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Tolos Schatz

Tolos Schatz

 

I

 

»Dieser Tunichtgut!«, rief Zwergenmutter Sansa verzweifelt hinter dem lachend flüchtenden Tolo her. »Er hat drei Hühnern aus unserem Stall die Schwanzfedern ausgezogen! Was soll aus diesem Burschen nur noch einmal werden, wenn er schon als Junge so ein Taugenichts ist?«

»Beruhigen Sie sich erst einmal!«, sagte Zwerg Boro, der gerade des Weges kam, zu Sansa.

Boro war ein erwachsener Zwerg und hatte eine Frau und einen Sohn. Sein Sohn, der den Namen Cen trug, ging mit Tolo in eine Klasse und war oft mit ihm zusammen. Die beiden spielten meistens schön und fantasievoll miteinander. Nur manchmal heckten sie gemeinsam üble Streiche aus, für welche Cen zu Hause dann auch bestraft wurde. Nur für Tolo, dessen Mutter mit ihm und zwei jüngeren Zwergenkindern allein war, hatten solche Schandtaten nie so rechte Konsequenzen.

»Vielleicht wird aus dem Jungen ja doch noch ein rechtschaffener Mann, wenn er erst einmal erwachsen ist und Verantwortung trägt,« sprach Boro zu Sansa. »Man soll die Hoffnung nie aufgeben!«

»Aus diesem Lümmel wird mit Sicherheit nie ein anständiger Zwergenmann!«, entgegnete Sansa ärgerlich. »Das liegt daran, dass ihm die starke Hand eines Vaters fehlt. Seine Mutter geht viel zu sanft mit ihm um, sodass er glaubt, er könne sich alles erlauben. Aber eines Tages …!«

»Seien Sie doch nicht so böse auf den armen Kerl! Wir haben doch alle als Kinder manchmal über die Stränge geschlagen!«

»So schlimm waren wir nie!«, stellte Sansa bestimmt fest und ging wütend in ihr Zwergenhaus zurück.

Boro aber setzte seinen Weg zum Kaufmann fort, der mitten im Zwergendorf seinen Laden hatte, während Tolo hinter einer Hecke, die ganz in der Nähe gelegen war, vergnügt mit den gestohlenen Federn spielte.

 

II

 

Einige Tage später zogen Tolo und sein Freund Cen durch den Bergwald, der das Zwergendorf umgab. Sie kletterten auf Bäume, versteckten sich hinter dichtem Buschwerk, fochten Kämpfe mit Stöcken aus, die sie im Wald gefunden hatten und horchten auf die Laute der Vögel und Wildtiere, die den Wald bewohnten.

Als sie aber an eine Lichtung kamen, an deren Rand ein kleiner Bach dahinplätscherte, hielt Cen den vor ihm laufenden Tolo an der Schulter fest und flüsterte: »Vorsicht, Tolo! Dort hinten unter der großen Eiche liegt ein Menschenkind und schläft!«

»Lass uns einmal dorthin schleichen!«, flüsterte Tolo. »Ich möchte das Menschenkind aus der Nähe sehen. Ich habe nämlich noch nie einen echten Menschen gesehen.«

Tolo schlich leise voran, und Cen folgte ihm vorsichtig hinterdrein. Bald waren sie hinter dem Buschwerk angekommen, vor dem die große Eiche stand.

»Es ist ein Menschenmädchen«, sagte Tolo leise. »Sieh nur! Es hat wunderschöne, golden schimmernde Haare! Ich muss es einmal berühren!«

»Lass das lieber sein!«, flüsterte Cen erregt. »Weißt du nicht mehr, dass unsere Lehrerin gesagt hat, dass ein Zwerg, wenn er von einem Menschen erblickt wird, seine Unsterblichkeit verliert und selber zum Menschen wird?«

»Das Mädchen wird mich schon nicht erblicken«, sagte Tolo. »Es schläft doch! Ich werde nur ganz vorsichtig über seine Haare streichen!«

Mit diesen Worten kroch er aus dem Gebüsch hervor, ging zu dem Menschenmädchen hin und strich ihm sanft über den blonden Schopf.

Es geschah zunächst nichts. Das Mädchen schlief trotz der Berührung weiter. Da aber krächzte plötzlich eine Krähe laut auf, die in der Nähe auf einem Baumstumpf saß. Da öffnete das Mädchen plötzlich seine Augen und sah Tolo, der nicht mehr rechtzeitig fliehen konnte, erstaunt in das Gesicht.

Im Nu wurde dem jungen Zwerg schwindelig, er taumelte und fiel dann ohnmächtig kopfüber zu Boden.

Sekunden später kam er wieder zu sich und war zu einem Menschenjungen geworden. Das blonde Mädchen aber hatte Angst bekommen und war Hals über Kopf davongerannt. Cen, der alles beobachtet hatte, kauerte völlig verdattert hinter seinem Busch und betete, der nun für ihn riesige Tolo möge sich nicht mehr an ihn erinnern und ihn auch nicht bemerken. Tolo aber hatte tatsächlich vergessen, dass er ein Zwergenjunge gewesen war und mit seinem Freund Cen im Wald gespielt hatte. Benommen stand er auf und machte sich auf den Weg aus dem Wald hinaus.

 

III

 

Am Ende des Bergwaldes traf Tolo auf ein Dorf, das von Menschen bewohnt wurde. Als er dort ankam, bemerkten die Bewohner sofort, dass er sein Gedächtnis verloren hatte und sich an gar nichts erinnern konnte, was früher mit ihm gewesen war. Da er noch ein Junge war und offensichtlich nicht allein zurechtkommen konnte, nahm ihn eine nette Frau, die mit ihrem Mann schon zwei Söhne in Tolos Alter hatte, bei sich auf, um ihn großzuziehen. Tolo kam mit ihr und ihren Leuten gut aus und war froh, jemanden gefunden zu haben, der für ihn sorgte.

Einige Jahre später, als Tolo schon fast erwachsen war, wälzte er sich während einer lauen Sommernacht in seinem Bett und konnte nicht einschlafen. Da hörte er vor seinem Fenster zwei Stimmen, die miteinander sprachen.

»Dort liegt der freche Tolo!«, sagte die erste Stimme. »Als er noch ein Zwerg und unsterblich war, hat er seine Zwergenbrüder oft zur Weißglut gebracht!«

»Aber der Zwergenkönig hat ihn bestraft!«, sprach die zweite Stimme. »Er, der sich in jedes beliebige Tier verwandeln kann, hat sich in eine Krähe verwandelt und dafür gesorgt, dass ihn ein Menschenkind sah, sodass er selbst zum Menschen wurde. Das hat er nun davon!«

»Mir tut er ein bisschen Leid!«, sagte die erste Stimme. »Niemand ist nur böse, sondern immer auch ein wenig gut! Sag, kann er denn nie wieder zurück ins Zwergenreich?«

»Es gibt da schon eine Möglichkeit«, erwiderte die zweite Stimme. »Der Zwergenkönig hat gesagt, Tolo werde dann wieder ein Zwerg werden, wenn er seinen Schatz gefunden und ihn ganz geborgen habe. Wo genau Tolo diesen Schatz finden kann, hat er allerdings nicht gesagt.«

Als die Stimmen vor dem Fenster so gesprochen hatten, verstummten sie wieder. Tolo richtete sich auf, um aus dem Fenster zu sehen und zu ergründen, wer da geredet hatte. Als er aber hinausschaute, da saßen nur zwei Spatzen auf einem Ast des Baumes, der vor dem Fenster stand, und zwitscherten einander zu.

»Ich war also einst ein unsterblicher Zwerg!«, dachte Tolo bei sich. »Und ich werde wieder zum Zwerg werden und in meine Heimat zurückkehren, wenn ich meinen Schatz gefunden und geborgen habe. Wo nur um alles in der Welt kann ich diesen Schatz finden?«

 

IV

 

Weitere Jahre zogen ins Land. Tolo, der inzwischen zu einem erwachsenen Mann herangereift war, arbeitete auf dem Hof seiner Zieheltern. Diese bezahlten ihn gut, sodass er sein Auskommen hatte. Aber dies war ihm nicht genug. Er dachte immer wieder daran, dass er einen Schatz finden und bergen musste, um wieder zum Zwerg zu werden und in seine Heimat zurückkehren zu können.

Eines Tages aber kamen vier junge Kerle ins Dorf und warfen mit dem Geld nur so um sich. Sie hatten in einem Flussbett im Gebirge Gold gefunden. Sofort machten sich einige junge Leute aus dem Dorf auf, um ebenfalls in den Bergen nach Gold zu suchen. Unter ihnen befand sich auch Tolo, der jetzt natürlich hoffte, endlich einen Schatz zu finden und seinen sehnlichsten Wunsch erfüllt zu bekommen.

Er suchte einige Wochen und fand schließlich eine Höhle, in welcher sich einige Goldadern befanden. Zunächst kehrte er zu seinem Dorf zurück, um sich beim Notar das Eigentum an der Höhle zu sichern. Als er dies bekommen hatte, kaufte er geeignetes Werkzeug und suchte damit die Höhle erneut auf, um das Gold zu bergen. Er brauchte drei Monate, um alles Gold aus der Höhle ans Tageslicht zu bringen. Als er dann mit der ganzen Ausbeute ins Dorf zurückkehrte, war er zum reichsten Mann der ganzen Region geworden.

Er aber dachte zunächst nur daran, dass er nun wieder ein Zwerg werden würde. Aber es geschah gar nichts! Er blieb ein Mensch!

Während er noch darüber grübelte, warum er auch jetzt nicht in seine alte Existenz zurückkehren konnte, brach über sein Dorf und die ganze Region ein furchtbares Unheil herein. Eine schlimme Seuche kam über die Leute, die die meisten Erwachsenen dahinraffte, die Kinder aber verschonte. Nur wenige Erwachsene überlebten, unter ihnen Tolo. Der tödlichen Seuche folgte unendliches Leid der nun elternlosen und nicht versorgten Kinder. Tolo dachte an sein eigenes Schicksal und daran, wie ihm seine Zieheltern geholfen hatten. Da nahm er sein ganzes Geld und half damit den armen Kindern der Seuchenopfer. Er sparte nicht einen Heller, bis auch dem letzten Kind aus der Region geholfen war. Endlich hatte er kein Geld mehr übrig, doch er hatte allen betroffenen Kindern helfen können.

Glücklich über das Glück der armen Kinder arbeitete er wieder hart als Bauer, und die Zeit verging.

 

V

 

Tolo war älter geworden, und er konnte nun nicht mehr so hart arbeiten, wie als junger Mann. Da er noch immer die Hoffnung gehabt hatte, wieder ein Zwerg werden zu können, hatte er sich keine Frau genommen und lebte allein.

Eines Tages, als er in der prallen Sonne das Feld bestellt hatte und müde geworden war, legte er sich unter einer Birke am Rande des Feldes in den Schatten, um ein wenig zu schlafen. Er schloss die Augen. Bevor er jedoch einschlief, hörte er über sich in den Zweigen wieder die zwei Stimmen miteinander reden, die er schon als Jüngling vor dem Fenster seines Zimmers hatte reden hören.

»Tolo hat nicht verstanden, dass es dem Zwergenkönig nicht um den Schatz ging, den er aus der Höhle geborgen hat«, sagte die erste Stimme. »Er dachte, wenn er alles Gold aus der Höhle hole, werde er wieder ein Zwerg.«

»Aber er hat ja dann doch den Schatz geborgen, den er bergen musste!«, sagte die zweite Stimme. »Der Zwergenkönig wollte nämlich, dass er seinen inneren Schatz, also sein Mitleid und seine Nächstenliebe, entdeckte und hervorkehrte. Dies hat er getan, indem er sein ganzes Geld gegeben und den armen Kindern geholfen hat. So kann er nun wieder zum Zwerg werden.«

»Aber wie wird er wieder ein Zwerg?«, fragte die erste Stimme.

»Er muss eine leere Flasche und einen Korken nehmen und damit von dem Zauberwasser der Quelle am Tannengipfel holen, der ganz oben in den Bergen gelegen ist«, antwortete die zweite Stimme. »Davon muss er zur rechten Zeit trinken, dann wird er wieder zum Zwerg.«

Kaum hatten die zwei Stimmen dies gesagt, da sprang Tolo auf, um die Sprechenden zu sehen. Als er aber zum Baumwipfel über sich schaute, von wo aus er die Stimmen hatte reden hören, saßen dort wieder nur zwei Spatzen, die einander zuzwitscherten.

Noch am selben Tag nahm Tolo eine leere Glasflasche und einen Korken und zog damit zum Tannengipfel. Ganz oben auf dem Berg, in der Nähe der Tannen, von denen der Gipfel seinen Namen hatte, entsprang tatsächlich eine Quelle. Tolo füllte seine Flasche mit ihrem Wasser, verkorkte sie und kehrte damit zu seinem Dorf zurück. Wann aber war die rechte Zeit, um von dem Zauberwasser zu trinken?

Voller Ungeduld entkorkte Tolo zwei Wochen später, just an Heiligabend, die Flasche und trank das ganze Wasser aus. Aber auch jetzt wurde er nicht wieder zum Zwerg. Völlig verzweifelt tat er den Korken wieder obendrauf, stellte die nun wieder leere Flasche beiseite, vergrub sein Gesicht in den Händen und weinte bitterlich.

Am Neujahrsmorgen hatte Tolo sich schließlich damit abgefunden, dass er nie wieder ein Zwerg werden würde und somit nie mehr in seine Heimat zurückkehren könne. Ganz in Gedanken nahm er die Flasche zur Hand, die er an Heiligabend ausgetrunken hatte, und entkorkte sie erneut. Da aber war er plötzlich hellwach! Im selben Moment, als er den Korken abnahm, war die Flasche plötzlich wieder zur Hälfte mit Wasser gefüllt, obwohl sie zuvor völlig leer gewesen war. Der Moment, in dem er selber nicht mehr an seine Chance glaubte, wieder ein Zwerg werden zu können, war der rechte Augenblick, um von dem Zauberwasser zu trinken.

Sofort trank er von dem Wasser. Da fiel er auf der Stelle in Ohnmacht. Als er aber wieder zu sich kam, da saß er als Zwergenjunge Tolo mit seinem Freund Cen in einem Gebüsch des Bergwaldes hinter einer großen Eiche, unter der ein Menschenmädchen schlief. Er konnte sich daran erinnern, dass Cen ihn gerade davor gewarnt hatte, dem Menschenkind durch die golden schimmernden Haare zu fahren.

»Ich werde das Menschlein nicht berühren!«, sagte er zu Cen, und sie schlichen auf demselben Weg zurück, auf dem sie gekommen waren, ohne dass das Mädchen erwachte und sie ansah.

(hb)