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Der Welt-Detektiv Band 6

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Die vornehme Blässe aristokratischer Leichen

Das leidvolle Gebaren der Frau mit aristokratischer Würde störte die Gelehrten in ihrer Konzentration. Also brachten sie ihr mehr Nahrung, die sie dankbar verschlang.

Steve schaute auf seine billige Armbanduhr und seufzte. Heute würde er zu spät zu seinem Termin kommen. Definitiv zu spät. Welche Auswirkungen das auf seine weitere Karriere haben würde, wollte er sich gar nicht vorstellen. Die Vorgaben waren klar: Sei immer pünktlich! Bleib immer höflich!

In dem kleinen, schwarzen Koffer, den Steve in der rechten Hand trug, steckten alle wichtigen Unterlagen, die er für das heutige Gespräch brauchte. Alles war da, er war vorbereitet und nach seinen bescheidenen Möglichkeiten elegant gekleidet. Nun fehlte nur noch das Taxi, dass er bereits vor einer Stunde bestellt hatte und das ihn vor dem grauen Hochhaus in der Barber Road, in dem sich seine kleine Wohnung befand, abholen sollte.

Bisher hatte er sich akribisch an die Vorgaben seines Vorgesetzten gehalten, aber heute wurde es ihm unmöglich gemacht. Höhere Gewalt, dachte er. Aber der junge Mann wusste, dass sich der Chef kein Gejammer anhörte. Niemals. Wer versagte, hatte in Agentur nichts verloren. Wer lamentierte, war einfach zu schwach für den Job. Kein Pardon, keine zweite Chance.

All das wusste Steve und trotzdem wollte er versuchen, die Kundin zu besuchen. Vielleicht machte es ihr nichts aus, wenn er zu spät eintraf. In dieser hektischen Zeit konnte das doch durchaus passieren.

Seine Gedanken wurden von einer alten Frau unterbrochen, die ihn an die linke Schulter tippte: »Verzeihen Sie, junger Mann«, sagte die Alte, die aussah als sei sie aus irgendeiner Gosse hervorgekrochen. Gekleidet war sie in einen schmutzig braunen Mantel und in ein verwaschenes Kleid, das einmal dunkelblau gewesen sein mochte und mit weißen Blümchen bedruckt war. An den Füßen trug sie abgewetzte Schuhe, die womöglich schon seit den vierziger Jahren des letzten Jahrtausends zu ihrer Garderobe zählten. Ihr graues Haar lugte unter dem schwarzen Damenhut hervor. Ein Altfrauenhut, hoffnungslos altmodisch, aber das einzige gut erhaltene Stück an ihr.

Als Steve nicht reagierte, rückte sie näher an ihn heran. In seine Nase stieg der widerwärtige Geruch alter Seife, gemischt mit langsam verwelkender Haut.

»Haben Sie vielleicht Kleingeld?«, fragte die Frau.

Angewidert von der krächzenden Stimme und dem Anblick der alten Frau verzog Steve sein Gesicht zu einer Grimasse und schüttelte den Kopf. Aber die Alte blieb und musterte ihn von oben bis unten. Dieser verdammte Duft nach Altfrauenseife, diese weißen oder cremefarbenen Blöcke, fein abgerundet, mit in die Seife geschnitztem Rahmen und in der Mitte ein aufgeklebtes nostalgisches Bildchen. Seifenstücke, die Steves Urgroßmutter gesammelt hatte. Etwas fürs Auge, aber ganz bestimmt nicht dazu geeignet, moderne Aromen zu verströmen.

»Sind Sie sicher, dass Sie nicht ein wenig Kleingeld haben?«, hakte sie noch einmal nach. »Ich möchte ja nur meinen Schein wechseln. Außerdem sollten Sie nicht mit viel Klimpergeld in der Tasche reisen, das zieht Gauner an.«

Eine Bettlerin war sie also nicht. Die Alte wollte Steve einfach nur auf die Nerven gehen, weil sie vermutlich einsam war. So wie viele alte Menschen, die keinen Lebensgefährten mehr hatten oder nie einen gehabt haben. Ausgestoßen vom Rest der Familie, da man sich nicht gerne mit dem natürlichen Verfall umgab. Und eben aus diesem Grund auch ausgestoßen von der gesamten Gesellschaft.

Alt werden bedeutete, auf den Tod zu warten. Damit wollte sich niemand befassen. Auch Steve verzichtete gerne darauf.

»Nein, ich habe wirklich kein Kleingeld. Und jetzt lassen Sie mich bitte in Ruhe, ich warte auf mein Taxi und habe ganz andere Sachen im Kopf.«

Sein barscher Ton löste eine Reaktion im zuvor so bewegungslosen Gesicht der alten Frau aus. Sie schob beleidigt ihre Unterlippe vor und schüttelte den Kopf. Dann setzte sie sich wieder in Bewegung und wackelte an dem jungen Mann vorbei. Steve machte sich nicht die Mühe, ihr nachzusehen. Ihn interessierte mehr, wie er aus seiner misslichen Lage kommen sollte.

Klar, es war nicht seine Schuld, wenn das Taxi nicht rechtzeitig kam, aber er hätte ja schon gestern abreisen können. Sein Chef bestand darauf, dass man vorausschauend plante und möglichst alle Schwierigkeiten ausschloss, auf die man keinen Einfluss haben würde. Genau das hatte Steve nicht getan. Er hatte sich darauf verlassen, dass in einer Großstadt die verdammten Taxis rechtzeitig da waren. Vor allem dann, wenn sie Stunden vor der geplanten Abreise angefordert wurden.

Wieder und wieder wanderte sein nervöser Blick von rechts nach links. Kein gelbes Auto mit dem typischen Schild auf dem Dach, die Straße blieb leer.

Überhaupt war es viel zu leer für diese Uhrzeit. Keine Autos, keine Menschen. Sogar die Alte war bereits irgendwo zwischen den Häuserblöcken verschwunden – wie auch immer sie das angestellt hatte bei der Geschwindigkeit einer Schildkröte.

Vor ihm standen die mächtigen Türme, in denen unzählige Menschen wohnten oder Büros untergebracht waren. Hier zu leben bedeutete triste Tage. Wer sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht in die Innenstadt wagte, um die zahllosen Vergnügungstempel aufzusuchen, für den wurden selbst Nächte zur finsteren Version des eintönigen Tages. Auch Steve Larkin war Anhänger der Gruppe von Menschen, die sich ihrem Schicksal in grauen Stadtteilen einfach ergaben. Er hatte die Dreißig noch nicht erreicht, doch wer sein schütteres Haar und das stets schmerzlich gelangweilte Gesicht sah, konnte ihn gut und gerne auf jenseits der Vierzig schätzen. Ihm selbst fiel es nicht auf, er glaubte, noch genügend Jugend auszustrahlen, um jeden Kunden für sich gewinnen zu können. Leider sprachen seine schlechten Verkaufszahlen eine andere Sprache.

Sollte es ihn überkommen und er wäre einmal in seinem Leben ehrlich zu sich selbst, würde Steve Larkin zugeben müssen, dass dieser Termin seine letzte Chance war. Der Boss beobachtete ihn, die Kollegen beobachteten ihn. Steve hatte in vergangenen Jahren zwar gute Arbeit geleistet, aber seit einigen Monaten befand er sich im Sinkflug. Erfolge blieben aus, kaum neue Kunden. Jüngere, die seine Stelle haben wollten, warteten nur auf den richtigen Augenblick, damit sie Larkins Stuhl endgültig kippen konnten.

Das Taxi kam und kam nicht. Er würde noch einmal bei der Zentrale anrufen und jemanden anschreien müssen. Das Haus in seinem Rücken warf einen Schatten, der zum Teil die Fassaden der Häuser auf der anderen Straßenseite bedeckte. Ein Schatten, der sich veränderte und doch gleich blieb.

Ja, er musste noch einmal zurück in seine Wohnung, das Telefon zur Hand nehmen, dem verfluchten Taxiunternehmen ordentlich die Hölle heiß machen. Steve seufzte, zuckte kurz mit den Schultern und drehte sich um zu …

… einem etwas heruntergekommenen Anwesen, das die besten Zeiten längst hinter sich hatte, eingerahmt von brüchigen Baumgerippen und wild wuchernden Sträuchern. Gab es denn keinen Gärtner, der sich um das Desaster kümmerte? Wenn die Gräfin auf wichtiges Personal verzichtete, sprach das nicht gerade für finanziellen Wohlstand. Äußerst fraglich, ob er ihr wirklich einige überteuerte Versicherungen verkaufen konnte. Trotzdem musste er es versuchen. Ihre Unterschrift auf zwei oder drei Verträgen konnte Steve wieder in der Gunst des Chefs nach oben steigen lassen. Wenigstens so weit, dass sein Job für eine Weile gefestigt wurde.

Am Himmel zogen schwarze Wolken auf, die baldigen Regen ankündigten. Wie schnell sich doch an solchen Tagen das Wetter änderte. Noch vor einer Sekunde hatte er einen blauen Himmel zwischen Wolkenkratzern gesehen und jetzt betrachtete Steve eine düstere Landschaft. Keine Spur vom Großstadtdschungel.

So rasch konnte das gehen. Waren da nicht Probleme mit einem verschollenen Taxi gewesen? Gut möglich, aber jetzt war er ja da und nur fünf Minuten zu spät. Ein Glücksfall, den er sich nicht erklären konnte. War auch unwichtig, er hatte in letzter Zeit sowieso einige Probleme mit der Realität.

Rasch stieg Steve die Stufen zur pompösen Tür hoch und drückte auf den Klingelknopf. Das Holz war verwittert, die Farbe zum Teil abgeblättert. Insgesamt machte das Haus nicht den Eindruck als würde es sonderlich gut in Schuss gehalten. Viel zu schäbig für eine Aristokratin.

Im Innern des Hauses löste die Betätigung des Knopfes ein grässliches Geräusch aus. Schiefe Töne, die eine kurze, bis zur unkenntlich entstellten Melodie spielten, eingewoben in ein elektrisches Kreischen – dem Schreien einer menschlichen Stimme nicht unähnlich.

Kurze Zeit später wurde die Haustür von einem Mann mit streng zurückgekämmtem Haar geöffnet. Er trug einen feinen Anzug – akkurat, knitterfrei und sauber bis zum letzten Knopfloch. Seine rechte Braue hob sich und er sagte mit der typisch erhabenen Stimme Butlers aus Passion: »Ah, Mr. Larkin, da sind Sie ja endlich. Leider ist sie bereits gegangen.«

»Oh, das ist aber dumm. Wann wird sie wieder da sein?«

»Das kommt darauf an, Sir. Sie spaziert nicht durch die Gegend und besucht auch niemanden im Dorf. Sie ist von uns gegangen, Mr. Larkin.«

»Tot?«, fragte Steve und wurde blass. Da war sie dahin, seine letzte Chance. Jetzt würde der Boss nicht mehr an Steve Larkins Stuhl wackeln, er würde ihn mit einem Fußtritt aus dem Fenster befördern.

»Ganz recht, Mr. Larkin, ganz recht. My Lady verstarb vor etwa fünf Minuten. Leider waren Sie nicht rechtzeitig hier, sonst hätte sie es sicherlich noch etwas hinauszögern können. Aber treten Sie erst einmal ein, ich werde Sie in den Salon führen und sehen, was ich tun kann.«

»Tun? Was wollen Sie schon tun? Meine Kundin ist tot – mein Beileid übrigens – und ich glaube nicht, dass sich ein Butler für teure Versicherungen interessiert, die nur dem Adel vorbehalten sind. Laut den Statuten unserer Gesellschaft …«

Der Butler unterbrach ihn freundlich, indem er Steve sanft am Arm fasste und ihn ins Hausinnere führte: »Sir, das klären Sie bitte mit My Lady. Ich selbst bin nicht der richtige Ansprechpartner. Hier entlang, bitte.«

Mit großen Schritten ging der Butler voraus, Steve folgte ihm und plapperte nervös drauf los, denn er konnte mit dieser Situation nicht umgehen. In all den Schulungen war nur von schwierigen Lagen die Rede gewesen, von schwer zu knackenden Kunden, aber niemals von absurden Begebenheiten oder offensichtlich verrückten Bediensteten.

»Sie haben doch gesagt, die Gräfin sei tot. Wie soll ich dann mit ihr noch reden? Hören Sie? Was soll dieser Blödsinn, das ist doch nur Zeitverschwendung.«

Die Gelehrten tanzten ob ihrer neuen Entdeckung, doch die Frau mit aristokratischer Würde beschimpfte jeden Einzelnen von ihnen, bis ihre Gesichter rot und die Augen trübe waren.

Im Salon servierte der Butler eine Tasse Tee und etwas Gebäck. Ein Gurkensandwich wäre Steve lieber gewesen, aber Zucker würde seine überreizten Nerven bestimmt etwas beruhigen. Dann wurde er allein gelassen und saß dümmlich vor sich hin starrend in einem Raum, der über und über mit Bildern, Figürchen auf Regalen und schweren, gepolsterten Möbeln vollgestopft war. Der ganze Kram sollte dringend versichert werden, denn auf den ersten Blick handelte es sich nicht um billigen, sondern um recht teuren Plunder.

Problematisch schien nur der Gesundheitszustand der Gräfin zu sein. Man hatte ihm gesagt, dass sie tot wäre. Und doch saß er nun auf einem knarrenden Stuhl, trank Tee, knabberte an Keksen herum und wartete geduldig. Auf was? Auf eine Leiche, die ihm einige Verträge unterzeichnen würde?

Langsam ging der Tee in der geblümten Tasse zur Neige. Etwas wenig Milch, dachte Steve, aber ansonsten vorzüglich. Angestrengt überlegte er, wie er es geschafft hatte, über zweihundert Kilometer in fünf Minuten zurückgelegt zu haben. Ohne ein Taxi, ohne den Zug. Eine Drehung um die eigene Achse hatte vollkommen genügt. Wenn das Mode machte, konnten die Reisegesellschaften einpacken. Man müsste nur wissen, wie es funktioniert. Bevor sich seine Überlegungen verselbstständigen konnten, betrat der Butler wieder den Salon: »Möchten Sie noch einen Tee, Sir? Es kann durchaus noch eine Weile dauern, bis sich My Lady von den Gelehrten losreißen kann.«

»Gelehrte? Von welchen Gelehrten plappern Sie da? Außerdem haben Sie gesagt, die Gräfin sei kurz bevor ich eintraf verstorben. Sie ist tot!«

»Wer behauptet das?«, fragte der Butler und zog wieder eine Augenbraue nach oben.

Steve verlor die Fassung und schrie: »Sie haben das gesagt! Sie waren das! Was hat das alles zu bedeuten?«

»Ach, ich habe Ihnen gesagt, My Lady sei verstorben? Nun, dann wird das seine Richtigkeit haben. Kein Grund laut zu werden, Sir, denken Sie an Ihre Nerven.«

Allmählich platzte dem Versicherungsvertreter der Kragen. Eine quer über das kahle Haupt gekämmte Haarsträhne hatte sich gelöst und tanzte fröhlich neben Steves rechtem Ohr. Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, heftig genug um Zuckerdose und Gebäckschale gefährlich nahe an die Tischkante zu befördern.

»Hören Sie, wenn Sie mich hier verschaukeln wollen, dann suchen Sie sich einen anderen Dummen. Entweder Sie rufen jetzt jemanden her, der etwas in diesem Haus zu sagen hat oder ich gehe auf der Stelle und … und … vielleicht werde ich Sie verklagen!«

»Verklagen, Sir? Weswegen? Eine Tasse Tee kann Sie beruhigen, Sir. Sobald My Lady ihren Disput mit den Gelehrten beendet hat, wird man Sie empfangen.«

»Ist sie denn nun tot oder nicht?«, kreischte Steve, außer sich vor Wut, Verzweiflung und Verwirrtheit.

Der Butler schaute ihn streng an: »Sir, natürlich ist My Lady von uns gegangen. Aber das hindert sie ja nicht daran, sich mit ihren Gelehrten auseinanderzusetzen. Nur weil jemand das Leben hinter sich gelassen hat, bedeutet das ja nicht, dass man sich vor seinen Verpflichtungen drücken kann. Wenn das nun alle so handhaben würden …«

»DAS MACHEN ALLE!« Steves Stimme überschlug sich. Er sprang auf, stieß dabei den kleinen Beistelltisch um. Kekse und Zucker verteilten sich auf dem roten Teppich mit schwarzen Schnörkelmustern.

»Wenn man tot ist, dann hat man keine Verpflichtungen mehr, dann … dann … ach, Sie können mich mal, ich werde jetzt gehen!«

Zwei schnelle Schritte, das Aufreißen der Tür und Steve hatte den Salon mit dem Butler darin verlassen.

Schön war es in der Laube. Sonnenschein, blühende Blumen und singende Vögel in den Birken. Einfach herrlich. Steve nahm auf einer weißen Holzbank Platz, ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Der weiße Anzug stand ihm gut, war bequem und so kostspielig, dass er sich nicht vorstellen konnte, ihn jemals gekauft zu haben. Zudem hatte er doch seinen grauen Zweiteiler getragen. Wann hatte er sich umgezogen? Warum hatte er sich umgezogen? Jemand musste ihm doch diese Kleider gegeben haben, vor einer Sekunde erst war er wütend aus dem Salon gestürmt. Jetzt saß er auf einer weiß gestrichenen Bank, umgeben von herrlichen Blumen in kunstvoll gestalteten Kübeln und zog an einer Zigarre. Wundervoll. Er rauchte nicht, hatte sich nie für Tabak begeistern können. Dennoch schmeckte es ihm. Kein Kratzen im Hals, keine Übelkeit.

Die Gelehrten boten der Frau mit aristokratischer Würde noch etwas Nahrung an, aber sie lehnte ab. Sollten sie es doch selbst fressen. Sie hatte genug und ging.

»Willkommen, Mr. Larkin. Es freut mich, dass wir uns endlich kennenlernen.«

Steve vergaß den Genuss einer leichten Tagträumerei, erhob sich und machte eine leichte Verbeugung zu der Dame, die gerade mit eleganten Schritten den Pavillon betrat. Sie war ausgesprochen schön, aber viel zu blass. Ihr Lächeln wirkte offen. Die Frau trug ein knöchellanges Kleid aus weißem Samt, besetzt mit Spitzen. Mit der rechten Hand hielt sie einen kleinen Sonnenschirm über ihr schwarzes, hochgestecktes Haar. Die Linke bewegte einen Fächer vor dem makellosen Gesicht. Sie musste die Enkelin der Gräfin sein, dachte Steve.

»Oh, guten Tag, My Lady. Eigentlich bin ich gekommen, um mit Ihrer Großmutter zu sprechen, aber ich hörte …«

Noch immer lächelnd legte die Frau einen Finger auf ihre Lippen. Sie bedeutete Steve mit einer Geste, sich wieder zu setzen. Ihm Gegenüber, auf einem lackierten Stuhl, nahm die junge Frau selbst Platz.

»Sagen Sie nichts. Sie möchten mit der Gräfin sprechen. Ich selbst bin die Gräfin, mein Guter.«

Steves verwunderter Blick ließ die Aristokratin auflachen.

»Ach, ich weiß, ich sehe jung aus für mein Alter. Das muss Sie nicht stören, Mr. Larkin. Seien Sie gewiss, ich bin es wirklich. Und wenn Ihnen mein Butler gesagt hat, ich sei tot, so liegt das nur daran, dass er ehrlich zu Ihnen sein wollte.«

»Aber … aber …«. Sein Stammeln amüsierte die Frau, die unmöglich älter als Anfang zwanzig sein konnte.

»Sind Sie denn tot, My Lady?«

»Sehe ich etwa so aus?«

»Nein … Gott bewahre … Sie wirken nur etwas bleich, aber ansonsten …«

»Mr. Larkin, das ist eine vornehme, aristokratische Blässe. Ich kann Ihnen auch versichern, dass mein Körper voller Leben steckt.«

Damit gab sich Steve Larkin zufrieden, es genügte ihm als Erklärung, da er weitere Unmöglichkeiten ohnehin nicht verstehen würde. Wenn die Gräfin im hohen Alter, das kaum ein Mensch erreichte, noch derart jugendlich war, sollte sie durchaus in der Lage sein, einige mehr oder weniger sinnvolle Verträge zu unterzeichnen. Sogar eine Lebensversicherung wäre denkbar, denn nichts an ihr deutete darauf hin, dass es in absehbarer Zeit zu einer Auszahlung kam. Stellte sich nur die Frage, wie es um ihre Finanzen stand.

Auf dem Meer fuhr in weiter Ferne ein Schiff in westliche Richtung. Ob es sich wohl um einen Frachter handelte? Oder vielleicht doch um eines dieser riesigen Passagierschiffe? Diese schwimmenden Kleinstädte für reiche Leute. Wie gerne würde Steve ein einziges Mal darauf einige Zeit als stets umsorgter Passagier verbringen. Leider lagen ihm Seereisen nicht. Selbst hier oben, am Rand der Klippe, fühlte er sich beinahe schlecht. Wasser war zu nachgiebig, diesem Element konnte man nicht trauen.

Sein Jackett des grauen Zweiteilers blähte sich in den aufkommenden Windböen und für einige Sekunden schloss er die Augen, um die Meeresluft voller Konzentration einatmen zu können. So roch die Weite, die Unendlichkeit. An seiner Seite stand die Gräfin, die ihr weißes Sommerkleid gegen Hosen, Pullover und Windjacke getauscht hatte. Gerade eben, im Pavillon, hatte sie ihm besser gefallen. Auch jetzt war sie noch immer eine einzigartig schöne Frau, doch die Kleidung betonte für seinen Geschmack viel zu wenig ihre Weiblichkeit.

»Sehen Sie sich das Meer an, Mr. Larkin. Ist es nicht herrlich?«

Steve nickte, obwohl er den Ozean noch immer lieber aus der Ferne betrachtete. Seine Gastgeberin legte eine Hand auf seine Schulter, ihre Berührung erregte ihn. Etwas schien sich zwischen ihm und ihr abzuspielen, doch benennen konnte er es nicht. Ein Gefühl, vielleicht eine Ahnung oder … Sehnsucht?

Er schaute sie nicht an, als er fragte: »Was hat es mit diesen Gelehrten auf sich, von denen der Butler sprach?«

Sie lachte. Ein helles, fröhliches Lachen, das Steve noch mehr begehren ließ. Dann meinte die Gräfin: »Gelehrte, Zauberer, Weise, Magier – oder vielleicht Priester? Nun, man mag sie nennen, wie man will, aber sie halten meinen Verstand wach und sie beschützen mich. Für sie mag ich ein Objekt sein, das sie studieren können, dabei wissen sie nicht, dass sie im Grunde mir dienen. Sie geben mir Fleisch, um mein Fleisch zu besänftigen. Junges Fleisch. Unschuldiges Fleisch.«

»Etwa Menschen?«, fragte Steve Larkin, nicht im Geringsten entsetzt. Einfach nur neugierig.

»Zuweilen«, lautete ihre Antwort. »Es stillt meinen Hunger nach Leben, lindert den Schmerz in mir. Aber den Tod kann es nicht ganz besiegen, dafür …«

Ihr plötzliches Schweigen ließ den jungen Mann noch aufmerksamer zuhören. Jetzt wandte er sich der wunderschönen Frau zu, betrachtete sie, wie ein Liebender seine Geliebte betrachtete. Seine Hände schlossen sich um die ihren, ganz so als wollte er ihr einen Antrag machen. Flüsternd sprach er zu der Vollendung aller Träume in Menschengestalt: »Was ist es, das dich leben lässt?«

Langsam schmiegte sie sich an ihn, ihre Lippen kamen näher, waren so dicht vor den seinen und Steve hatte das Gefühl, auf der Stelle explodieren zu müssen. Ja, er wollte sie, er begehrte sie. Nichts gab es auf der Welt, das er mehr wollte als einen Kuss dieser süßen, verführerischen Lippen. Nichts. Sein Leben würde er geben.

Und sie las seine Gedanken, denn ihr Flüstern, nicht mehr als ein Hauch, getragen von dem salzigen Wind, der über das Meer herankam, beantwortete seine Frage: »Ich brauche die Liebe eines Gequälten. Ich brauche die verlorene Seele, die mich liebt. Und du hast diese Seele. Sie wird mich leben lassen. Sie alle lassen mich leben, denn sie alle folgen meinem Ruf.«

Die Gräfin küsste ihn, während ihr gesamter Körper in Steve eindrang. Er glaubte, nicht mehr aus fester Materie zu bestehen, sondern die Durchlässigkeit eines Gespenstes angenommen zu haben. Etwas wurde ihm genommen. Etwas verließ ihn und die Welt begann sich zu drehen. Immer schneller und schneller.

Steve Larkin wusste nicht, dass sein Körper die Klippe hinab stürzte. Er spürte nicht, wie scharfkantige Steine sein Fleisch zerschnitten, die Knochen zerschmetterten.

Auf dem Kieselstrand blieben die Überreste der nun seelenlosen Hülle liegen, kamen für immer zur Ruhe. Um ihn herum waren Münzen verteilt. Kleingeld, das er bei sich getragen hatte.

Leise schimpfend sammelte die alte Frau die Münzen ein: »Belogen hat er mich. Einfach belogen. Er hatte Kleingeld. Ja, ich sehe es doch. Es wird reichen für die Überfahrt. So ein Lügner.«

Copyright © 2012 by Sven Später