es ein Erlebnis. Seine Worte begannen mit den Wellen zu klingen. Wind, Sand und seine Stimme verschmolzen zu reiner Harmonie.
Und ich? Ich lehnte mich natürlich zurück und hörte aufmerksam zu.
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